Frösche Mo Yan Literaturnobelpreisträger Mo Yan zeigt sich mit seinem neuen großen Roman auf der Höhe seiner Kunst: Gugu ist die begabteste Hebamme in Gaomi. Seit Jahrzehnten bringt sie dort alle Kinder zur Welt. Mit Beginn der Geburtenkontrolle verantwortet die parteitreue Gugu auch Abtreibungen und Zwangssterilisierungen. Für ihre Karriere macht sie sich zum willigen Werkzeug der Partei. Erst im Alter bereut sie ihre Taten, die viele Menschen das Leben kosteten. In farbenprächtigen, autobiografisch grundierten und oft auch komischen Szenen erzählt Mo Yan von den Schicksalen der Frauen und Kinder in seiner ländlichen Heimat und von den dramatischen Folgen der Ein-Kind-Politik für die Menschen in China. Über den Autor Mo Yan wurde 1956 in Gaomi, Provinz Shandong, geboren. In Deutschland wurde er 1993 mit dem Roman Das rote Kornfeld bekannt. Mo Yans Werke wurden weltweit übersetzt und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für seinen Roman Frösche (Hanser 2013) erhielt er 2011 den Mao-Dun-Literaturpreis. Mo Yan ist Träger des Literaturnobelpreises 2012. Die chinesische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel 蛙 (Wa) bei Shanghai Wenyi Chubanshe (Shanghai Literature and Art Publishing House) in Shanghai. DAS ERSTE BUCH Verehrter Yoshito Sugitani san! Fast einen Monat ist es her, dass wir auseinandergingen, doch steht mir alles, was wir in meinem Heimatort zusammen erlebten, so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Es hat uns zutiefst beeindruckt, dass Sie ohne Rücksicht auf Ihr fortgeschrittenes Alter die weite Reise übers Meer zu uns Hinterwäldlern unternommen haben, um sich hier bei uns auf dem Land mit unseren Literaturliebhabern einmal nach Herzenslust auszutauschen. Den einstündigen Vortrag, den Sie am Vormittag des zweiten Feiertags des Frühlingsfestes zum Thema Die Literatur und das Leben im Festsaal unseres Kreishotels hielten, haben wir bereits abtippen lassen, denn wir möchten, wenn Sie es uns Unwissenden erlauben wollen, Ihren Aufsatz in unserem kreisinternen Journal Froschgesang der China Federation of Literary and Art Circles veröffentlichen, damit alle, die an jenem Tag verhindert waren, Ihren hervorragend formulierten und lehrreichen Vortrag zumindest nachlesen können. Am Vormittag des Neujahrstages statteten wir meiner Tante, die über fünfzig Jahre lang als Frauenärztin gearbeitet hat, gemeinsam einen Besuch ab. Obwohl sie nur Dialekt spricht, dazu auch noch viel zu schnell, so dass Sie nicht alles verstanden, hat sie – da bin ich mir sicher – bei Ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Während Ihres Vortrags am darauffolgenden Tag nannten Sie sie viele Male, um Ihre Ansichten zur Literatur zu erläutern. Sie berichteten mir, Sie sähen inzwischen vor ihrem inneren Auge Bilder einer Ärztin, die in höchster Eile unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte auf dem Fahrrad über den gefrorenen Fluss radelt. Einmal ist die Gestalt mit dem Arzttornister auf dem Rücken unterwegs, den schweren Regenschirm aufgespannt, die Hosenbeine hochgerollt, und kämpft sich durch ganze Heerscharen von anrückenden Fröschen. Dann wieder hält sie in einer Hand einen Säugling, die Ärmel blutverschmiert. Einmal lacht sie schallend, während sie dann wieder, die Zigarette im Mundwinkel, voller Trauer in Schwermut versinkt. Nachlässig gekleidet ist sie, diese Arztperson ... Und Sie berichteten mir, diese Gestalten würden zuweilen zu einer einzigen verschmelzen, ein anderes Mal wieder auseinanderdriften; eine Skulpturengruppe ein und derselben Person. Und Sie ermunterten die Literaturliebhaber bei uns im Kreis, sich doch meine Tante Gugu als Protagonistin vorzunehmen, um anrührende Werke zu schreiben, Romane, Gedichte, Theaterstücke. Verehrter Freund, damit haben Sie unsere schöpferische Leidenschaft entfacht! Viele hier sind begierig, sich an dieser Aufgabe zu versuchen. Ein Bücherfreund des Kreiskulturhauses hat sich bereits an die Arbeit gemacht und einen Roman über eine Landfrauenärztin zu schreiben begonnen. Ich will ihm nicht in die Quere kommen, obwohl ich um ein Vielfaches genauer über meine Tante Bescheid weiß. Also lasse ich ihn den Roman schreiben und werde selbst ein Theaterstück über meine Tante verfassen. Lieber Freund, für mich waren unsere Gespräche am Abend nach dem Vortrag wie eine Eingebung. Mit welch einzigartigem Gespür Sie Sartre analysierten, wie detailliert Sie über sein Theater sprachen und wie hoch Sie ihn bewerteten! Ich werde ein so herausragendes Stück wieDie schmutzigen Hände oder Die Fliegen schreiben und für die gleichen erhabenen Ziele kämpfen wie Sartre. Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen: mich nicht unter Zeitdruck setzen, ruhig und geduldig, wie ein Frosch auf einem Seerosenblatt, der auf die vorbeischwirrenden Mücken wartet. Wenn ich bereit bin, werde ich wie der Frosch, der nach der Mücke schnappt, blitzschnell aufspringen und die Schreibarbeit vollenden. Als ich Sie zum Flughafen von Tsingtao brachte, baten Sie mich beim Abschied um regelmäßige handgeschriebene Briefe, in denen ich Ihnen vom Leben meiner Tante berichten solle. Obwohl Gugu bisher bei guter Gesundheit ist, kann man ihr Leben schon jetzt ein Drama nennen und ihm den Titel Brausende Wogen eines stürmischen Lebens geben. Es gibt so viel zu berichten, dass ich mir nicht vorzustellen wage, wie lang meine Briefe jeweils werden. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel! Bitte gestatten Sie mir auch, mit meiner schlechten Handschrift einfach draufloszuschreiben, ohne Plan, immer so weit, wie ich es gerade schaffe. In unserem Computerzeitalter ist das Briefeschreiben Luxus. Und natürlich macht es Spaß. Ich wünsche mir, dass Sie eine altertümliche Freude empfinden, wenn meine Briefe Sie erreichen. Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit noch berichten, dass mein Vater mich heute anrief und mich wissen ließ, dass die alte krumme Ume auf unserem Hof, die Sie ein eigenwilliges Talent nannten, seit dem 25. des ersten Mondmonats tiefrot in voller Blüte steht. Unser Hof war an jenem Tag voller Leute, die gekommen waren, um sich an den Blüten zu erfreuen. Auch meine Tante war da. Mein Vater sagte, dass es an diesem Tag zu Neujahr dicke Flocken vom Himmel geschneit habe. Der rieselnde Schnee habe betörend nach den Umeblüten geduftet, von dem kalten Duft hätte man einen freien Kopf bekommen. Ihr Schüler Kaulquappe Peking, 21. März 2002 Verehrter Yoshito Sugitani san! Fast einen Monat ist es her, dass wir auseinandergingen, doch steht mir alles, was wir in meinem Heimatort zusammen erlebten, so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Es hat uns zutiefst beeindruckt, dass Sie ohne Rücksicht auf Ihr fortgeschrittenes Alter die weite Reise übers Meer zu uns Hinterwäldlern unternommen haben, um sich hier bei uns auf dem Land mit unseren Literaturliebhabern einmal nach Herzenslust auszutauschen. Den einstündigen Vortrag, den Sie am Vormittag des zweiten Feiertags des Frühlingsfestes zum Thema Die Literatur und das Leben im Festsaal unseres Kreishotels hielten, haben wir bereits abtippen lassen, denn wir möchten, wenn Sie es uns Unwissenden erlauben wollen, Ihren Aufsatz in unserem kreisinternen Journal Froschgesang der China Federation of Literary and Art Circles veröffentlichen, damit alle, die an jenem Tag verhindert waren, Ihren hervorragend formulierten und lehrreichen Vortrag zumindest nachlesen können. Am Vormittag des Neujahrstages statteten wir meiner Tante, die über fünfzig Jahre lang als Frauenärztin gearbeitet hat, gemeinsam einen Besuch ab. Obwohl sie nur Dialekt spricht, dazu auch noch viel zu schnell, so dass Sie nicht alles verstanden, hat sie – da bin ich mir sicher – bei Ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Während Ihres Vortrags am darauffolgenden Tag nannten Sie sie viele Male, um Ihre Ansichten zur Literatur zu erläutern. Sie berichteten mir, Sie sähen inzwischen vor ihrem inneren Auge Bilder einer Ärztin, die in höchster Eile unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte auf dem Fahrrad über den gefrorenen Fluss radelt. Einmal ist die Gestalt mit dem Arzttornister auf dem Rücken unterwegs, den schweren Regenschirm aufgespannt, die Hosenbeine hochgerollt, und kämpft sich durch ganze Heerscharen von anrückenden Fröschen. Dann wieder hält sie in einer Hand einen Säugling, die Ärmel blutverschmiert. Einmal lacht sie schallend, während sie dann wieder, die Zigarette im Mundwinkel, voller Trauer in Schwermut versinkt. Nachlässig gekleidet ist sie, diese Arztperson ... Und Sie berichteten mir, diese Gestalten würden zuweilen zu einer einzigen verschmelzen, ein anderes Mal wieder auseinanderdriften; eine Skulpturengruppe ein und derselben Person. Und Sie ermunterten die Literaturliebhaber bei uns im Kreis, sich doch meine Tante Gugu als Protagonistin vorzunehmen, um anrührende Werke zu schreiben, Romane, Gedichte, Theaterstücke. Verehrter Freund, damit haben Sie unsere schöpferische Leidenschaft entfacht! Viele hier sind begierig, sich an dieser Aufgabe zu versuchen. Ein Bücherfreund des Kreiskulturhauses hat sich bereits an die Arbeit gemacht und einen Roman über eine Landfrauenärztin zu schreiben begonnen. Ich will ihm nicht in die Quere kommen, obwohl ich um ein Vielfaches genauer über meine Tante Bescheid weiß. Also lasse ich ihn den Roman schreiben und werde selbst ein Theaterstück über meine Tante verfassen. Lieber Freund, für mich waren unsere Gespräche am Abend nach dem Vortrag wie eine Eingebung. Mit welch einzigartigem Gespür Sie Sartre analysierten, wie detailliert Sie über sein Theater sprachen und wie hoch Sie ihn bewerteten! Ich werde ein so herausragendes Stück wieDie schmutzigen Hände oder Die Fliegen schreiben und für die gleichen erhabenen Ziele kämpfen wie Sartre. Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen: mich nicht unter Zeitdruck setzen, ruhig und geduldig, wie ein Frosch auf einem Seerosenblatt, der auf die vorbeischwirrenden Mücken wartet. Wenn ich bereit bin, werde ich wie der Frosch, der nach der Mücke schnappt, blitzschnell aufspringen und die Schreibarbeit vollenden. Als ich Sie zum Flughafen von Tsingtao brachte, baten Sie mich beim Abschied um regelmäßige handgeschriebene Briefe, in denen ich Ihnen vom Leben meiner Tante berichten solle. Obwohl Gugu bisher bei guter Gesundheit ist, kann man ihr Leben schon jetzt ein Drama nennen und ihm den Titel Brausende Wogen eines stürmischen Lebens geben. Es gibt so viel zu berichten, dass ich mir nicht vorzustellen wage, wie lang meine Briefe jeweils werden. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel! Bitte gestatten Sie mir auch, mit meiner schlechten Handschrift einfach draufloszuschreiben, ohne Plan, immer so weit, wie ich es gerade schaffe. In unserem Computerzeitalter ist das Briefeschreiben Luxus. Und natürlich macht es Spaß. Ich wünsche mir, dass Sie eine altertümliche Freude empfinden, wenn meine Briefe Sie erreichen. Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit noch berichten, dass mein Vater mich heute anrief und mich wissen ließ, dass die alte krumme Ume auf unserem Hof, die Sie ein eigenwilliges Talent nannten, seit dem 25. des ersten Mondmonats tiefrot in voller Blüte steht. Unser Hof war an jenem Tag voller Leute, die gekommen waren, um sich an den Blüten zu erfreuen. Auch meine Tante war da. Mein Vater sagte, dass es an diesem Tag zu Neujahr dicke Flocken vom Himmel geschneit habe. Der rieselnde Schnee habe betörend nach den Umeblüten geduftet, von dem kalten Duft hätte man einen freien Kopf bekommen. Ihr Schüler Kaulquappe Peking, 21. März 2002 1 Lieber Yoshito Sugitani san, wissen Sie, bei uns ist es Brauch, den Kindern Namen von Körperteilen zu geben. Zum Beispiel Chen Nase, Wu Dickdarm, Sun Schulter ... Wie sich dieser Brauch entwickelte, weiß ich nicht. Ein Grund ist wahrscheinlich, dass man glaubte, ein Kind mit schlichtem Namen sei besser vor bösen Geistern und schlechtem Karma geschützt. Oder aber, dass die Mutter ihr Kind für ihr eigen Fleisch und Blut hielt und glaubte, dass es einem Körperteil von ihr entstamme. Heutzutage ist dieser Brauch aus der Mode gekommen. Die jungen Eltern wehren sich dagegen, den eigenen Kindern solch merkwürdige Namen zu geben. Sie bevorzugen die ungewöhnlichen und vornehmen Vornamen der Figuren aus den hongkong-chinesischen, taiwanischen und sogar japanischen und koreanischen Fernsehserien. Die ehemals nach Körperteilen Benannten haben fast alle neue Namen bekommen. Natürlich gibt es auch welche, deren Namen so geblieben sind – Chen Ohr und Chen Augenbraue zum Beispiel. Der Vater der beiden ist Chen Nase, mein Klassenkamerad aus der Grundschule und mein bester Freund aus Kindertagen. Es war in der Zeit der großen Hungersnot, im Herbst 1960, als wir in die Dayanlan-Grundschule kamen. Alles, an das ich mich aus jenen Jahren erinnere, hat mit Essen zu tun. Auch die Geschichte vom Kohlenessen gehört dazu. Viele Leute meinen, ich würde irgendwelche Geschichten erfinden. Aber ich schwöre bei dem guten Namen meiner Tante, dass ich nicht lüge. Alles hat sich nachweislich so zugetragen. Da gab es damals eine Tonne erstklassiger Kohlen aus dem Longkou-Kohlebergwerk. In ihren Bruchflächen konnte man sich spiegeln, so glänzten die. Ich habe nie wieder so glänzende Kohlen gesehen. Der Dorfkutscher Wang Bein kutschierte sie mit dem Pferdefuhrwerk aus der Kreisstadt ins Dorf. Er besaß ein eckiges Gesicht, einen breiten Nacken, und er stotterte. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, wurde er puterrot im Gesicht und bekam Stielaugen. Seine Kinder, Sohn Wang Leber und Tochter Wang Galle, gingen mit mir in eine Klasse. Sie waren Zwillinge, der Junge mit einem hünenhaften Körper, das Mädchen ein zierliches Püppchen. Wäre man gehässig gewesen, hätte man sie eine Zwergin genannt. Alle sagten, dass der Bruder im Mutterleib alle Nährstoffe alleine aufgesogen hätte, für die Schwester wäre nichts übriggeblieben, deswegen wäre sie so klein geblieben. Es war Nachmittag, wir hatten gerade Schulschluss, als es ans Abladen der Kohlen ging. Alle Kinder standen mit den Schultaschen auf dem Rücken drum herum und schauten zu. Wang Bein stand mit einer Riesenschaufel auf dem Hänger und schaufelte die Kohlen herunter, die prasselnd übereinanderfielen. Als er sein um die Hüften geknotetes blaues Tuch losband, um sich damit den Schweiß vom Hals zu wischen, bemerkte er seine beiden Kinder. Er brüllte sie sofort an: »Ab nach Haus mit euch zum Heumachen!« Wang Galle rannte auf der Stelle los – ihr Körper schwankte, ihr fehlte das Gleichgewicht. Süß! Wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt. Wang Leber dagegen lief nicht, er wich zurück, duckte sich. Er war stolz auf den Beruf seines Vaters. Kein Grundschüler von heute kann das erhebende Gefühl von Wang Leber nachempfinden, selbst dann nicht, wenn der Vater Pilot ist und Jumbos fliegt. Wenn die Pferde im schnellen Trab gingen, fuhr das große Fuhrwerk mit Getöse rasant daher, dass der Staub nur so aufflog. Vor der Deichsel hatte der Vater ein ausgemustertes Artilleriearmeepferd angeschirrt, das in der Truppe die schweren Geschütze gezogen hatte. Es hieß, dass es erfolgreiche Schlachten bestritten habe. Auf der Kruppe hatte es ein Brandzeichen. Als Riemenpferd ging vor dem Deichselpferd ein aufbrausender, störrischer Mulihengst, der sich auskannte mit Ausschlagen und Beißen. Trotz seines störrischen Wesens war das Muli erstaunlich stark und außergewöhnlich flink. Niemand sonst hätte dieses durchgedrehte Tier zu zügeln gewusst. Viele beneideten Wang Bein um seinen Beruf, aber keiner traute sich in die Nähe des Mulis. Schon von weitem hatte jeder Respekt. Zwei Kinder hatte das Muli bereits gebissen, das eine war Yuan Backe, der Sohn von Yuan Gesicht, das andere war die kleine Wang Galle. Als das Muli einmal vor dem Fuhrwerk angespannt vorm Haus stand und der Kleine dort in der Hocke saß und spielte, hatte es ihm ein Stück Fleisch aus dem Kopf gebissen. Für uns war Wang Bein die Respektsperson überhaupt! Er maß einen Meter neunzig, war stark wie ein Bulle, eine hundert Kilo schwere Steinwalze hob er mit bloßen Händen hoch und stemmte sie mit gestreckten Armen über seinem Kopf. Was wir aber am meisten bewunderten, war seine zaubermächtige Peitsche. Als das Muli den kleinen Yuan Backe in den Schädel biss, zog Wang Bein sofort die Wagenbremse an, um breitbeinig auf dem Kutschbock stehend das Muli mit der Peitsche zu verdreschen. Jeder Peitschenhieb erzeugte einen hellen Ton und hinterließ einen blutigen Striemen auf der Kruppe. Zuerst schlug das Muli noch aus, aber die Peitsche drosch unverändert weiter auf es ein, so dass es am ganzen Körper zu zittern begann. Es kniete mit den Vorderbeinen am Boden, sein Kopf hing wie leblos herunter, mit dem Maul biss es in die Erde, um mit der Kruppe die harten Hiebe zu empfangen. Es war Backes Vater, der dem Ganzen ein Ende machte und einlenkte: »Wang, lass es gut sein, verschone das Tier!« Wang Bein hielt wutschnaubend inne. Yuan war Parteizellensekretär, besaß den höchsten Beamtenposten im Dorf. Seinem Wort widersetzte man sich nicht. Als das Muli dann die kleine Galle biss, warteten alle wieder auf ein Spektakel. Aber Wang Bein tat keinen einzigen Peitschenhieb. Er griff nur einen Batzen von dem Haufen Branntkalk am Weg, presste ihn seiner Tochter auf den Kopf und trug sie nach Haus. Das Muli war davongekommen, an seiner Stelle hatten seine Frau einen Peitschenhieb und sein Sohn einen Fußtritt einstecken müssen. Wir zeigten mit dem Finger auf das braune Muli: Es war so dürr, dass ihm die Rippen zentimeterhoch hervorstanden, in seine Augengruben hätte ein Hühnerei gepasst. Sein Blick war voll Kummer, als bräche es jeden Moment in Tränen aus. Wir fanden es unvorstellbar, dass ein so gewaltiger Sturm aus einem so klapprigen Muli hervorbrechen konnte. Als wir debattierend dem Muli immer näher kamen, hielt Wang Bein mit dem Kohlenschippen ein und schrie uns scharf an. Wir machten uns sofort davon. Der Kohlenhaufen vor der Schulküche wuchs beständig, der auf dem Hänger wurde kleiner und kleiner. Wir schnupperten alle gleichzeitig, denn jeder von uns hatte diesen ungewöhnlichen Duft wahrgenommen. Wie ein Kiefernfeuer! Oder wie im Feuer gebackene Kartoffeln! Unser Geruchssinn lenkte unseren Blick auf den glitzernden Kohlenhaufen. Wang trieb Pferd und Muli an und fuhr vom Schulhof. Diesmal rannten wir nicht wie üblich dem Fuhrwerk nach, sprangen hinten auf und riskierten einen Peitschenhieb auf den Kopf, sondern wir starrten nur den Kohlenhaufen an, während wir uns ihm Schritt für Schritt näherten. Der Kantinenkoch Wang kam wankend mit zwei Eimern Wasser. Seine Tochter Renmei, die auch in unsere Klasse ging, wurde später meine Frau. Sie war eines der wenigen Mädchen, die einen gut klingenden Vornamen hatten und nicht wie wir nur nach Körperteilen gerufen wurden. Der Koch war ein Mann von Bildung. Er war ursprünglich Leiter der amtlichen Veterinärdienststelle unserer Volkskommune gewesen, aber wegen einer falschen Äußerung seines Postens verwiesen und aufs Land strafversetzt worden. Jetzt beäugte er uns argwöhnisch. Ja, glaubte er denn, wir würden die Kantine stürmen und über das Essen herfallen? Er rief uns zu: »Ihr Hasenbälger, ihr Memmen, verschwindet! Hier gibt’s für euch nichts zu knabbern! Ab nach Haus mit euch, an die Brust eurer Mutter!« Wir hatten ihn schon verstanden, seinen Ratschlag auch in Erwägung gezogen. Jedoch wussten wir genau, dass er uns nur beschimpfen wollte. Wir wurden doch nicht mehr gestillt! Wie sollte das angehen mit sieben, acht Jahren! Und wäre es wahr gewesen, so hätten unsere ausgemergelten Mütter, denen die dünnen Brüste schmal auf den Rippen klebten, bestimmt keine Milch mehr gehabt. Aber keiner von uns beschwerte sich bei ihm, denn wir Kinder krochen wie die Hobbygeologen über die Kohlen. Wie Hunde, die im Müll nach Essbarem suchen, schnüffelten wir die Kohlen ab. Nun ist’s an der Zeit, dass ich mich bei Chen Nase und Wang Galle bedanke. Denn es war Chen Nase, der zuerst ein Stück Kohle hochnahm, zur Nase führte und mit kraus gezogener Stirn darüber zu grübeln anfing. Nase mit seiner großen Nase, über die wir uns immer lustig machten! Er dachte angestrengt nach, dann schlug er zwei Kohlen aufeinander, ein Ton, und sie zerschellten. Sie gaben einen intensiven Duft frei. Er las ein kleines Stück vom Boden auf, auch Wang Galle hob ein Stückchen auf. Er leckte vorsichtig daran, kostete, begann mit den Augen zu rollen und blickte uns an. Sie machte es ihm nach, leckte an der Kohle und schaute zu uns herüber. Dann blickten beide einander an, lächelten und begannen, als hätten sie sich abgesprochen, mit den Schneidezähnen vorsichtig daran zu knabbern, sie kauten und schluckten. Gleich bissen sie noch ein Stück ab, kauten aufgeregt und schluckten gierig. Chen Nases große Nase war gerötet und von kleinen Schweißperlen übersät, Wang Galles kleine Nase schwarz und mit einer dicken Schicht Kohlenstaub gepudert. Gebannt schauten wir ihnen zu. Wie geräuschvoll sie die Kohlen kauten. Dass sie sie tatsächlich schluckten! Hinunterschluckten! Mit leiser Stimme raunte Nase uns zu: »Kameraden! Die schmecken!« Mit schriller Stimme rief die Kleine: »Esst! Schnell, esst!« Chen Nase griff sich wieder eine Kohle und biss herzhaft hinein. Die Kleine klaubte ein großes Stück auf und gab es an ihren Bruder Leber weiter. Wir machten es ihnen nach, schlugen die Kohle in Stücke, lasen sie auf, nagten erst ein Stückchen ab, kosteten und fanden, obschon es etwas sandig war, dass es gut schmeckte. Chen Nase gab bereitwillig Auskunft, streckte eine Hand mit einem feinen Stück Kohle in die Höhe und rief uns zu: »Kameraden, esst solche Stücke! Die schmecken prima.« Er zeigte auf das fast durchscheinende, bernsteinfarbene Etwas. »Die mit dem Pinienduft, die schmecken gut!« Wir hatten im Naturkundeunterricht schon gelernt, dass die Kohle vor vielen Erdzeitaltern aus Wäldern, die tief in der Erdkruste vergraben ruhten, entstanden war. Den Naturkundeunterricht erteilte uns unser Schulleiter Wu Jinbang. Aber geglaubt hatten wir ihm nicht, unserem Naturkundebuch hatten wir auch nicht geglaubt. Denn der Wald war doch grün, wie hätte daraus schwarze Kohle werden sollen? Schulleiter und Schulbuch hatten uns einen gewaltigen Bären aufgebunden! Aber als wir den Pinienduft der Kohlen schmeckten, begriffen wir, dass wir nicht betrogen worden waren und dass es stimmen musste. Mit Ausnahme von ein paar Mädchen waren alle 35 Schüler unserer Klasse versammelt, und alle griffen sich ein Stück Kohle und nagten, knabberten, kauten und schluckten eifrig mit dem gleichen erregten Gesichtsausdruck. Es war wie Stegreiftheater, wie ein geheimnisvolles Spiel. Xiao Unterlippe drehte sein Stück Kohle in der Hand hin und her, aß aber nicht, sondern musterte es voller Verachtung. Er aß nicht, weil er keinen Hunger verspürte. Keinen Hunger hatte er, weil sein Vater das Getreide im Getreidespeicher verwahrte. Der Kantinenkoch Wang war sprachlos, als er uns sah. Mit bemehlten Händen kam er aus der Küche gerannt. Himmel! Er hatte Mehl an den Händen! Gegessen haben in unserer Schulkantine damals nur unser Schuldirektor, der Drillmeister und zwei Kommunekader, die bei uns auf dem Land wohnten. Der alte Wang rief außer sich: »Kinder, was tut ihr da? Ihr esst doch nicht etwa ... Kohle? Kohle kann man doch nicht essen!« Galle streckte ihre winzige Hand mit einem Stück Kohle hoch und rief mit feinem Stimmchen: »Onkel! Sie schmeckt so lecker! Hier, probier doch mal!« Er schüttelte nur den Kopf: »Galle, meine Kleine! Wie ist es möglich, dass ein kleines Mädchen mit einem flegelhaften Haufen Buben solchen Blödsinn treibt?« Die Kleine biss wieder von der Kohle ab: »Onkel, sie schmeckt wirklich lecker!« Als sie es sagte, ging die Sonne glutrot im Westen unter. Die zwei Kader, die regelmäßig in der Schulkantine mitaßen, kamen mit dem Fahrrad auf den Schulhof gefahren und staunten nicht schlecht, als sie uns bei den Kohlen sahen. Der alte Wang ließ die Tragstange durch die Luft sausen. Er wollte uns damit vom Hof jagen, aber der Kommunekader Yan – er war ein Vizedirektor – verbot es ihm. Mit bitterböser Miene hob er Einhalt gebietend die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Kantine. Am nächsten Tag knabberten wir beim Unterricht die ganze Zeit über Kohle. Wir saßen mit geblähten Backen, den Mund voll mit rabenschwarzer Kohle und Kohlekrümeln in den Mundwinkeln. Nicht nur die Jungs, auch die Mädchen, die nicht beim Kohlenabladen dabei gewesen waren, aßen sie unter Anleitung der kleinen Galle. Renmei, der Tochter des Kantinenkochs – meiner späteren ersten Frau – schmeckte sie am besten. Jetzt fällt mir gerade ein, dass sie damals bereits Parodontose gehabt haben muss, hatte sie doch beim Kohlenessen immer den ganzen Mund voller Blut. Unsere Lehrerin Yu schrieb ein paar Zeilen an die Tafel, wandte sich um und musterte uns eindringlich. Sie befragte zuerst ihren eigenen Sohn, unseren Klassenkameraden Li Hand: »Hand, was esst ihr da?« »Wir essen Kohlen, Mama.« »Lehrerin, wir essen Kohlen! Möchten Sie auch probieren?« Das hatte Wang Galle in der ersten Reihe gerufen und die Kohle hochgehalten. Ihr lautes Rufen ähnelte dem Fiepen von Kätzchen. Lehrerin Yu kam vom Katheder herunter und nahm die ihr dargebotene Kohle, hielt sie sich unter die Nase, um daran zu riechen und sie genau zu betrachten. Es verging eine lange Zeit, in der sie keinen Ton sprach. Dann gab sie die Kohle zurück und fuhr fort: »Liebe Kinder, heute nehmen wir Lektion sechs durch. Die Fabel vom Raben und vom Fuchs. Der Rabe hatte einen Käse gestohlen und bildete sich viel darauf ein. Er flog damit auf einen Baum. Da kam der Fuchs vorbei. Der sprach zum Raben: ›Rabe, Sie singen ja bestens! Welch wunderschöner Klang! Ertönt Ihr Gesang, sollten alle Vögel auf der Welt stille schweigen!‹ Dem Raben verdrehten die Schmeicheleien des Fuchses so den Kopf, dass er den Schnabel aufsperrte, um ... O weh! Der fette Käse fiel hinunter und landete im Rachen des Fuchses.« Dann übte unsere Lehrerin mit uns zusammen das Lesen der Fabel im Chor. Sie las vor, dann waren wir an der Reihe, mit unseren Mündern voll rabenschwarzer Kohle. Lehrerin Yu besaß Bildung, hatte aber ihrem Sohn, so wie es bei uns auf dem Land Brauch ist, einen traditionellen Namen gegeben. Yu Hand schaffte später die Hochschuleintrittsprüfungen, so dass er Medizin studieren konnte. Nach dem Examen kehrte er zurück aufs Land und arbeitete bei uns im Kreiskrankenhaus als Chirurg. Als Chen Nase beim Häckseln vier Finger in den Schredder bekam, konnte Yu Hand ihm drei davon retten und wieder annähen. 2 Warum besaß Chen Nase eine so ungewöhnlich große Nase, die sich so deutlich von unseren Nasen unterschied? Das wird sicherlich nur seine Mutter aufschlussreich erklären können. Nases Vater Chen Stirn war der einzige bei uns im Dorf, der zwei Frauen hatte. Er war belesen und kannte viele Schriftzeichen. Vor der Befreiung, dem Sieg der Kommunistischen Partei, hatte die Familie dreißig Morgen bestes Ackerland besessen, dazu eine Schnapsbrennerei und in Harbin ein Handelshaus. Seine Hauptfrau stammte aus unserem Dorf und gebar ihm vier Töchter. Vor der Befreiung hatte Chen Stirn längst das Weite gesucht, aber dann, es war um das Jahr 1951, hatte ihn Yuan Gesicht zusammen mit zwei Volksmilizionären in der Mandschurei aufgespürt, festgenommen und zurückgebracht. Seine Frau und die vier Töchter waren bei uns auf dem Land geblieben, denn er war allein abgehauen. Als er zurückkam, hatte er eine fremde Frau bei sich. Sie hatte gelbe Haare und blaue Augen, ich schätze, sie war damals Anfang dreißig. Alina war ihr Name. Im Arm hielt sie einen gefleckten Hund, einen Dalmatiner wahrscheinlich. Weil Chen Stirn sie schon vor 1949, also vor Gründung der Volksrepublik, geheiratet hatte, durfte er seine zwei Frauen vor dem Gesetz behalten. Bei uns im Dorf gab es ein paar arme Schlucker, die sich keine Frau leisten konnten. Sie erzürnten sich darüber maßlos und verlangten – halb im Scherz, aber sie schienen es dennoch ernst zu meinen –, dass Stirn ihnen eine seiner beiden Frauen abgeben solle. Stirns Gesichtsausdruck war Lachen und Weinen zugleich. Anfangs wohnten alle unter einem Dach, aber weil es zu Streit und Handgreiflichkeiten kam, keiner mehr ob des dauernden Lärms eine Auge zutun konnte, willigte Yuan Gesicht ein, dass die Zweitfrau in das kleine Seitenhaus neben der Schule zog. Das Schulgebäude hatte ursprünglich den Chens gehört und war einst die Schnapsbrennerei gewesen. Das Seitenhaus hatte ihnen auch gehört. Stirn einigte sich mit den beiden Frauen darauf, dass sie dort abwechselnd wohnen sollten. Dem gefleckten Hund der Frau mit den gelben Haaren aus Harbin machten die Dorfhunde den Garaus. Als er starb, war Alina hochschwanger und gebar kurz darauf Chen Nase. Man munkelte deswegen, dass der Säugling der wiedergeborene Dalmatiner sei. Und wirklich besaß er eine ungewöhnlich gute Nase. Vielleicht ist an dem Gerücht etwas dran. Meine Tante, die damals ihre Ausbildung zur Hebamme in der Kreisstadt schon beendet hatte – man hatte sie in neuen Methoden der Geburtshilfe ausgebildet –, war wieder zu uns aufs Land versetzt worden und ab 1953 die für uns zuständige Fachhebamme. Die Dörfler widersetzten sich den neuen Geburtshilfemethoden, weil die alten Wehmütter böse Gerüchte streuten. Wenn man nach neuen Methoden entbinde, würden die Säuglinge windkrank. Warum die Wehmütter solche Gerüchte streuten? Weil durch die neuen Entbindungsmethoden ihre Einnahmequelle versiegte. Für eine Entbindung wurden ein reichliches Essen im Hause der Wöchnerin, dazu zwei Handtücher und zehn Hühnereier bezahlt. Kam man auf die Wehmütter zu sprechen, fing meine Tante sofort an, mit den Zähnen zu knirschen, so hasste sie diese alten Weiber. Die Tante sagte, unzählige Neugeborene und Gebärende seien unter den Händen dieser Hexen gestorben. Entsetzliche Schreckensbilder blieben mir von ihren Schilderungen im Gedächtnis, von üblen Mundgeruch verbreitenden Wehmüttern mit langen Fingernägeln und teuflisch grün blitzenden Augen. Tante berichtete, sie würden den Bauch der Gebärenden mit dem Nudelholz bearbeiten. Sie mit einem Lumpen knebeln! Als würden die Babys durch den Mund kommen. Und sie könnten nicht ansatzweise sezieren, wüssten gar nichts über die Anatomie des weiblichen Körpers. Bei schweren Geburten würden sie mit bloßen Händen im Geburtskanal herumfuhrwerken und blind herausziehen, was sie gerade zu packen kriegten. Das Kind samt Gebärmutter wäre auch schon von so mancher dieser Hexen herausgezogen worden. Lange Zeit hätte ich, wenn ich einen hätte aussuchen müssen, den man exekutieren sollte, spontan geantwortet: eine Wehmutter. Später konnte ich nach und nach begreifen, warum meine Tante so radikale Ansichten vertrat. Barbarische, rückständige Wehmütter gab es ohne Zweifel, aber genauso gab es solche, die nach jahrelangen Erfahrungen die Geheimnisse des weiblichen Körpers ergründet hatten und die sich sehr gut auskannten. Meine eigene Großmutter war schließlich auch eine Wehmutter, sie handelte nach dem Prinzip: möglichst wenig, besser gar nicht in naturgegebene Vorgänge eingreifen. Sie liebte das Sprichwort Der reife Apfel fällt allein vom Baum und vertrat die Meinung, eine gute Wehmutter spricht der Gebärenden zuerst einmal Mut zu, sie unterstützt sie, und wenn das Kind dann draußen ist, durchtrennt sie mit der Schere die Nabelschnur, pudert sie mit Ätzkalk, verbindet sie und fertig. Doch meine Großmutter war bei uns im Dorf nicht wohlgelitten, die Leute sagten über sie, dass sie faul sei. Wehmütter, die immer alle Hände voll zu tun hatten, außen zerrten, innen im Geburtskanal rumorten, laut schrien und, gleich der Gebärenden, von Kopf bis Fuß schweißüberströmt waren, waren bei den Leuten beliebt. Meine Tante ist die Tochter meines Großonkels, des älteren Bruders meines Großvaters. Er war Feldarzt bei der Achten Route-Armee. Er hatte zwar seine Ausbildung zum Arzt der chinesischen Medizin gemacht, lernte aber in der Armee unter Henry Norman Bethune die westliche Medizin kennen. Bethunes Tod infolge einer Blutvergiftung traf meinen Großonkel so schwer, dass er lebensbedrohlich erkrankte. Er bat um Heimaturlaub, um seine Mutter ein letztes Mal zu sehen, denn er glaubte sterben zu müssen. Seine Einheit bewilligte den Urlaub, um seine Krankheit zu kurieren. Als er zu Hause eintraf, war meine Uroma auch tatsächlich noch am Leben. Er hatte seinen Fuß kaum über die Schwelle gesetzt, da stieg ihm auch schon der köstliche Duft süßer Mungobohnensuppe, die über dem Feuer brodelte, in die Nase, denn meine Uroma hatte eilig den Wok geschrubbt und Mungobohnen aufgesetzt, und sie hatte sich nicht dabei helfen lassen. Mit dem Krückstock hatte sie ihre Schwiegertochter vom Herd ferngehalten. Mein Großonkel setzte sich auf unsere Türschwelle und wartete ungeduldig. Meine Tante Gugu erzählte uns, dass sie sich, obschon sie damals noch so klein war, an jenen Tag erinnern konnte und dass sie sich nicht getraut habe, ihn »Vater« zu rufen, als die Mutter sie dazu drängte, sondern sich hinter deren Rücken versteckte. Von klein auf hatte sie tagtäglich Mutter und Oma über den Vater reden hören. Aber als sie ihn endlich zu Gesicht bekam, war er ihr wie ein Fremder erschienen. Wie er so auf der Schwelle gesessen habe, erzählte sie mir, habe meines Onkels Gesicht wächsern ausgesehen, lange Haare habe er gehabt, und an seinem Hals habe sie die Flöhe krabbeln sehen. Aus seiner zerlumpten Jacke sei überall die Baumwollwatte hervorgequollen. Und sie sagte, ihre Oma, also unsere Uroma, habe bitterlich geweint, während sie die Mungobohnen kochte. Der Großonkel habe es nicht erwarten können und sofort, nachdem die Suppe fertig war – obwohl man sich doch die Zunge an einer heißen Suppe verbrennt –, die Schale zum Mund geführt und schnell zu trinken begonnen. Die Uroma habe gemahnt: »Trink nicht so hastig, mein Sohn, im Topf ist noch genug.« Meine Tante meinte, ihres Vaters Hände hätten gezittert, und erst nachdem er auch die zweite Schale ausgetrunken hatte, habe das Zittern aufgehört. Schweiß sei ihm von den Wangen und aus den Koteletten getropft. Seine Pupillen hätten sich wieder mit Leben gefüllt, sein Gesicht sei wieder durchblutet worden. Meine Tante erzählte weiter, sie habe es in seinem Bauch schwer rumoren gehört, so laut wie bei einem Kollergang. Nach zwei Stunden sei er aufs Klo gegangen und habe dort einen solchen Durchmarsch gehabt, dass es ihm fast die Gedärme mit herausgetrieben hätte. Danach sei es mit ihm langsam bergauf gegangen, und nach zwei Monaten sei er zum Bäumeausreißen fit gewesen. Ich entgegnete, dass ich in den Geschichten aus dem Gelehrtenwald Ähnliches gelesen hätte, und Gugu fragte zurück: »Was sind denn die Geschichten aus dem Gelehrtenwald?« Ich darauf: »Das ist ein Klassiker der chinesischen Literatur«, worauf mir Gugu entgegnete: »Na, wenn das sogar schon in den klassischen Werken der Literatur so steht, glaubst du’s mir ja wohl!« Nach seiner Genesung sollte mein Großonkel wieder zurück zur Truppe in das Taihang-Gebirge, aber meine Uroma bat ihn: »Mein Sohn, ich habe keine paar Tage mehr zu leben. Bleib bitte noch, bis ich sterbe.« Meine Großtante mochte nichts sagen, deswegen schickte sie ihre Tochter vor: »Papa, Mama sagt, wenn du unbedingt gehen musst, dann mach mir vorher wenigstens noch einen kleinen Bruder.« Aber da pochten die Soldaten der Achten Route-Armee des Liautung-Militärgebiets schon an die Tür und wollten ihn zur Mobilmachung mitnehmen. Mein Großonkel war ja Schüler des berühmten Henry Norman Bethune und hochgeachtet. Er erklärte: »Ich gehöre zu den Stützpunkten der Region Shanxi, Chahar, Hebei«, aber die Männer widersprachen. »Wir sind doch alle Kommunisten, es ist völlig belanglos, wo wir stationiert sind. Jemanden wie Euch, alter Wan, brauchen wir dringend. Wir wollen Euch in jedem Fall! Kommandant Xu hat uns aufgetragen, wenn wir Euch mit einer von acht Mann getragenen Sänfte nicht bewegen, sollen wir Euch gefesselt zu ihm bringen, dann gilt eben: erst mal Waffengewalt und danach die Ehrungen. Der Kommandant wird ein Bankett zu Euren Ehren geben!« So kam es, dass mein Großonkel in Liautung das Xihai-Untergrund-Militärkrankenhaus der Achten Route-Armee gründete. Das kleine Hospital befand sich wirklich unter der Erde! Ein unterirdischer Gang führte an den unterirdischen Zimmern vorbei, die sich mit den Türen zum Gang hin öffneten: ein Raum, in dem die Instrumente sterilisiert wurden, ein Behandlungsraum, ein Operationsraum und die Krankenzimmer. Das ganze Hospital ist noch an Ort und Stelle erhalten. Auch die achtundachtzig Jahre alte Wang Xiulan aus dem Dorf Zhujia in Yutuan aus unserem Gaomiland, die bei meinem Großonkel damals als Krankenschwester arbeitete, ist kerngesund und immer noch dort. Nicht wenige Krankenzimmer besaßen eine Tür, die direkt zum Brunnenschacht nach draußen aufging. Ein junges Mädchen, das sich beim Wasserholen hinabbeugte und in den Brunnen schaute, weil der Wassereimer plötzlich wie von Geisterhand festgehalten wurde, erblickte dort unten im Schacht einen Grimmassen schneidenden Krankenhauspatienten, einen jungen Soldaten der Achten Route-Armee. Dass mein Großonkel ein Meister seines Fachs war, hatte sich in Liautung schnell herumgesprochen. Die Granatsplitter, die beim Kommandanten Xu unter dem Schulterblatt festsaßen, hatte mein Großonkel herausoperiert. Den Kaiserschnitt bei der Frau des Politkommissars Li hatte er auch gemacht. Mutter und Kind verdanken ihm ihr Leben. Selbst der japanische Kommandant Sugitani, der sich damals in Pingdu aufhielt, hatte von den medizinischen Erfolgen meines Großonkels gehört. Er ritt ein großes englisches Warmblut, als er seine Soldaten in einen Säuberungsfeldzug führte. Er ritt auf ein Minenfeld und wurde mit seinem Pferd in die Luft gesprengt. Sein Pferd gab er auf und rannte um sein Leben. Doch mein Großonkel holte das Pferd vom Schlachtfeld und operierte es. Gruppenleiter Xia nahm es sich zum Reitpferd, als es wieder gesund geworden war. Doch es bekam Heimweh, biss seinen Strick durch und rannte nach Pingdu zurück. Als Sugitani sah, dass ihm sein Lieblingspferd entgegengaloppiert kam, freute er sich so über alle Maßen, dass er sogleich einen chinesischen Spion schickte, der herausfand, dass die Achte Route-Armee ohne sein Wissen ein Hospital gebaut hatte und dass der leitende Chefarzt, Wan Liufu, eine Koryphäe seines Fachs, das totgeglaubte Ross operiert und wieder zum Leben erweckt hatte. Kommandant Sugitani, selber Mediziner und aus einer Arztfamilie, war sofort von seinem Kollegen eingenommen und gedachte, meinen Großonkel im Zuge der Kapitulation zu sich zu holen. Er nahm sich unseren Drei-Reiche-Roman zum Vorbild und heckte den gleichen bösen Plan aus, schickte seinen Geheimdienst zu uns nach Gaomi und ließ meine Urgroßmutter, meine Großtante und meine Tante nach Pingdu entführen. Er hielt sie dort fest, um sodann einen Boten mit einem Brief zu meinem Großonkel zu schicken. Mein Großonkel stand wie ein Fels zur kommunistischen Partei. Sugitanis Brief las er, zerknüllte ihn und warf ihn fort. Politkommissar Li wurde am Eingang zum Krankenhaus auf das Papierknäuel aufmerksam, hob es auf und brachte es zum Militärstützpunkt von Liautung. Gemeinsam mit Kommandant Xu schrieb er Sugitani einen Brief, worin er ihn eine Memme schimpfte. Wenn er es wage, Mutter, Frau und Tochter von Wan Liufu auch nur ein Haar zu krümmen, könne er sich darauf verlassen, dass er und Xu alle Truppen des Militärgebiets Liautung zusammenziehen und Pingdu mit Waffengewalt einnehmen würden. Die Tante erzählte, drei Monate lang habe sie zusammen mit meiner Urgroßmutter und Großmutter in Pingdu gewohnt, zu essen und trinken hätten sie genug bekommen, man habe ihnen nichts zuleide getan. Sugitani sei ein blasshäutiger Jüngling mit weißer Hornbrille, dazu dünnem Schnurrbart gewesen, wohlerzogen, gebildet, mit akzentfreiem Chinesisch. Die Urgroßmutter habe er mit »verehrte gnädige Frau«, die Großtante mit »werte gnädige Frau« angeredet. Sie habe ihn sehr gut leiden können, so erzählte sie, wenn wir unter uns waren. In der Öffentlichkeit aber ließ sie dergleichen nicht verlauten, da hieß es nur immer, sie, ihre Mutter und ihre Oma hätten bei den Japanern Folterqualen ausgestanden, sie seien bedroht und genötigt worden, doch hätten sie allen Qualen ohne Klagen standgehalten. Bester Sugitani, die Geschichten über meinen Großonkel sind so zahlreich, dass ich auch nach drei Tagen und Nächten nicht damit fertig werde. Ein andermal mehr davon. Nur von seinem Heldentod will ich noch berichten. Meine Tante erzählte, dass ihn, als er in dem unterirdischen Krankenhaus einen Kriegsverletzten operierte, ein feindlicher Giftgasangriff tötete, er verschied auf dem Gang. In den Materialien zur Literatur und Geschichte, die die Politische Konsultativkonferenz auf Kreisebene regelmäßig herausgibt, steht dasselbe geschrieben. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich jedoch, der Großonkel habe acht Handgranaten im Gürtel stecken gehabt und sich mit dem Muli auf den Weg nach Pingdu gemacht, um als »einsamer Held« Mutter, Frau und Tochter zurückzuholen. Unglücklicherweise sei er dabei in ein Minenfeld der Volksmiliz aus Zhaojiagou geraten. Ein Bursche aus Xihai namens Xiao Oberlippe, der früher als Krankenpfleger im Xihai-Hospital die Krankentragen geschleppt hatte, verbreitete diese Version als erster. Dieser komische Vogel war später für die Lagerung des Getreides im Brigadekornspeicher zuständig. Eine Zeit lang war er in aller Munde, weil er ein neues Rattengift erfunden hatte, und wurde sogar in der Zeitung erwähnt, die seinen plumpen bäurischen Vornamen gleich ein wenig verschönerte. Später stellte sich heraus, dass die Pestizide, aus denen sein so wirksames Rattengift gemischt wurde, von Amts wegen längst strengstens verboten waren. Er und meine Tante sind verfeindet. Deswegen kann man ihm keinen Glauben schenken. Er sagte mal zu mir: »Dein Großonkel hatte da wohl einen ungesunden Hang zum individualistischen Heldentum, er hielt sich nicht an Anordnungen der Einheit, sondern ließ seine schwerverletzten Krankenhauspatienten im Stich, um sich mit aus Pataten gebranntem Fusel den nötigen Schneid für seine Heldentat anzusaufen. Mit dem Ergebnis, dass er in die Minenfelder der eigenen Leute lief.« Xiao Oberlippe bleckte die gelben Zähne. Mit Schadenfreude bedeutete er mir: »Deinen Großonkel und sein Muli hat es in tausend Stücke zerrissen. Zwei Körbe voll haben sie aufgesammelt, so haben sie ihn zurückgebracht, Arme, Hufe alles kreuz und quer reingeschüttet in einen Sarg und fertig. Aber der Sarg war nicht schlecht. Den hatten sie bei einem Großbauern in Lancong konfisziert.« All das verriet ich meiner Tante, die riss ihre hübschen Mandelaugen auf und stutzte: »Wart’s ab, ich werde diesem Bastard eigenhändig die Eier abhacken!«, und mir zugewandt, keinen Zweifel duldend, fuhr sie fort: »Und wenn du niemandem mehr was glaubst, mein Kind, aber eins steht fest, dein Großonkel ist ein Held des antijapanischen Widerstands und Märtyrer der Revolution!« Er ist auf dem Märtyrerfriedhof vom Yinglingshan-Berg begraben, in der Gedenkhalle haben sie sein Skalpell und seine Halbschuhe ausgestellt – englische Lederschuhe –, die ihm Henry Norman Bethune auf dem Sterbebett schenkte. 3 Sugitani-san, die Geschichte meines Großonkels habe ich nur flugs erzählt, aber über meine Tante möchte ich in Ruhe berichten. Meine Tante, ich nenne sie Gugu, wurde am 13. Juni 1937 geboren, nach dem Mondkalender am fünften Tag des fünften Mondes. Als kleines Kind wurde sie mit Kosenamen Duanyang gerufen, als Schulmädchen hieß sie bei allen Wan Herz. Der Großonkel hatte ihr ihren Namen gegeben, zum einen zollte er damit unseren Bräuchen Respekt, zum andern hatte der Name noch einen tieferen Sinn. Gleich nachdem mein Großonkel sein Leben fürs Vaterland gegeben hatte, erkrankte meine Urgroßmutter und starb in Pingdu. Unser dortiger Militärbezirk konnte meine Großtante und Tante nur mittels seiner Agenten und unter größten Anstrengungen aus den Fängen der Japaner befreien. Nachdem beide wieder in die durch die Kommunisten befreiten Gebiete gebracht worden waren, kam meine Tante in die Kangri-Grundschule und meine Großtante in die Näherei, von der sie Stoffschuhsohlen zum Nähen mit nach Haus bekam. Nach der Befreiung hatten Kriegshinterbliebene wie meine Tante, zumal wenn die Gefallenen, wie mein Großonkel, Märtyrer des Volkes waren, enorme Möglichkeiten. Sie konnten Karriere machen, studieren, konnten weg vom Land in die Stadt ziehen. Gugu machte jedoch keinen Gebrauch davon, denn sie wollte ihre Mutter, die es nicht übers Herz brachte, aus der Heimat fortzugehen, nicht allein zurücklassen. Die leitenden Kreiskader fragten Gugu, was sie werden wolle, und sie erwiderte: im gleichen Beruf wie ihr Vater arbeiten und ihres Vaters Werk weiterführen. Deshalb durfte sie unsere staatliche medizinische Fachschule in Gaomi besuchen. Mit sechzehn hatte sie bereits ihren Abschluss und begann als Ärztin in der Krankenstation unseres Gesundheitsamts zu arbeiten. Als vom Gesundheitsministerium auf Kreisebene ein Kursus Moderne Entbindungsmethoden angeboten wurde, wählte unsere Krankenstation meine Tante für die Kursteilnahme aus. Der Kursus wurde zum schicksalhaften Wendepunkt, das heilige Hebammenhandwerk sollte von nun an ihr gesamtes Leben bestimmen. Sie habe insgesamt 10 000 Säuglinge auf die Welt geholt, sagte sie, den ersten am 4. Neujahrstag 1953, den letzten zu Neujahr des vergangenen Jahres. Die Babys, die sie gemeinsam mit einer Kollegin auf die Welt geholt habe, habe sie bei dieser Rechnung nur halb gezählt. Lieber Freund, diese Zahl hat sie Ihnen auch persönlich genannt. 10 000 Babys sind vermutlich leicht übertrieben, aber 7000 oder 8000 sind es in jedem Fall. Sieben Lehrlinge hatte sie. Darunter ein Mädchen, das auf den Spitznamen Xiao Shizi hörte, was »Kleiner Löwe« bedeutet. Sie hatte krauses Haar, eine platte Nase, einen eckigen Mund und das Gesicht voller Pickel. Sie vergötterte meine Tante so sehr, dass sie, wenn Gugu ihr befohlen hätte, ein Kind zu töten, ohne viel Federlesen das Messer gezogen und zugestoßen hätte. Ich erwähnte schon, mit welch vehementer Ablehnung die Landfrauen bei uns im Frühling 1953 den neuen Methoden der Geburtshilfe begegneten. Die Wehmütter taten mit ihren diffamierenden Lügenmärchen hinter dem Rücken meiner Tante ein Übriges. Obwohl sie erst siebzehn war, verfügte sie über außergewöhnliche Erfahrungen. Dies und ihre glänzende, goldwerte Herkunft machten sie bei uns in Nordost Gaomi zu einer höchst einflussreichen, von allen bewunderten und angesehenen Persönlichkeit. Dazu kam, dass auch ihr Äußeres außergewöhnlich war. Ich will gar nicht von ihrer Kopfform, ihrem Gesicht, ihrer Nase und den Augen anfangen, allein ihre Zähne waren unvergleichlich! Bei uns in Gaomi haben wir häufig eine Fluorüberversorgung, Alt und Jung haben deswegen gelbe Zähne. Wahrscheinlich, weil Gugu lange in Liautung gelebt, dort frisches Quellwasser aus dem Gebirge getrunken und bei der Achten Route-Armee noch dazu das Zähneputzen gelernt hatte, waren ihre Zähne von dem giftigen Fluor verschont geblieben. Wie haben wir immer ihren Mund voller strahlend weißer Zähne bewundert! Besonders die jungen Mädchen haben sie immer beneidet! Das erste Baby, das sie holte, war Chen Nase. Sie fand nur schade, dass es das Balg eines Großgrundbesitzers war, wo sie sich doch vorgestellt hatte, beim ersten Mal die Nachkommenschaft eines Revolutionärs auf die Welt zu holen. Aber um damals der neuen Methode der Geburtshilfe eine Chance zu geben und die alte durch die neue abzulösen, hatte sie weder Zeit noch Wahl, sich ein würdiges Erstes auszusuchen. Als sie die Nachricht von der nahenden Niederkunft Alinas erreichte, schulterte sie schnurstracks ihren Arzttornister, schwang sich aufs Fahrrad – Räder waren bei uns damals eine Seltenheit – und sauste wie der Blitz los; für die fünf Kilometer von der Krankenstation bis zu uns ins Dorf brauchte sie nur zehn Minuten. Die Frau des Dorfparteizellensekretärs Yuan Gesicht, die damals am Ufer des Kiaolai-Flusses beim Wäschewaschen war, hat mit eigenen Augen gesehen, wie Gugu in voller Fahrt über die kleine Steinbrücke preschte. Ein Hund, den Gugu beim Spielen an der Brücke überraschte, geriet so in Panik, dass er kopfüber ins Wasser stürzte. Mit dem Arzttornister in der Hand rannte sie in das Seitenhaus, das Alina bewohnte. Die Dorfwehmutter Tian Guihua war schon zur Stelle, eine spitzmündige Alte mit eingefallenen Wangen, schon damals Mitte sechzig und heute – Erleuchte uns Amithaba! – längst zu Erde zerfallen. Tian Guihua gehörte zu den energisch eingreifenden Hebammen. Sie hockte bereits auf Alina und drückte mit vollem Gewicht auf deren kugeligen Bauch, als Gugu zur Tür hereintrat. Die Alte litt an chronischer Bronchitis, ihr krächzendes Keuchen mischte sich mit dem gellenden Schreien der Gebärenden – man meinte, im Zimmer würde ein Schwein abgestochen –, es war eine tragisch heroische Atmosphäre. Der Grundbesitzer Chen Stirn kniete vor der Wand und stieß immer wieder heftig mit dem Kopf dagegen, wie ein hochschnipsender Schnellkäfer sah er aus, dazu murmelte er undeutlich einen Singsang. Ich bin oft bei Chen Nase gewesen, ich weiß, wie es bei ihm zu Hause aussieht. An den niedrigen Gang im Seitenhaus grenzen zwei kleine Zimmer, die Türen zum Gang haben. Wenn man zur einen Tür hineintritt, steht man quasi vor dem Herd, an der Stirnseite ist eine sechzig Zentimeter hohe Zimmerwand aufgemauert, auf deren Rückseite sich der Herd in den aus Lehm gebauten Kang fortsetzt, auf dem alle schlafen. Als Gugu zur Tür hineinstürmte, konnte sie alles überblicken, was dort geschah. Sie war sofort wutentbrannt. Sie schmiss ihren Tornister in die Ecke und war mit einem Riesensatz bei der Alten, mit der Linken griff sie deren linken Arm, mit der Rechten deren rechte Schulter, und schon hatte sie sie mit einem kräftigen Ruck unter den Kang befördert. Die Alte stieß sich den Kopf am Nachttopf, der zu Bruch ging, so dass die Pisse über den Boden schwappte. Den Raum erfüllte alsbald ein feuchter, streng riechender Dunst. Aus der Platzwunde am Kopf der Wehmutter strömte dunkles Blut, keine wirklich bedrohliche Verletzung, dennoch schrie sie schrill wie am Spieß. Bei so einem Schreien erschrickt jeder normale Mensch zu Tode, Gugu aber keine Spur, denn sie war welterfahren. Sie hatte schon allerhand gesehen! Sie stand vor dem Kang und maßregelte Alina, während sie sich ihre Gummihandschuhe überstreifte: »Du hörst zuerst mal mit Schreien und Weinen auf. Das hilft uns jetzt nicht weiter. Wenn du überleben möchtest, hör gut auf meine Anweisungen und tu genau das, was ich dir sage.« Alina war wie vom Donner gerührt. Sie kannte Gugus glorreiche Herkunft und sagenumwobene Vergangenheit sehr wohl. Gugu sagte: »Du bist eine Spätgebärende, und dein Kind liegt in Querlage. Normalerweise kommen die Kinder zuerst mit dem Kopf, deines streckt zuerst einen Arm raus, der Kopf liegt im Leib.« Später zog sie Chen Nase damit auf, dass er, bevor er es gewagt habe, den Kopf herauszustrecken, erst mal die Hand nach draußen aufgehalten habe. Nase antwortete immer: »Ich habe um Essen gebettelt.« Gugu bewahrte einen kühlen Kopf, obschon es doch ihre erste Geburtshilfe war. Weil sie gewissenhaft war, erzielte sie ein hundertprozentig gutes Ergebnis, auch wenn das, was sie bisher gelernt hatte, nur die Hälfte war. Sie war die geborene Hebamme, sie tat vom Kopf her immer intuitiv das Richtige und auch ihre Hände hatten das richtige Gefühl für diesen Job. Alle, die ihr bei der Geburtshilfe zugesehen oder ihr Kind mit ihr bekommen hatten, lagen ihr bewundernd zu Füßen. Meine Mutter sagte mir später: »Die Hände deiner Tante sind eben anders, Hände normaler Leute sind mal kühl, mal heiß, mal steif, mal schweißnass, aber die deiner Tante sind sommers wie winters immer weich, immer kühl, aber nicht so eine teigige Weichheit, sondern, wie soll ich sagen ...« Mein kluger großer Bruder antwortete: »Meinst du wie eine Nadel in der Baumwollwatte? Weiche Haut mit hartem Kern?« »Genau das wollte ich sagen«, meinte meine Mutter. »Sie hatte auch keine eisig kalten Hände, es war, wie soll ich sagen ...« Wieder ergriff mein Bruder das Wort: »Außen kühl, innen warm, eine Kühle wie Seide oder teure Jade.« »Genauso ist es«, erwiderte meine Mutter, »schon das Auflegen der Hände mildert die Beschwerden des Kranken gleich um mehr als die Hälfte.« Gugu wurde von den Dörflern – fast kann man sagen – in den Stand einer Göttin erhoben. Alina hatte immer Glück gehabt. Und, was besonders zählte, sie war nicht dumm. Als meine Tante die Hand auf ihren Bauch legte, konnte sie einen Energiefluss spüren. Später erklärte sie allen Leuten, meine Tante hätte das Auftreten eines Generals gehabt. Verglichen mit ihr war die neben dem Pisspott hockende Alte eine Witzfigur. Mit Tantes medizinisch versierter Art und ihrem Eindruck schindenden Auftreten schüchterte sie ein und motivierte zugleich. Die Gebärende Alina schöpfte wieder Hoffnung und Mut. Der sie zerreißende Schmerz trat in den Hintergrund. Sie hörte mit Weinen auf, hörte auf Gugus Anweisungen, ging bei Gugus Bewegungen mit und hatte ihren großnasigen Säugling alsbald geboren. Chen Nase atmete nicht, als er zur Welt kam. Also hielt Gugu ihn mit dem Kopf nach unten und klopfte ihm auf Brust und Rücken, bis er endlich ein Schreien hören ließ. Er hatte ein Stimmchen wie ein Kätzchen. »Was hat der Kleine für eine große Nase? Der sieht ja wie ein Ami aus!« Gugu war freudig erregt, wie ein Handwerker, der gerade sein Meisterstück fertig gestellt hat. Über das erschöpfte Gesicht der Mutter huschte ein strahlendes Lächeln. Meine Tante hat ein starkes Klassenbewusstsein. Dennoch ... im Augenblick der Geburt, wenn das Kind mit ihrer Hilfe durch den Geburtskanal kommt, vergisst sie Klassen und Klassenkampf. Die empfundene Freude ist ehrliche Menschenliebe. Als die alte Wehmutter brüllte, es sei ein Sohn geboren, rappelte Chen Stirn sich auf und fing an, sich wie ein Besessener auf dem winzigen Platz vor dem Herd im Kreis zu drehen. Aus seinen vertrockneten Augenhöhlen rannen zwei honiggelbe Tränenrinnsale. Seine unbändige Freude ist unmöglich in Worte zu fassen. Es gab so viel, das er nicht auszusprechen wagte, die Verehrung der Familienahnen, das täglich brennende Räucherwerk am Hausaltar, die Ahnenhalle des Clans, die Großfamilie ... für einen wie ihn war das bloße Aussprechen ein Schwerstverbrechen. Meine Tante sagte: »Mit solch einer großen Nase nenne ihn Chen Nase!« Gugu sagte es nur so zum Spaß, aber Chen Stirn nickte, als habe er eine göttliche Weisung empfangen, senkte den Kopf und machte einen Diener: »Gugu, ich danke dir für dein gütiges Namensgeschenk! Chen Nase ist ein guter Name, nennen wir ihn Nase!« Meine Tante packte unter Chen Stirns Dankesbezeugungen neben der tränenüberströmten Alina ihren Arzttornister und machte sich zum Aufbruch fertig. Ihr Blick fiel auf Tian Guihua, die an die Wand gelehnt, vor sich den Nachttopf, dasaß und eingeschlafen schien. Gugu konnte sich nicht erinnern, wann die Alte diese Stellung eingenommen hatte, auch nicht, wann ihr Schreien, das jedem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, aufgehört hatte. Hatte sie doch angenommen, dass sie längst tot sei! Aber dort im Dunkel funkelte ein Augenpaar giftgrün wie Katzenaugen! Sie war noch am Leben! Schäumende Wut wallte wieder auf: »Was fällt dir ein hierzubleiben? Marsch, verdrück dich!« Da hatte die Alte doch die Frechheit zu sagen: »Diesen Job haben wir gemeinsam gemacht, darum gilt halbe-halbe. Aber weil du mich am Kopf verletzt hast – ich bin nett zu dir und werde dich nicht bloßstellen und auch nicht bei der Polizei anzeigen! –, werde ich den Lohn, zwei Handtücher und zehn Hühnereier, nicht teilen. Mit den Tüchern werde ich meine Kopfverletzung verbinden und die fünf Eier, die du sonst bekommen hättest, zur Stärkung essen.« Da erst kam Gugu zu Bewusstsein, dass die Wehmutter Geld von der Wöchnerin wollte. Wie hasste sie diese Person! »Du schamloses Vieh! Was willst du hier zur Hälfte gemacht haben? Wenn du«, Gugu biss grimmig die Zähne zusammen, »es zu Ende gemacht hättest, lägen hier jetzt zwei Leichname auf dem Bett. Du alte Hexe meinst, die Scheide der Frauen sei wie ein Hühnerpo, man quetscht, und hinten plumpst ein Ei raus? Das soll Geburtshilfe sein? Ich sage dir, das ist Totschlag, Mord! Und du willst mich anzeigen?« Wie ein Kungfu-Meister holte sie mit dem Fuß aus und verpasste der Alten einen Tritt gegen das Kinn: »Handtuch und Hühnereier willst du?« Noch einen Tritt in den Hintern verpasste sie ihr. Dann schleifte sie sie, in der einen Hand ihren Arzttornister, in der anderen Hand den Haardutt der Alten, zum Hof hinaus. Chen Stirn trat aus dem Haus und wollte Frieden stiften, aber Gugu keifte ihn an: »Marsch, ins Haus mit dir! Kümmere dich um deine Frau!« Meine Tante erzählte mir, damals hätte sie zum ersten Mal in ihrem Leben jemanden geschlagen, und sie habe ja nicht gewusst, dass sie so klasse prügeln konnte. Vor dem Hof gab sie der Alten einen dritten Tritt, die kippte vornüber und machte eine Rolle, rappelte sich auf, bis sie auf dem Boden zu sitzen kam, und schrie aus Leibeskräften, während sie mit beiden Fäusten auf den Boden trommelte: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Totschlag ... die Räubertochter des Liu Wanfu hat mich totgeschlagen ...« Es war Abend, ein wunderschöner Sonnenuntergang mit pinkfarbenem Abendrot, eine leichte Brise ging, fast alle Dörfler standen mit ihren Näpfen am Wegrand und aßen zu Abend, als sie das grässliche Schreien hörten. Sie rannten zu Chens Hof und umringten die Alte. Dorfparteizellensekretär Yuan Gesicht und Brigadeleiter Lü Zahn waren auch gekommen. Tian Guihua war eine entfernte Tante von Zahn, deswegen hielt er erst mal zur Verwandtschaft und maßregelte Gugu: »Schämst du dich gar nicht, Wan Herz? Ein junges Mädchen wie du und schlägst eine alte Frau?« Gugu erwiderte: »Wer ist dieser Knilch Lü Zahn? Dieses Vieh schlägt seine Frau, dass sie auf dem Boden kriecht, und will mich hier maßregeln? Welche alte Frau überhaupt? Die alte Hexe! Todbringerin! Frag sie mal, was sie so treibt! Wie viele sind unter ihrer Hand gestorben! Kinder hört mal her, Muttern sagt euch eins, hätte ich eine Knarre, würde ich sie auf der Stelle abknallen!« Gugu streckte den rechten Arm aus und zielte mit gestrecktem Zeigefinger auf den Kopf der Alten. Dass Gugu, damals ein siebzehnjähriges, junges Mädchen, sich so titulierte, brachte viele Leute zum Lachen. Lü Zahn wollte Tian Guihua noch verteidigen, doch der Parteizellensekretär Yuan Gesicht stand auf Gugus Seite: »Ärztin Wan hat recht. Solchen Hexen, die leichtfertig Menschenleben aufs Spiel setzen, müssen wir das Handwerk legen. Tian Guihua, spiel jetzt nicht den toten Hund. Die Tracht Prügel, die du bezogen hast, war eine milde Strafe. Wir müssten dich eigentlich einlochen! Von heute an übernimmt Ärztin Wan die Geburten bei uns. Tian Guihua, solltest du es immer noch wagen, eine Entbindung vorzunehmen, lasse ich dir deine Hundspfoten abhacken!« Gugu meinte, Yuan Gesicht hätte zwar keine Bildung, dafür aber einen guten Riecher für Trends, und er sei in der Lage, fair zu handeln. Er sei ein guter Parteisekretär. 4 Sugitani-san, bei der zweiten Geburt, bei der meine Tante Geburtshilfe leistete, wurde ich geboren. Als meine Mutter niederkommen sollte, machte meine Oma es so wie immer, sie wusch sich die Hände, zog frische Kleidung an, entzündete drei Räucherstäbchen vor der Ahnentafel auf unserem Hausaltar, machte vor den Ahnen drei Kotaus und jagte alles, was männlich war, zum Haus hinaus. Meine Mama war keine Erstgebärende, vor mir hatte sie meine beiden Brüder und meine Schwester geboren. Oma redete ihr gut zu: »Heute wird alles wie am Schnürchen laufen! Das machst du doch mit links. Du wirst das Kind ganz in Ruhe zur Welt bringen.« Aber Mutter widersprach: »Mama, ich habe ein ungutes Gefühl. Diesmal fühlt sich alles anders an.« Oma jedoch nahm nicht ernst, was sie sagte: »Na aber, aber, was ist denn anders? Ein chinesisches Einhorn wirst du wohl nicht gebären?« Meine Mutter hatte sich nicht getäuscht, meine Brüder und meine Schwester waren alle drei mit dem Kopf zuerst gekommen, ich jedoch streckte zuerst ein Bein heraus. Als Oma mein Bein sah, war sie starr vor Schreck. Es gibt eine Redensart bei uns auf dem Land, die heißt: Streckt’s den Fuß zuerst raus, zieht’s dich bis aufs Hemd aus. Will sagen, so ein Geist, der die Schulden eintreibt, kommt ins Haus. Was hat es damit auf sich? In früheren Existenzen ist die Familie jemandem Geld schuldig geblieben. In dem Kind wird der Gläubiger in die Familie wiedergeboren und stürzt die Gebärende in Not. Entweder sterben beide im Kindbett oder das Kind stirbt, wenn es ein bestimmtes Alter erreicht hat, nicht ohne die Familie damit finanziell wie seelisch in den Ruin zu treiben. Meine Oma mimte Gelassenheit: »Flinke Beine, der Kleine, der wird mal Amtsdiener und kommt in den Kurierdienst! Hab keine Angst, ich weiß schon, was wir da machen.« Sie holte einen bronzenen Waschkessel herbei, stellte sich damit auf den Kang und schlug kräftig wie auf einen Gong mit dem Nudelholz darauf. Der Kessel dröhnte, während sie rief: »Komm hervor, zeig dich! Dein Herr schickt dich, einen Hühnerfederbrief auszuliefern. Eil dich, sonst setzt’s eine Tracht Prügel!« Meine Mutter spürte, dass es ernst um sie stand. Sie pochte mit dem Handfeger gegen das Fenster, um meine Schwester herbeizurufen, die im Hof Wache stand: »Aman, lauf schnell und hol deine Tante.« Meine Schwester, klug wie sie war, rannte zum Dorfamt, zu Yuan Gesicht, damit er die Krankenstation anrief. Den alten Telefonapparat habe ich aufgehoben, weil er mir das Leben gerettet hat. Es war der sechste Juni, der Kiaolai-Fluss war über die Ufer getreten, die Steinbrücke stand unter Wasser, aber wegen der Schaumkronen auf den hochschlagenden Wellen konnte man ungefähr abschätzen, wo sich die Brücke befand. Der Tunichtgut Du Hals, der am Fluss beim Angeln war, sah, wie meine Tante pfeilschnell zum Ufer herunterradelte, zu beiden Seiten des Rads spritzten die Wellen schäumend mehr als einen Meter in die Höhe. Sugitani-san, wenn die reißenden Wassermassen meine Tante in den Fluss gespült hätten, gäbe es mich heute nicht. Triefend kam Gugu zur Tür herein. Meine Mutter sagte, als sie ihre Cousine in der Tür erblickt habe, sei sofort eine fast heilige Ruhe über sie gekommen, als wäre sie mit Tabletten ruhiggestellt worden. Gugu stieß meine Oma sogleich zur Seite und fuhr sie an: »Tante, wenn du so ein Getöse machst, wird sich das Kind niemals blicken lassen.« Meine Oma verlor sich in Ausflüchten: »Alle Kinder mögen doch gern Trubel, bei Getrommel kommen sie immer neugierig herbei!« Später erzählte mir meine Tante immer, sie habe mich an den Beinen aus meiner Mutter gezogen wie ein Rübchen am Grün aus der Erde. Das war natürlich nur Spaß. Nachdem ich geboren war, machten es sich meine und Nases Mutter zur Pflicht, für meine Tante Reklame zu machen. Überall kreuzten sie auf und erklärten die Vorzüge der neuen Geburtshilfe. Wenn Yuan Gesicht oder der Nichtstuer Du Hals Leute trafen, sprachen sie von Tantes Radfahrkünsten. Der Ruhm meiner Tante verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und die alten Wehmütter interessierten niemanden mehr. Sie waren alsbald Geschichte. Von 1953 bis zum Jahre 1957 erlebten wir eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, die Produktion steigerte sich. Wir hatten keine starken Stürme und der Monsun brachte pünktlich die richtige Menge Regen, so dass wir einige Jahre reiche Ernten hatten. Es gab genug zu essen, wir waren warm angezogen, hatten beste Laune und unsere Frauen wurden um die Wette schwanger und gebaren ein Kind nach dem anderen. In diesen Jahren konnte meine Tante vor Arbeit nicht mehr aus den Augen gucken. Durch alle achtzehn Dörfer Nordost-Gaomilands, durch jede Gasse, jede Dorfstraße war ihr Rad gefahren, in fast jeden Hof hatte sie ihren Fuß gesetzt. 1612 Entbindungen machte sie, angefangen vom 4. April 1953 bis zum 31. Dezember 1957, und brachte dabei 1645 Kinder zur Welt, darunter sechs tote Kinder, aber fünf davon waren Totgeburten und eines kam mit einem schweren Geburtsfehler zur Welt. Eine prächtige, wenn auch nicht perfekte Leistung. Als sie am 17. Februar 1955 der kommunistischen Partei Chinas beitrat, hatte sie ihren tausendsten Säugling entbunden, es war Li Hand, der Sohn unserer Lehrerin. Meine Tante erzählte uns, dass Lehrerin Yu ihre coolste Gebärende gewesen sei, während meine Tante das Kind zwischen ihren Beinen holte, habe sie mit einem Buch in der Hand den Unterricht vorbereitet. Auf ihre alten Tage sehnte sie sich in diese Zeit zurück, schließlich war die goldene Ära der chinesischen Geschichte auch ihre goldene Zeit gewesen. Ich erinnere mich, dass sie, nicht oft, aber gelegentlich, mit strahlenden Augen sehnsuchtsvoll sagte: »Damals war ich Mensch gewordener Bodhisattva , die große Muttergöttin Avalokitesvara, die die Kinder schenkt, meinem Körper entströmte der köstliche Duft aller Arten von Blumen, summende Bienenschwärme, flatternde Schmetterlinge folgten mir, und jetzt? Jetzt folgen mir die Schmeißfliegen ...« Auch ich habe meinen Namen von meiner Tante erhalten, als Schuljunge wurde ich Wan Fuß gerufen, mein Kosename aus Kindertagen war Kleiner Renner. Verzeihung, bester Freund, ich erkläre es Ihnen: Wan Fuß ist mein ursprünglicher, Kaulquappe mein Schriftstellername. 5 Meine Tante war längst im heiratsfähigen Alter. Aber weil sie selbst verdiente, noch dazu im öffentlichen Dienst, und deshalb den Reis aus der Brigadeproduktion aß, weil sie der glorreichen Familie meines Großonkels entstammte, wagte keiner der jungen Männer im Dorf, sich Hoffnungen zu machen. Ich war damals fünf, als ich meine Großtante und meine Oma tagein tagaus von nichts anderem mehr sprechen hörte. Sorgenvoll sagte meine Großtante: »Was soll man davon halten, Schwägerin! Unsere Herz ist zweiundzwanzig, die gleichaltrigen Mädchen haben alle schon zwei Kinder. Und um ihre Hand hat noch kein einziger Junge angehalten!« Meine Oma widersprach: »Aber Schwägerin, warum so eilig? So eine wie unsere Herz kann sogar bei Hofe einheiraten und Kaiserin werden! Pass auf, dann bist du Kaiserschwiegermutter und wir sind Angehörige der kaiserlichen Familie, das wird uns noch nützlich sein.« Die Großtante sagte nur: »Der blanke Unsinn, was du da sagst! Den Kaiser gibt’s seit der Revolution nicht mehr, Volksrepublik heißen wir jetzt, und anstelle des Kaisers regiert der Vorsitzende unser Land.« »Wenn jetzt der Vorsitzende Herr im Staat ist, lass sie uns ihm zur Frau geben!« Grollend erwiderte die Großtante: »Du bist mir eine! Mit dem Körper reingerutscht in die neue Epoche, aber dein Hirn hast du draußen gelassen.« »Ich kann mich mit dir nicht messen! Aus Heping bin ich nie rausgekommen. Ich hab mein gesamtes Leben in unserem Dorf verbracht. Du dagegen hast die befreiten Gebiete kennengelernt, bist in Pingdu gewesen«, sagte meine Oma. »Komm mir nicht mit Pingdu, da beginnt mir sofort die Kopfhaut zu kribbeln!«, fiel die Großtante ein, »dahin haben mich die Japsen verschleppt! Ich hab’s mir dort nicht gut gehen lassen! Büßen musste ich, dass du es weißt!« Das Gespräch der beiden alten Schwägerinnen mündete wie so oft in einen Streit. Und wenn die Großtante tags zuvor wutschnaubend gegangen war, als hätte sie nun endgültig und für alle Zeiten mit meiner Oma gebrochen, war sie anderntags wieder da und zu neuen Gesprächen aufgelegt. Meine Mutter, die den täglichen Auseinandersetzungen der beiden über Tantes Hochzeitsangelegenheiten zuschaute, belächelte sie insgeheim. Ich erinnere mich an den Abend, an dem unsere Kuh kalben sollte. Ich frage mich, ob sie sich meine Mutter oder ob das Kälbchen sich mich zum Vorbild genommen hatte, jedenfalls erschien zuerst ein Bein. Dann blieb das Kälbchen stecken, kam nicht vor, nicht zurück. Die alte Kuh presste und muhte dabei vor Schmerzen. Sie litt erbärmlich. Mein Vater und mein Opa waren in äußerster Sorge, händeringend traten sie von einem Fuß auf den andern, gingen im Kreis, doch sie wussten nicht, was sie tun sollten. Das Rind ist dem Bauern ein Garant zum Überleben. Dazu kam, dass die Produktionsbrigade uns das Rind zur Verfügung gestellt hatte. Wenn es starb! Nicht auszudenken ... Mutter wisperte meiner Schwester zu: »Aman, hast du gehört, dass deine Tante eben zum Tor herein ist?« Meine Schwester zögerte keinen Augenblick und rannte sofort los. Mein Vater warf meiner Mutter einen abschätzigen Blick zu: »Hör auf mit dem Blödsinn, sie macht Geburtshilfe für Menschen!« Aber meine Mutter sagte: »Beim Vieh ist es doch auch nicht anders als beim Menschen.« Meine Schwester kam zurück, im Schlepptau meine Tante. Die ließ erst einmal Dampf ab: »Wollt ihr, dass ich mich zu Tode arbeite? Mit den Menschen habe ich schon genug zu tun, jetzt soll ich auch noch die Kühe entbinden!« Mutter lachte: »Cousine! Was suchst du dir auch so eine Familie aus? Schau, wen hätten wir sonst zu Hilfe rufen sollen? Alle sagen, du bist der wiedergeborene Bodhisattva Guanyin. Der Retter aller Kreatur! Auch wenn Vieh und Mensch zweierlei sind, so sind doch beide Lebewesen. Kannst du mit ansehen, wie unsere Kuh stirbt, ohne zu helfen und ihr Leben zu retten?« »Cousine, Glück für dich, dass du nicht lesen und schreiben kannst! Hättest du zweitausend Schriftzeichen gelernt, unser Dorf hätte dich nicht halten können!« »Auch wenn ich achttausend beherrschte, könnte ich es nicht mal mit einem einzigen Zeh deines Fußes aufnehmen.« Obwohl der wütende Gesichtsausdruck anhielt, war die Tante besänftigt. Es war bereits dunkel. Mutter entzündete alle Lampen im Haus, drehte die Dochte höher und trug sie in die Mühle, wo wir unseren Kuhstall hatten. Als die Kuh meine Tante erblickte, knickten ihr die Vorderbeine ein, so dass sie kniete. Meiner Tante schossen sofort die Tränen in die Augen, sie weinte wie ein Schlosshund. Wir weinten alle mit. Sie untersuchte die Kuh und sagte halb mitleidig, halb scherzend: »Wieder eins, das zuerst den Fuß rausstreckt.« Gugu schickte uns Kinder auf den Hof, denn sie wollte uns schonen. Wir hörten sie von draußen laut Anweisungen geben und stellten uns vor, wie sie unsere Eltern bei der Geburt des Kälbchens dirigierte. Nach dem Mondkalender hatten wir Monatsmitte. Als der Mond in Südost stand und Himmel und Erde in milchig weißes Licht tauchte, rief meine Tante: »Es ist geboren! Alles in Ordnung!« Wir stürmten jubelnd zu unserer Kuh und schauten uns ihr am ganzen Körper schleimiges kleines Kälbchen an. Der Vater war freudig erregt: »Sieh einer an, ein kleines Kuhkälbchen!« Gugu geriet gleich wieder in Wallung: »Wie sonderbar! Bekommen die Frauen ein Mädchen, ziehen die Männer lange Gesichter, aber haben die Kühe ein Kuhkälbchen, strahlen sie übers ganze Gesicht!« Vater sagte: »Bei den Rindern bekommen die Kühe, wenn sie ausgewachsen sind, Kälbchen!« Gugu erwiderte nur: »Bei den Menschen etwa nicht? Aus kleinen Mädchen werden Frauen, die Babys zur Welt bringen.« »Na! Das ist aber was ganz anderes!« »Was ist da bitteschön anders?« Vater sah, dass meine Tante jeden Moment zu platzen drohte, und erwiderte nichts mehr, denn er wollte keinen Streit mit ihr anfangen. Die Kuh wandte den Kopf ihrem Kälbchen zu und begann seinen Körper vom Schleim rein zu lecken. Als ob auf der Kuhzunge Wundermedizin wäre, tankten die von ihr geleckten Körperstellen sofort Kraft. Alle sahen ergriffen zu. Ich hatte meine Tante dabei heimlich beobachtet. Sie stand mit halb geöffnetem Mund da, ihr Blick liebevoll, als würde sie selbst von der alten Kuh sauber geleckt oder als sei sie die Kuh, die das Kälbchen sauber leckte. Als alle Körperpartien sauber waren, stemmte das Kleine zitternd die Beinchen in den Boden und kam hoch. Wir stellten Tante eine mit Wasser gefüllte Waschschüssel bereit, suchten nach Seife und Handtuch, damit sie sich die Hände waschen konnte. Meine Oma saß vor dem Herd und entfachte mit dem Blasebalg Feuer, während meine Mutter neben ihr stand und Teig knetete. Nach dem Händewaschen sagte meine Tante: »Ich habe einen Bärenhunger! Heute Abend esse ich bei euch.« Mutter sagte: »Wieso bei euch? Hier bist du doch zu Hause!« »Das stimmt, es ist erst ein paar Jahre her, da langten wir mit unseren Löffeln noch in ein und denselben Wok«, fiel Oma ein, aber schon stand meine Großtante vor dem Hoftor und rief Gugu zum Essen. Gugu rief zurück, sie könne nicht ohne Entgelt bei ihrer Cousine arbeiten und müsse deswegen zum Essen dableiben. »Du wirst schon sehen, dass dir das schlecht bekommen wird! Isst du bei deiner Tante eine Schale Nudeln, wird sie es dir ein Leben lang ankreiden«, rief meine Großtante zurück. Das ließ meine Oma nicht unbeantwortet: »Sag, wenn du Appetit hast, und komm rein! Wenn nicht, geh besser nach Haus.« »Von euch werde ich bestimmt kein Essen annehmen!«, krakeelte meine Großtante. Als die Nudeln fertig waren, füllte Mutter für die Großtante eine große Schüssel voll ab und trug meiner Schwester auf, sie hinüberzubringen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass meine Schwester beim Rennen auf die Nase fiel, die Schale zerbrach und die Nudeln im Dreck landeten. Die Großtante nahm eine Schale aus ihrem Geschirrschrank und gab sie meiner Schwester mit zurück, weil sie nicht wollte, dass meine Schwester ausgescholten wurde. Meine Tante war überaus gesprächig, sie konnte unglaublich gut erzählen, und wir liebten es, ihr zuzuhören. Nachdem sie also ihre Nudeln aufgegessen hatte, sie saß auf dem Herdrand, mit der Schulter an die Wand gelehnt, begann sie zu plaudern. Und es gab viel zu plaudern, hatte sie doch Zugang zu zahllosen Familien gehabt, hatte die unterschiedlichsten Menschen gesehen. Was hatte man ihr nicht alles anvertraut! Sie schmückte ihre Erzählungen reichlich aus, fesselnde Geschichten wie Kapitelromane, die von Berufserzählern zum Besten gegeben werden, bekamen wir zu hören. Als wir Anfang der achtziger Jahre im Fernsehen die berühmte Sprecherin Liu Lanfang Kapitelromane vortragen sahen, sagte meine Mutter: »Haargenau wie deine Tante! Wäre sie keine Ärztin geworden, hätte sie eine berühmte Fernsehsprecherin werden können.« An jenem Abend begann sie ihre Schilderungen mit ihrem mutigen Kampf gegen den japanischen Armeekommandanten Sugitani in Pingdu. »Als ich damals mit eurer Großtante und eurer Uroma nach Pingdu kam, war ich erst sieben«, sie warf mir einen Blick zu, »ungefähr so groß wie der kleine Renner. Ich wurde in ein dunkles Zimmer eingeschlossen, vor der Tür saßen zwei große deutsche Schäferhunde, die mich bewachten. Die Japaner fütterten ihre Hunde mit Menschenfleisch, und die schleckten sich schon das Maul, wenn sie kleine Kinder witterten. Meine Oma und meine Mutter weinten die ganze Nacht, nur ich schlief, kaum lag ich, wie ein Stein bis zum helllichten Tag. Nachdem wir, ich weiß nicht wie viele Tage, in dem dunklen Zimmer eingesperrt gewesen waren, brachten sie uns in den Hof eines separaten Gebäudes. Dort blühte ein blauer Fliederbaum, dem ein so intensiver Duft entströmte, dass ich davon ganz benommen war. Ein Landedelmann in einem langen Gewand mit einem Fedora auf dem Kopf teilte uns mit, dass der Kommandant Sugitani uns zu einem Bankett bitte. Großtante und die Urgroßmutter weinten nur, denn sie trauten sich nicht. Der Edelmann sprach mir gut zu: ›Kleines Fräulein, sag deiner Mutter und Oma, dass sie keine Angst haben sollen. Der Kommandant Sugitani möchte euch nichts zuleide tun. Er möchte nichts weiter, als mit deinem Herrn Vater Wan Liufu Freundschaft knüpfen.‹ Ich erwiderte: ›Mama, Oma, ihr sollt nicht mehr weinen! Wozu soll das Weinen gut sein? Davon wachsen uns keine Flügel. Auch die Tränenfrau Mengjiangnü konnte die Chinesische Mauer nicht niederweinen.‹ Der Mann klatschte in die Hände: ›Bravo! Gut gesprochen, kleines Fräulein! Du kennst dich aus! Wenn du einmal erwachsen bist, wird aus dir sicher eine große Persönlichkeit.‹ Unter meinem Zureden hörten Großtante und Uroma mit dem Weinen auf. Sodann bestiegen wir mit dem Mann einen von einem schwarzen Muli gezogenen Wagen und erreichten nach einer kurvenreichen Fahrt ein Anwesen mit einer mächtigen Toreinfahrt, an der links vom Haupttor ein Inder und rechts davon ein Japaner Wache standen. Wir durchfuhren unzählige Innenhöfe. Vom Haupttor kam man in den ersten Hof, der wieder einen zweiten Hof umgab, der sich wieder auf einen weiteren öffnete und so fort, als würde man niemals alle Höfe bis zum Ende durchmessen können. Zuletzt gelangten wir in einen blumengeschmückten Empfangssalon, Türen und Fenster waren mit floralen Schnitzereien verziert, die geschnitzten Lehnstühle waren aus Sandelholz. Der Kommandant Sugitani trug einen Kimono. In der Hand hielt er einen Ogi, den japanischen Faltfächer. Wie gelassen er seinen Fächer bewegte! Ein Blick genügte, um zu wissen, dass er ein Mann von Bildung war. Er sprach höfliche Worte, nur Floskeln, mit denen er uns zu Tisch, einem großen runden Esstisch, beladen mit Platten von gebratenem Wild und Meeresfrüchten, führte. Uroma und Großtante getrauten sich nicht davon zu essen, mir jedoch war der Japse egal, ich schlug mir den Bauch voll. Als ich mit den Essstäbchen nicht weiterkam, nahm ich für die Suppe den Schaumlöffel und fischte damit die großen Happen aus der Brühe, die ich mir in den Mund stopfte, bis ich zum Platzen satt war. Sugitani, der ein Schnapsglas in der Hand hielt, schaute mir freundlich lächelnd zu. Als ich satt war, packte ich mit beiden Händen das Tischtuch und wischte mir daran die Hände sauber. Da fragte mich Sugitani auch schon: ›Kleines Fräulein, lass deinen Vater hierherkommen, ja?‹ Au wei, was hatte ich mir da eingebrockt! Ich riss die Augen auf und antwortete: ›Das ist keine gute Idee.‹ ›Was sollte daran schlecht sein?‹, fragte er. ›Mein Vater ist Soldat der Achten Route-Armee und du bist Japaner. Die Armee führt mit Japan Krieg. Hast du da keine Bedenken, dass mein Vater dich töten wird?‹« Da angelangt, streifte meine Tante den Ärmel hoch und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Damals gab es in ganz Gaomi gerade mal zehn Armbanduhren und meine Tante trug eine davon. »Wahnsinn!«, stieß mein großer Bruder vor Überraschung hervor. – Von uns hatte bisher nur er eine Armbanduhr zu Gesicht bekommen. Als er die erste Kreismittelschule besuchte, hatte er nämlich einen Russischlehrer, der in Russland studiert und sich von dort eine solche Uhr mitgebracht hatte. – Gleich darauf schrie mein Bruder: »Eine Armbanduhr!« Meine Schwester und ich taten es ihm nach und schrien auch: »Eine Armbanduhr!« Meine Tante schob, als sei es nicht der Rede wert, den Ärmel wieder hinunter: »Was soll die Aufregung? Ist doch nur eine Armbanduhr!« Aber wir wurden nur umso neugieriger. Mein Bruder traute sich als erster zu fragen: »Tante, ich habe die Uhr von Lehrer Ji nur aus der Entfernung gesehen ... kannst du mir deine mal zum Anschauen geben?« Wir riefen mit ihm im Chor: »Tante, wir wollen sie auch anschauen!« »Ach, ihr lästigen Blagen«, lachte meine Tante, »was gibt’s an einer kaputten Armbanduhr schon zu gucken?« Aber sie nahm sie trotzdem vom Arm und reichte sie meinem Bruder. Mutter neben ihm stieß gleichzeitig aus: »Vorsichtig, Junge!« Mein Bruder nahm die Uhr behutsam in die Hand und betrachtete sie eine Weile, um sie sich dann zum Horchen ans Ohr zu halten. Nach ihm war meine Schwester an der Reihe, nach ihr mein zweiter Bruder, doch kaum hatte der sie angeschaut, nahm sie ihm mein großer Bruder, noch bevor er sie ans Ohr halten konnte, wieder weg und gab sie der Tante zurück. Ich hatte sie gar nicht anschauen dürfen und bekam laut weinend einen Wutanfall. Mutter schimpfte und Tante meinte: »Kleiner Renner, wenn du groß bist, ziehst du in die weite Ferne. Da kann es dir doch egal sein, wenn du keine Uhr am Arm trägst.« »Willst du trotzdem eine Uhr tragen? Dann male ich dir morgen eine mit schwarzer Tusche auf deinen Arm«, sagte mein großer Bruder. »Jeder weiß, dass man über einen Menschen nie nach seinem Äußeren urteilen soll. Stille Wasser sind tief! Denkt nicht, aus dem Kleinen Renner wird nichts, nur weil er hässlich ist. Vielleicht steht ihm eine große Zukunft bevor«, sagte meine Tante. Meine Schwester meinte: »Bevor aus dem mal was wird, wird aus unserem Schwein ein Tiger.« Mein Bruder fragte: »Gugu, woher kommt denn die Uhr? Welche Marke ist das?« »Das ist eine Schweizer Enicar.« »Wahnsinn!«, stieß mein Bruder hervor. Mein zweiter Bruder und meine Schwester schrien auch gleich: »Wahnsinn!« Ich schrie wütend: »Fette Kröte!« Mutter fragte: »Cousine, wie viel ist die denn wert?« »Keine Ahnung, hat mir ein Freund geschenkt.« »Welcher Freund schenkt dir so teure Sachen?« Mutter musterte ihre Cousine von der Seite. »Ist das dein Zukünftiger?« Meine Tante erhob sich. »Es geht auf zwölf, wir sollten zu Bett gehen.« Mutter sagte noch: »Dem Himmel sei Dank, Cousine, dass da nun doch noch der Richtige kommt.« »Sag bloß nichts und verschwatz dich nicht! Das sind noch ungelegte Eier!« Die Tante wandte sich uns mit bittendem Blick zu: »Haltet auch ihr bitte dicht, sonst zieh ich euch das Fell ab!« Am andern Morgen malte mir mein Bruder mit seinem Füller eine Uhr auf mein Handgelenk. Er hatte Gewissensbisse, weil er mir am vergangenen Abend Tantes Uhr nicht zum Anschauen herübergereicht hatte. Er malte sie täuschend echt, überaus hübsch. Ich liebte meine Uhr abgöttisch. Beim Waschen passte ich auf, dass sie nicht mit Wasser in Berührung kam. Wenn es regnete, versteckte ich mein Handgelenk im Ärmel. Als die Farbe verblasste, lieh ich mir seinen Füller und malte die Linien nach. Sie blieb drei Monate lang an meinem Arm. 6 Ein Kampfjetpilot hatte meiner Tante die Enicar-Armbanduhr geschenkt. Ein Jetpilot! In der damaligen Zeit! Als wir Kinder das hörten, quakten wir wie die Frösche, und ich schlug am Boden Purzelbäume. Dieses frohe Ereignis berührte nicht allein unsere Familie. Das ganze Dorf war aus dem Häuschen. Alle fanden, meine Tante passe optimal zu einem Jetpiloten. Der Koch Wang aus der Schulkantine war während des Koreakriegs im antiamerikanischen Widerstand und in der Koreahilfe gewesen, er sagte, die Jetpiloten seien aus reinem Gold geschmiedet. Menschen aus Gold? Argwöhnisch fragte ich nach. Schullehrer und Kommunekader, die gerade in der Kantine beim Essen waren, hörten mit, als er mir antwortete: »Was bist du für ein Dummerjan, Kleiner Renner! Ich wollte damit sagen, für die Ausbildung eines Piloten gibt der Staat Unmengen an Geld aus, in Gold aufgewogen sind das siebzig Kilo für einen Piloten.« Wieder zu Haus erzählte ich meiner Mutter, was ich von Koch Wang erfahren hatte. Sie sagte nur: »Beim Himmel! Was setzen wir dem denn vor, wenn er mal mit deiner Tante bei uns zu Besuch kommt?« Damals machte bei uns Kindern der Mythos vom Jetpiloten die Runde. Immer neue Geschichten gingen von Mund zu Mund. Chen Nase erzählte, seine Mutter habe in Harbin sowjetische Jetpiloten gesehen, alle trügen Gamslederjacken, kniehohe Gamslederstiefel, hätten Goldzähne und goldene Uhren, äßen turkmenische Würste aus Lebap und tränken Bier. Der Sohn des für den Brigadekornspeicher zuständigen Xiao Oberlippe parierte, die chinesischen Piloten äßen weit besser als die sowjetischen. Als sei er Jetpilotenkoch, ratterte er uns den Speiseplan chinesischer Piloten herunter: in der Früh zwei Hühnereier, eine Schale Kuhmilch, vier Schmalzkuchen, zwei Dampfnudeln und geschmortes Tofu, mittags eine Schale gesottenes Rindfleisch, einen gelben Fisch, zwei große Klebreisklöße, abends ein Brathühnchen, zwei mit Schweinemett und zwei mit Lammfleisch gefüllte Dampfnudeln, dazu eine Schale Hirsereisbrei. Nach jeder Mahlzeit noch Obst satt, Bananen, Äpfel, Birnen, Trauben, und was man am Tisch nicht aufisst, kann man mit aufs Zimmer nehmen. Pilotenlederjacken haben immer zwei große Taschen, das wisst ihr doch? Die wurden zum Obstmitnehmen entworfen! Wir mussten tüchtig schlucken, so war uns das Wasser im Munde zusammengelaufen. Jeder von uns träumte davon, Jetpilot zu werden und wie ein Halbgott zu leben. Als die Luftwaffe in unsere erste kreisstädtische Mittelschule kam, um Soldaten anzuwerben, war mein großer Bruder ganz aus dem Häuschen und meldete sich sofort zum Auswahlverfahren an. Man konnte wohl sagen, dass Herkunft und gesellschaftliche Stellung meiner Familie extrem vorbildlich waren, denn erstens waren alle in meines Großvaters Familie Landarbeiter beim Großgrundbesitzer gewesen. Opa war Lohnbauer und später Bahrenträger bei der Volksbefreiungsarmee. Er hatte sogar bei der Menglianggu-Schlacht die Tragen geschleppt. Und sein Trupp hatte den gefallenen Zhang Lingfu vom Schlachtfeld herunter ins Tal geschafft. Und zweitens entstammte meine Oma mütterlicherseits ebenfalls einer armen Lohnbauernfamilie, und mein Großonkel war sogar Märtyrer der Revolution. Außerdem war mein großer Bruder die geborene Sportskanone. Er konnte Diskuswerfen. Eines Nachmittags, nachdem er zu Mittag einen fetten Lammschwanz verspeist hatte, war er so energiegeladen wieder in die Schule zurückgekommen, dass er nicht wusste, wohin mit seiner Kraft. Er griff sich eine Diskusscheibe und schmetterte sie weit weg. Sie flog pfeifend über den ganzen Schulhof, über die Schulhofmauer und über den Acker, schnurgerade gegen das Horn eines Ochsen, mit dem ein Bauer gerade pflügte, und trennte das Horn sauber vom Kopf. Klassenherkunft, Schulbildung, ein makelloser Körper, die Fitness meines Bruders, dazu ein Pilotenonkel in spe ... Also bei uns fanden alle, selbst wenn die Luftwaffe nur einen einzigen im Kreis auswählen sollte, so entschiede sie sich hundertprozentig für meinen Bruder. Aber dann fiel er beim Auswahlverfahren durch, der Grund war eine Narbe, die von einem Furunkel, den er als Kind am Bein gehabt hatte, zurückgeblieben war. Unser Schulkantinenkoch Wang meinte: »Eine Narbe am Bein geht gar nicht! Wenn die Piloten im Luftraum sind, platzen die Narben durch den Unterdruck, und das ist noch nicht alles, selbst zwei verschieden große Nasenlöcher sind schon ein Hindernis.« Kurzum, seitdem meine Tante diese Liebesgeschichte mit dem Piloten angefangen hatte, stellten wir bei allem, was irgendwie mit der Luftwaffe zu tun hatte, die Ohren auf. Obwohl heute ein Mann von über fünfzig, bin ich noch so ein Gockel, dass ich mir, wenn ich im Lotto hundert Yuan gewinnen würde, bestimmt ein Megaphon schnappte, um es in der ganzen Stadt herumzuposaunen. Lieber Freund, Sie können sich vorstellen, wie aufgeblasen ich gewesen sein muss, als ich in der Grundschule einen Onkel in spe hatte, der von Beruf Jetpilot war. Im Umkreis unseres Dorfes gab es den fünfundzwanzig Kilometer entfernten Kiaoutschou-Flugplatz und den dreißig Kilometer entfernten Gaomi-Flugplatz. Die Maschinen auf dem Kiaoutschou-Flugplatz waren groß, schwerfällig, schmutzig schwarz. Die Erwachsenen sagten, dort würden die Bomber landen. In Gaomi dagegen landeten Kampfflieger, so eine Art Starfighter von silbergrauer Farbe, die weiße Achten an den blauen Himmel malten und dort kopfüber Purzelbäume schlugen. Mein großer Bruder sagte, das seien die Shenyang J-5, diese Fighter-5, den russischen Jagdfliegern MiG-17 nachempfunden. Es seien richtige Kampfflugzeuge, die im Koreakrieg die North American F-86 so in die Flucht geschlagen hätten, dass die Amis tüchtig die Hosen voll gehabt hätten. Klar, dass unser Onkel in spe diese Kampflugzeuge flog. Damals war China in ziemlicher Kriegsstimmung, die Jäger auf dem Gaomi-Flugplatz hatten täglich Flugübungen. Sie flogen am Himmel über unserm Dorf kopfüber, der Luftraum über unseren Köpfen war ihr Schlachtfeld. Mal flogen sie zu dritt, mal zu sechst. Mal hängte sich eine Maschine einer anderen ans Heck, und sie flogen Zweierloopings. Mal stürzte der Fighter-5 mit dem Bug voran in die Tiefe, so dass das Flugzeug mit der Nase fast die Krone unserer großen Dorfpappel berührte, nur um sofort wieder senkrecht in die Höhe zu schießen und sich wie eine Steppenweihe in den Himmel hinaufzubohren. Eines Tages donnerte es wie eine Bombe vom Himmel herab, so heftig, dass die Erschütterung bei allen Familien die Papierfensterscheiben zerriss. Meine Tante erzählte, dass sie gerade einer im fortgeschrittenen Alter Erstgebärenden und Risikoschwangeren Geburtshilfe gab und – weil alles nichts half – das Skalpell schon in der Hand hatte, bereit, im nächsten Moment zu schneiden. Da hörte sie draußen dieses ohrenbetäubende Donnern. Die Gebärende erschrak so sehr, dass sie abgelenkt war und der Geburtskrampf sich löste. Sie gebar ihr Kind mit einem Ruck. Wir Schüler in der Schule waren vor Schreck wie versteinert. Als wir uns gefasst hatten, liefen wir zusammen mit unserer Lehrerin hinaus und blickten mit gestreckten Hälsen in den strahlend blauen Himmel. Wir sahen einen Flieger, der am Heck ein zylinderförmiges Etwas hinter sich herzog. Hinter ihm her jagte die Fliegerstaffel. Die Staffelflieger pendelten an seinem Heck von links nach rechts und kamen dabei dem Etwas gefährlich nah. Zuerst stießen sie nur vereinzelte Rauchwolken aus. Dann hörten wir lautes Donnern wie Geschützfeuer. Es klang weiter entfernt, nicht wie der erste Knall. Auch besaß es nicht die unmittelbare Gewalt des ersten. Es war das zweitlauteste Geräusch, das ich jemals gehört habe. Dagegen ist das Einschlagen eines Blitzes in eine mächtige Weide und das Auseinanderbersten ihres Stammes nicht der Rede wert. Als hätten die Piloten das Schleppziel, das der Flieger hinter sich herzog, mit voller Absicht nicht abgeschossen, umrundete der weiße Qualm der explodierenden Geschosse es immer nur, bis der Flieger aus unserem Gesichtsfeld verschwunden war. Es gab keinen Treffer. Chen Nase, den wir alle wegen seiner großen Nase Ausländernase nannten, rieb sich seinen Riechkolben und sagte verächtlich: »Chinesische Piloten haben ja überhaupt nichts drauf! Wären das Sowjets gewesen, hätten die ihr Ziel gleich mit der ersten Granate abgeschossen.« Ich weiß, dass Chen Nase das nur sagte, weil er mich um den Onkel in spe beneidete. Er war in unserem Dorf geboren, aufgewachsen, nicht mal einen sowjetischen Hund hatte er je zu Gesicht bekommen. Woher wollte ausgerechnet er wissen, dass die Flugtechnik der Sowjets besser war als die der Chinesen? Wir Landeier hatten natürlich keine Ahnung, dass sich die Beziehungen zwischen China und der UdSSR gerade massiv verschlechterten. Keiner dachte an Politik, niemand vermutete einen Hintersinn, als Chen Nase die chinesischen Piloten durch den Vergleich mit den sowjetischen Flugkünsten schlecht machte, aber wir ärgerten uns sehr darüber. Jahre später, es war der Beginn der Kulturrevolution, wir gingen in die fünfte Klasse, ließ ihn einer unserer Klassenkameraden mit dieser alten Geschichte auffliegen. Nicht nur Chen Nase selbst hatte bitter darunter zu leiden, sondern mehr noch seine Eltern. Sie starben nach schwerer Folter an ihren Verletzungen und bezahlten seine kleine Gedankenlosigkeit mit dem Leben. Man fand bei ihnen zu Hause Boris Polewois Roman Der wahre Mensch, der von einem russischen Luftkampfhelden erzählt, der, obwohl ihm beide Beine amputiert worden waren, als Jagdflieger für die Luftwaffe weiterflog. Eigentlich ein wertvoller, auf Tatsachen beruhender Revolutionsansporn! Er wurde Chen Nases Mutter jedoch zum Verhängnis und brandmarkte sie als Fliegergeliebte der Sowjetimperialisten. Der Bastard Nase musste als Beweis für die Straftat seiner Mutter herhalten, man sagte, er sei mit einem sowjetimperialistischen Kampffliegerpiloten gezeugt worden. Die Jetpiloten der Shenyang J-5 auf dem Gaomi-Flugplatz flogen tagsüber Flugübungen, die der Bomber auf dem Kiaoutschou-Flugplatz wollten nicht im Abseits stehen – sie flogen ihre Übungen nachts. Immer ungefähr um neun Uhr abends – wenn bei uns im Kreis das Kabelrundfunkprogramm zu Ende war – leuchteten auf dem Flugplatz plötzlich die Suchscheinwerfer auf. Der breite Lichtstrahl über dem Luftraum unseres Dorfes schockte uns. Auch wenn er keine scharfen Konturen entstehen ließ und nur alles erhellte, war er unglaublich beängstigend. Wie immer konnte ich meinen Mund nicht halten und tönte: »Wäre spitze, so eine Taschenlampe zu besitzen!« »Idiot!«, rügte mich mein Bruder, während er mir mit dem Zeigefingerknöchel brutal auf den Kopf hämmerte, als wollte er mir Gehorsam einmeißeln. Es lag natürlich an unserem Onkel in spe, dass mein Bruder sich für eine Art Luftfahrtspezialisten hielt. Ohne Stocken zählte er auswendig alle Helden des Freikorps der Luftwaffe mitsamt ihren heldenhaften Taten auf. Er war es auch, der mir, als ich ihm mal wieder Kopfläuse absuchen musste, erklärte, der Knall, durch den unser Fensterscheibenpapier zerrissen worden war, heiße Überschallknall. Man höre ihn, wenn Überschallflugzeuge die Schallmauer durchbrächen. »Was ist Überschall?« »Überschallgeschwindigkeit, du Doofkopf. Das ist, wenn etwas schneller als mit Schallgeschwindigkeit fliegt!« Von den Flugübungen auf dem Kiaoutschou-Flugplatz war nichts als dieses rätselhafte Suchscheinwerferlicht zu bemerken. Es gab Leute, die sagten, es hätte gar keine Luftmanöver gegeben. Die Towerbesatzung hätte mit dem Scheinwerferlicht lediglich von der Flugroute abgekommenen Flugzeugen den Weg gezeigt. Sie suchten damit kreuz und quer das Terrain ab. Mal kreuzten sich die Lichtstrahlen, mal verliefen sie parallel. Mal erschien mitten in einem Lichtstrahl ein Vogel, flatterte verstört im grellen Licht wie eine Fliege, die sich in eine leere Flasche verirrt hat. Wenn die Scheinwerfer aufleuchteten, ertönte vom Himmel jedes Mal das Brummen von Flugzeugmotoren. Dann konnten wir die Umrisse so eines schwarzen Riesenviehs mit Nase, Heck und Tragflächen im Lichtstrom auftauchen sehen. Als rutschte es den Strahl hinab zurück in sein Nest. Flugzeuge mussten doch auch Nester haben. Wie die Hühner! 7 In der zweiten Jahreshälfte 1960, kurze Zeit nach dem Kohlenessen, hörten wir, dass meine Tante den Jetpiloten nun heiraten werde. Die Großtante kam zu uns, weil sie mit meiner Mutter über die Mitgift sprechen wollte. Schließlich beschlossen sie, den großen alten Trompetenbaum vor unserem Haus zu fällen. Unseren Baumgeist! Um aus seinem Holz von unserem allerbesten Tischlermeister Fan ein handgearbeitetes Möbelstück für unsere Tante tischlern zu lassen. Ich sah meinen Vater tatsächlich den Tischlermeister Fan zum Baum begleiten, um dort Maß zu nehmen. Der Baum sah seinem Tod entgegen. Die Zweige zitterten, die Blätter rauschten, als weinte er. Dann hörten wir nichts mehr davon, und meine Tante kam auch nicht mehr zu Besuch. Ich rannte zu meiner Großtante, weil ich von ihr wissen wollte, was los war, wurde aber mit dem Gehstock unwirsch aus dem Haus gejagt. Da merkte ich erst einmal, dass sie den bösen Wehmüttern ähnelte, von denen meine Tante immer erzählt hatte. Als ich in jenem Jahr frühmorgens nach dem ersten Schneefall, die aufgehende Sonne stand tiefrot am Horizont, barfuß in Strohschuhen auf dem Weg zur Schule war, fror ich erbärmlich an Händen und Füßen. Auf dem Schulhof rannten wir wild umher und kreischten, damit uns warm wurde. Plötzlich war da ein Donnern, was uns panische Angst einjagte. Mit offenen Mündern starrten wir auf ein dunkelrotes riesiges Ungetüm, das eine dreckige Rauchwolke hinter sich herzog und sich mit roten Riesenaugen, gebleckten weißen Raubtierzähnen, am ganzen Leib zitternd auf uns stürzte. »O Schreck! Ein Flugzeug! Es will doch nicht auf unserem Schulhof landen?« Wir hatten nie zuvor aus dieser Nähe ein Flugzeug gesehen. Der Wind, den die Tragflächen aufrührten, wirbelte auf dem Hof Hühnerfedern und Laub auf. »O, bitte, bitte, lande auf unserem Schulhof!« Dann könnten wir uns das Flugzeug genau anschauen und es mal befühlen. Mit etwas Glück dürften wir sogar hineinkriechen und drinnen ein bisschen Spaß haben. Vielleicht könnten wir den Piloten bitten, ein paar Geschichten vom Luftkampf zu erzählen. Der ist bestimmt mit meinem Onkel in spe befreundet. Oder auch nicht, denn die Tiger-5, die mein Onkel in spe fliegt, ist um ein Vielfaches hübscher als dieses Ungetüm. Mit einem, der so eine schwerfällige Maschine fliegt, fängt er bestimmt keine Freundschaft an. Aber man muss schon sagen, mit so einem Flieger abzuheben, muss affenscharf sein! Wer mit so einem Panzerblechklotz sicher in den Luftraum abhebt, ist ja wohl ein Held. Ich hatte das Gesicht des Piloten nicht gesehen. Aber nach dem Unglück sagten mir eine ganze Reihe meiner Mitschüler – sie schworen bei ihrer Ehre – dass sie durch die Glasscheibe des Cockpits das Gesicht des Piloten gesehen hätten. Also, dieses Flugzeug, von dem ich angenommen hatte, dass es hundertprozentig auf unserem Schulhof landen würde, zog noch einmal, wie unfreiwillig, die Nase hoch und schwenkte ruckartig nach rechts. Mit dem Rumpf streifte es die Krone der großen Pappel am Ostrand unseres Dorfes und bohrte dann den Bug in eines der Weizenfelder. Wir hörten einen Riesenknall. Der war noch weitaus lauter als der Überschallknall beim letzten Mal. Wir spürten den Erdboden unter uns erzittern. Die Ohren summten uns. Es tanzten Sternchen vor unseren Augen. Kurz darauf schlug inmitten von dichtem Qualm eine dunkelrote Flammensäule zum Himmel empor. Die Sonne wurde für einen Augenblick purpurfarben. Ein unangenehmer Geruch, der jedem den Atem nahm, stach uns in die Nase. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis wir wieder bei Sinnen waren. Wir rannten jedenfalls sofort Richtung Osten zum Dorf hinaus und am Dorfrand immer die Dorfstraße entlang. Wir spürten die sengenden Hitzewellen mordenden Feuers. Das Flugzeug war durch die Detonation geborsten, überall verstreut lagen Flugzeugteile, eine Tragfläche steckte senkrecht im Feld und brannte. Wie eine Fackel! Das ganze Weizenfeld stand in Flammen, es roch nach verbranntem Leder. Schon wieder ein alles erschütternder Knall, Koch Wang, der Erfahrung hatte, brüllte schrill: »Alle auf den Bauch!« Wir warfen uns augenblicklich zu Boden und krochen unter Wangs Anleitung wieder zurück. »Kriecht schneller, an den Flugzeugtragflächen sind Bomben festgemacht!« Nach dem Bomberabsturz wussten wir, dass an einen Tragflügel vier Bomben gehängt werden können. An jenem Tag hatte der Bomber nur zwei. Er war mit leichter Bewaffnung geflogen. Wären es vier gewesen, wäre von uns nichts mehr übrig gewesen. Als am dritten Tag nach dem Unglück mein Vater und die anderen Männer aus dem Dorf mit den Schubkarren aus Gaomi zurück waren – in den Karren hatten sie die Leichen- und Flugzeugteile von der Unglücksstelle zum Flugplatz von Gaomi geschoben –, kam mein Bruder völlig außer Atem angerannt. Mein Spitzensportlerbruder war ohne Pause von der ersten Kreismittelschule in Gaomi dreiunddreißig Kilometer am Stück nach Hause gerannt. Dreiunddreißig Kilometer sind ja fast Marathonlänge. Er stürzte zum Tor herein auf den Hof und sagte nur ein Wort: »Tante ...«, dann fiel er kopfüber zu Boden, spuckte weißen Schaum, verdrehte die Augen und wurde ohnmächtig. Die ganze Familie umringte ihn, zupfte am Philtrum, kniff ihm in den Daumen-Zeigefingerspann, klopfte ihm die Brust. »Was ist mit deiner Tante?« »Was ist mit Tante?« Endlich kam er doch wieder zu Bewusstsein, kniff aber nur die Lippen zusammen und fing an, laut zu weinen. Mutter schöpfte aus der Tonne eine Kelle Wasser, gab ihm davon zu trinken und schüttete ihm den Rest ins Gesicht. »Sag schon, was ist mit der Tante?« »Tantes Pilot ist in einem Flugzeug ... in den Westen abgehauen ...« Mutters Porzellankelle fiel zu Boden und zerbrach. »Wohin ist der geflohen?«, fragte Vater. »Na, wohin schon! Nach Taiwan natürlich«, dabei wischte sich mein Bruder mit dem Ärmel übers Gesicht. Zähneknirschend sagte er: »Verräter! So ein Schuft, fliegt nach Taiwan und verkriecht sich bei Chiang Kai-shek!« »Was ist mit deiner Tante?«, fragte Mutter. »Von der Polizei in Gaomi abgeführt«, sagte mein großer Bruder. Meiner Mutter schossen die Tränen in die Augen. Wir sollten bloß der Großtante nichts davon sagen und auch anderswo nichts ausplaudern. »Als wenn wir da noch was sagen müssten! Das weiß längst der ganze Kreis.« Mutter holte einen großen Kürbis aus dem Haus und gab ihn meiner Schwester zum Tragen: »Komm, wir besuchen deine Großtante.« Nur ein paar Minuten waren vergangen, da kam meine Schwester wieder angerannt. Noch während sie auf den Hof lief, schrie sie unserer Oma entgegen: »Oma, komm schnell! Mama sagt, du musst schnell kommen. Die Großtante ist weg!« 8 Kürzlich wurde Xiangqun, der Jüngste meines Bruders, von der Luftwaffe als Pilot angeworben. Es sind zwar vierzig Jahre verstrichen, wir haben völlig andere Zeiten und, wie schon das Sprichwort sagt, auch blaues Meer kann sich zu grünen Maulbeerhainen wandeln. Heutzutage ist vieles, weswegen früher die Köpfe rollten, nur noch einen Witz wert. Das betrifft auch viele Berufe, die damals Neid und Bewunderung erregten. Sie gelten heute als niedere Arbeiten und ernten nur noch Verachtung, aber als Fliegerpilot angeworben zu werden, ist immer noch etwas, weswegen die ganze Sippe in Aufregung gerät und worum einen alle Nachbarn beneiden. Um diesen zukünftigen Jetpiloten zu feiern, kehrte mein inzwischen von seinem Posten als Amtsleiter der Schulbehörde in den Ruhestand versetzter großer Bruder extra aus der Stadt zurück und gab ein Bankett für alle Verwandten und Freunde. Das Festessen wurde im Hof des Hauses meines zweiten Bruders aufgebaut. Aus dem Zimmer führten sie ein Stromkabel heraus, an dem sie eine starke Glühlampe anschlossen, die den Hof in blendendweißes Licht tauchte. Sie hatten zwei Esstische zusammengeschoben, woran dicht gedrängt zwanzig Stühle gestellt wurden. Wir saßen alle Schulter an Schulter. Unmengen verschiedener Speisen hatte mein Bruder aus dem Restaurant kommen lassen: Bunte Platten mit Wild- und Meeresspezialitäten, Huhn, Ente, Rind- und Schweinefleisch stapelten sich auf den Tischen. Meine Schwägerin wünschte allen in ihrem unverständlichen Yantaier Dialekt einen guten Appetit: »Wir haben gar nichts Besonderes bestellt. Fangt bitte an und lasst es euch schmecken!« Mein Vater sagte: »Nun sag das mal nicht! Erinnere dich an 1960, da konnte sich selbst der Vorsitzende Mao solches Essen nicht leisten.« Mein für die Pilotenausbildung ausgewählter Neffe erwiderte: »Nicht schon wieder die alten Kamellen, Opa!« Als wir alle die dritte Runde Schnaps intus hatten, sagte mein Bruder: »Nun hat unsere Familie also doch noch einen Jetpiloten hervorgebracht! Als ich damals den Aufnahmetest mitmachte, haben sie mich wegen einer Narbe am Bein nicht genommen, und nun lässt Xiangqun den Traum unserer Familie wahr werden.« Xiangqun verzog den Mund: »Ach was, Piloten sind nichts Besonderes. Die, die es wirklich drauf haben, sind die hohen Kader. Die machen die fette Kohle!« »So darf man nicht reden. Unsere Jetpiloten«, Vater leerte sein Schnapsglas mit einem Zug und stellte es geräuschvoll auf dem Tisch ab, »sind die Drachen und Phönixe unter den Menschen. Das war was, als sich deine Großtante ihren Jetpiloten Wang Xiaoti aussuchte! Den hättste mal sehen sollen! Der stand fest auf dem Boden wie eine Föhre, saß schwer auf dem Stuhl wie eine Bronzeglocke und bewegte sich mit der Wucht eines brüllenden Tigers. Wenn er nicht diesen Aussetzer mit Taiwan gehabt hätte, wäre der jetzt Befehlshaber der Luftwaffe. Davon kannst du ausgehen!« »Ach so?«, fragte Xiangqun erstaunt. »Und ich dachte die ganze Zeit, Tantes Mann modelliert Glückskinder aus Ton. Wo kommt denn da plötzlich ein Jetpilot her?« »Das sind nun wirklich alte Kamellen! Lass uns nicht wieder davon anfangen«, erwiderte mein großer Bruder, aber Xiangqun ließ nicht locker: »Kommt nicht in Frage! Ist ja affengeil! Tantes Wang Xiaoti setzt sich mit dem Flieger nach Taiwan ab. Danach frage ich meine Großtante.« »Sei nicht auf Nervenkitzel aus, wenn du fliegen willst. Der Mensch muss patriotisch sein. Wenn du bei der Armee bist, ist das noch viel wichtiger als bei den Zivilisten, und wenn du Pilot bei der Luftwaffe bist, musst du noch mal doppelt so viel Patriotismus im Leib haben. Meinetwegen sei ein Dieb, überfalle Leute und werde ein Räuber, morde, brandschatze ... will sagen, sei alles, aber sei kein Verräter! Kein Landesflüchtiger, der ab in den Westen macht! Den Fluch des Verräters werden wir über Generationen nicht mehr los. Damit nimmt es kein gutes Ende ...« »Ich seh schon, ich habe dich richtig ins Bockshorn gejagt! Aber Taiwan gehört«, sagte der ehrlose Xiangqun, »doch zum Vaterland. Da kann man doch mal rüberfliegen und sich umschauen.« »Untersteh dich! Dann werd du lieber gar nicht erst Pilot, wenn du solche Ideen hast«, sagte meine Schwägerin. »Warte, ich telefoniere gleich mit Liu, dem Chef der bewaffneten Truppe, und sag ihm schon mal Bescheid, dass du es dir anders überlegt hast.« »Reg dich ab, Mama! Ich bin doch noch nicht verrückt!«, sagte meine Neffe, »Wie käme ich dazu, nur an mein eigenes Glück zu denken und euch einfach im Stich zu lassen! Dazu kommt, dass die sich doch längst verbrüdert haben. Wenn ich rüberfliege, müssten die Taiwaner mich wieder zurückschicken.« »So klingt das Wort eines echten Wan!«, warf mein Bruder ein. »In unserer Familie benehmen sich die Männer wie ganze Kerle und sind keine Loser wie diese Memme von Wang Xiaoti. Der hat doch das Leben meiner Tante zerstört!« »Wer redet da über mich?« tönte es laut, als die Tante das Hoftor aufdrückte und ohne Zögern eintrat. Sie blinzelte, weil das helle Licht sie blendete. Deswegen drehte sie sich weg und setzte erst mal die Sonnenbrille auf. Sah cool aus, aber auch lächerlich. »Wozu braucht ihr zum Essen diese Staatsbeleuchtung? Eure Großtante sagte immer: Auch wenn ihr im Stockdunkeln esst, das Essen schaufelt ihr euch noch lange nicht in die Nase. Strom wird aus Kohle gewonnen, von Menschen in tausend Metern Tiefe unter Tage abgetragen, in der leibhaftigen Hölle! Geldgierige Regierungsangestellte, korrupte Beamte und Grubenherren achten die Bergleute weniger als einen Dreck. Deswegen klebt an jedem Kohlenstück noch frisches Blut!« Die Tante stemmte, während sie sprach, die rechte Hand in die Hüfte und zeigte mit dem linken Zeige- und Mittelfinger anklagend auf die Lampe. Angezogen war sie mit einer in den Siebzigern schwer modernen Militärkaderuniform aus Polyethylen. Die Ärmel trug sie hochgekrempelt. Sie hatte einen massigen, großen Körper und schlohweißes Haar. Wie ein Kreiskommunekader während der Kulturrevolution sah sie aus. Ich wurde von widerstreitenden Gefühlen übermannt. Wie konnte meine lotusblütengleiche Tante sich so verändert haben? Als besprochen worden war, ob man sie zu dem Festessen einladen sollte oder nicht, waren mein großer Bruder und meine Schwägerin hin- und hergerissen gewesen. Sie hatten sich mit meinem Vater beraten, der einen Moment gezögert, dann aber entschieden hatte: »Wir werden es besser sein lassen. Außerdem wohnt sie ja nicht mehr bei uns im Dorf ... Wir können es ihr später immer noch sagen.« Alle fühlten sich wie ertappt, als die Tante so plötzlich erschien. Peinlich berührt erhoben sie sich von ihren Stühlen. Alle waren verblüfft. »Da kämpfe ich mich all die Jahre allein durchs Leben und komme endlich wieder nach Haus, und ihr bietet mir nicht mal einen Stuhl an?« Tantes Ton war bissig. Alle reagierten auf der Stelle, und es entstand ein Tumult, weil ihr jeder gleichzeitig seinen Stuhl freimachte. Mein großer Bruder und seine Frau erklärten wieder und wieder: »Wir haben doch als erstes an dich gedacht, wollten dich einladen. Der Ehrenplatz von uns Wans gebührt immer und zuallererst dir! Daran wird sich nie und nimmer etwas ändern!« »Also ich muss schon sagen«, Tante Gugu ließ sich schwer auf den Platz neben meinen Bruder fallen, »da hast du den Mund zu voll genommen. Solange dein Vater am Leben ist, bin ich bestimmt nicht an der Reihe, den Ehrenplatz auf dem Lehnstuhl einzunehmen. Und wenn dein Vater eines Tages von uns geht, werde ich auch nicht auf den Ehrenplatz gebeten werden. Denn verheiratete Töchter sind wie auf dem Hof weggeschüttetes Wasser. Da bist du sicherlich mit mir einer Meinung, nicht wahr, lieber Neffe?« »Du bist nicht – wie die anderen Mädchen – einfach nur eine Tochter! Du bist eine besonders verdienstvolle Persönlichkeit unserer gesamten Großfamilie!« Mein Vater zeigte auf jeden einzelnen der am Tisch Sitzenden. »Schau dir doch die Jüngeren in unserer Familie an. Da ist keiner dabei, den du nicht auf die Welt geholt hast.« »Ein ganzer Kerl rühmt sich nicht vergangener Großtaten. Sich an frühere Zeiten zu erinnern, darüber zu sprechen, ist unnötig. Aber nun lasst uns trinken«, meinte meine Tante. »Wie kommt’s, dass ich nicht mal ein Schnapsglas bekomme, wo ich den Schnaps sogar noch mitbringe!« Sie fischte eine Flasche Maotai aus ihrer geräumigen Jackentasche und stellte sie mit einem lauten Knall auf den Tisch: »Hier! Fünfzig Jahre alter Maotai, von einem hohen Tier aus Tinglan geschenkt gekriegt! Seine achtundzwanzig Jahre jüngere Geliebte war fest entschlossen, einen Jungen zur Welt zu bringen. Sie wollte meine Hilfe, denn ich hätte doch ein Geheimrezept, könnte einen Mädchenfötus gegen einen Jungenfötus austauschen. Ich sollte das unbedingt für sie machen. Ich sagte zu der Geliebten des Regierungskaders, das seien doch Betrügereien von Quacksalbern. Aber sie wollte es nicht glauben, bestand auf meiner Hilfe, nicht lebendig, nicht tot würde sie von der Stelle weichen, in Tränen aufgelöst bettelte sie mich an, fast auf Knien. Die Ehefrau ihres Liebhabers habe nur zwei Mädchen zur Welt gebracht. Wenn sie nun einen Jungen bekäme, werde er seine Frau doch bestimmt verlassen, dann sei er der ihre, sei sie siegreich ... Dieser Kader ist ein ziemlicher Macho. Feudalistische Ansichten hat der. Man sollte von so hohen Beamten einen höheren Bewusstseinstand erwarten können. Pfui Teufel!« Gugu hatte sich in Fahrt geredet. »Geld von diesen Kadern ist kein ehrlich verdientes Geld! Wen sonst, wenn nicht diese Typen ausnehmen! Also habe ich ihr Kräutermedizin verordnet. Ich habe ihr neun Portionen zusammengestellt: Angelica Sinensis, Yamswurzeln, Fingerhut, Süßholz. Es sind billige Kräuter, die Handvoll nicht mehr als ein paar Pimperlinge. Zusammen hat das gerade mal dreißig Yuan gekostet. Ich habe ihr für jede Portion hundert Yuan abgenommen. Sie hat sich jedes Mal sehr gefreut, ist zu ihrem kleinen roten Coupé zurück gewatschelt und wie der Wind verschwunden. Heute Nachmittag ist dieser Regierungsbeamte mit seiner Geliebten bei mir zu Besuch gewesen, sie haben mir ihren kräftigen Jungen gezeigt. Die teuren Zigaretten und den teuren Schnaps haben sie als Dankesgeschenk mitgebracht. Sie hat gesagt, sie hätte nie im Leben einen so strammen Jungen bekommen, wenn sie meine Wundermedizin nicht eingenommen hätte.« Gugu lachte aus vollem Hals, griff sich meinen Bruder und geleitete ihn würdevoll vor die gefüllten Schnapsgläser an ihren Platz. »Komm, trink! Auf ex!«, dann schlug sie sich auf die Schenkel, dass es krachte. »Heute bin ich so was von gut drauf! Was haltet ihr von den Kadern? Wie kann es angehen, dass die so strohdumm sind? Ein bisschen was gelernt haben sollten die doch? Das Geschlecht des Fötus austauschen? So ein Quatsch! Wenn ich so allmächtig wäre, hätte ich doch längst den Nobelpreis für Medizin bekommen. Gießt mir Schnaps ein!« Sie pochte mit dem Schnapsglas auf den Tisch. »Den Maotai lasse ich zu, den heben wir für meinen Schwager auf.« »Nein, bloß nicht«, beeilte sich mein Vater zu protestieren, »so ein Schnaps ist für meinen Magen reinste Verschwendung«, aber Tante hatte ihm die Flasche schon in die Hand gedrückt. »Wenn ich dir Schnaps schenke, dann trink ihn auch.« Vater befühlte das Flaschenetikett. »Wie viel kostet so eine Flasche?«, fragte er vorsichtig. »Mindestens achttausend Yuan musst du dafür hinblättern! Er ist aber kürzlich schon wieder teurer geworden.« »Um Himmels willen! So viel darf doch Schnaps nicht kosten! Selbst das Blut von Phönix und Drache ist nie im Leben so viel Geld wert. Eine Flasche Schnaps kann doch nicht zehntausend Pfund Weizen wert sein! Ein volles Jahr lang Knochenarbeit im Schweiße meines Angesichts reicht nicht einmal für eine halbe Flasche Schnaps.« Vater gab meiner Tante den Schnaps zurück. »Den nimm mal lieber wieder mit. So was trinke ich besser nicht. Sonst ereilt mich noch ein früher Tod.« Meine Tante gab zurück: »Wie gesagt, wenn ich dir Schnaps schenke, dann trink ihn auch. Außerdem weißt du, dass ich selber dafür kein Geld ausgegeben habe. Wenn wir ihn nicht trinken, wer denn dann? Wir sollten ihn, wo er doch umsonst ist, nicht verkommen lassen. Wie damals bei den Japsen zum Festessen in Pingdu. Hätten wir es nicht gegessen, wer hätte es sonst gegessen? Wäre doch schade drum gewesen, wo es umsonst war!« Mein Vater sagte: »So weit, so gut, es mag vernünftig sein, ihn auszutrinken, wo er nun mal hier ist. Aber wenn man mal drüber nachdenkt. Wo ist die Berechtigung, für so ein bisschen Feuerwasser so viel Geld zu verlangen?« »Schwagerherz«, erklärte meine Tante, »da hast du etwas Wesentliches nicht verstanden. Ich kann dir versichern, dass keiner, der diesen Schnaps trinkt, ihn mit seinem eigenen Geld bezahlt. Bezahlt man aus eigener Tasche, kann man sich nur billigen Fusel leisten.« Sie hob ihr Schnapsglas und leerte es wieder in einem Zug. »Wie lange kannst du mit deinen über achtzig Jahren noch nach Herzenslust trinken?« Sie schlug sich wie ein Recke auf den Brustkorb, um heldenmütig zu verkünden: »Jetzt wird eure große Schwester euch Frischgemüse mal was verraten: Von heute an versorge ich euren Vater mit Maotai-Schnaps! Angst kennen wir doch nicht! Früher fürchteten wir zuerst die Wölfe, danach die Tiger, je größer die Furcht, umso früher sahen wir überall Gespenster. Gießt mir Schnaps nach! Kapiert ihr das nicht? Schnaps ist niemals zu schade zum Trinken!« »Du hast ja recht, Gugu! Lass uns einen heben!« »Wenn wir jetzt um die Wette trinken, Kinder, werdet ihr merken, dass ich nichts mehr vertrage«, meinte sie traurig. »Wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals diese Bastarde aus der Volkskommune unter den Tisch gesoffen habe. Die ganze Bande dieser alten Teufel, die mich lächerlich machen wollten. Und? Ich habe sie alle abgefüllt, bis ihnen die Finger steif wurden und sie unter den Tisch krochen und bellten wie die Hunde. Los, ihr Grünschnäbel! Ex und hopp!« »Tante, iss doch was dazu!« »Wozu! Ein richtig trinkfester Bursche braucht kein Essen zum Schnaps! Ihr hättet damals euren Großonkel sehen sollen! Der konnte wirklich trinken! Der trank einen halben Krug Gaoliang-Schnaps zu einer Stange frischer Frühlingszwiebeln. Der hätte doch nicht erst gegessen! Ihr seid wohl nur zum Essen hier? Könnt ihr überhaupt trinken? Schwagerherz!« Gugu war in Fahrt gekommen. Sie klopfte Vater auf die Schulter und öffnete ihren obersten Blusenknopf: »Wenn ich sage, dass du trinken sollst, dann trink auch mit mir. Nur wir beide sind aus unserer Generation noch am Leben. Lass uns essen und trinken! Wozu noch was aufheben? Nicht ausgegebenes Geld ist wertlos wie Papier. Man merkt erst, dass man Geld hat, wenn man es ausgibt. Geldsorgen haben wir keine, denn wir haben ein Handwerk gelernt! Die hohen Tiere werden genauso krank wie wir. Es spielt keine Rolle, wer du bist und wie hoch dein Rang ist. Wenn die da oben krank werden, brauchen sie unsere Dienste wie jeder andere Kranke auch. Und wenn’s gewünscht wird«, die Tante lachte schallend, »tauschen wir auch mal das Geschlecht eines Fötus aus.« »Was, wenn jemand deine Wunderkräuter einnimmt und trotzdem ein Mädchen zur Welt bringt?« Mein Vater war äußerst besorgt. »Da hast du nicht verstanden, was ein Arzt der chinesischen Medizin macht. So ein TCM-Arzt ist immer ein halber Astrologe. Ein Astrologe dreht es immer so, dass der Beratene, Behandelte selbst am Zuge ist, er würde sich niemals die Schlinge um den eigenen Hals legen.« Mein Neffe Xiangqun ergriff schnell die Gelegenheit, als Gugu sich eine Zigarette anzündete: »Großtante, erzähl doch bitte die Geschichte von deinem Jetpiloten! Vielleicht krieg ich ja eines Tages Lust und fliege mal nach Taiwan rüber, um ihn zu besuchen!« »Gleich setzt’s was!«, rief mein großer Bruder und »Dreist ohne Ende!«, fiel meine Schwägerin ein. Gugu war geübt im Rauchen, weißer Zigarettenqualm umwölkte ihr locker aufgestecktes Haar. Sie leerte ihr Glas bis auf den Grund. »Denke ich heute daran zurück, hat er mich zwar ins Verderben gestürzt, andererseits wieder hat er mich gerettet!« Sie zog ein paar Mal kräftig an ihrer Zigarette und schnippte die Kippe mit dem Mittelfinger in hohem Bogen davon. Die flog glühend in einer dunkelroten Kurve weit hinauf bis ins Weintraubenspalier. Gugu stand auf: »Ich bin dicht. Für mich ist die Feier zu Ende. Ich geh nach Haus.« Sie schob ihren massigen, großen Körper torkelnd zum Hoftor hinaus. Wir beeilten uns, hinterherzurennen, um ihr zu Hilfe zu kommen. »Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich wirklich betrunken bin? Nee, so weit ist es noch nicht mit mir. Ich bin trinkfest bis zum tausendsten Glas.« Vor dem Tor sahen wir ihren Mann Hao Dashou, Große Hand, der vor einigen Tagen eine Ehrung als »Chinesischer Großmeister der kunstgewerblichen Volkskunst« bekommen hatte. Still hatte er dort gestanden und auf seine Frau gewartet. 9 Im Übrigen, verehrter Freund Sugitani-san, kam mein Neffe anderntags mit dem Moped aus der Kreisstadt angefahren, nur um in Begleitung seines Vaters seine Großtante zu besuchen, damit sie ihm diese Geschichte über Wang Xiaoti erzählte. Mein Bruder lächelte gezwungen. »Besser, wir lassen das. Deine bald achtzigjährige Großtante quält sich schon ihr ganzes Leben damit herum. Immer hatte sie es schwer. Wir rühren deswegen besser nicht an solch alte Kamellen, denn es brechen nur alte Wunden wieder auf. Dazu kommt, dass sie darüber vor deinem Großonkel nicht gut reden kann.« »Xiangqun«, sagte ich, »dein Papa hat recht. Aber ich kann dir, wenn dich diese Geschichte interessiert, alles erzählen, was ich darüber weiß. Eigentlich brauchst du nur im Internet nachzuschauen, um nachvollziehen zu können, was damals passierte.« Weil ich schon immer vorgehabt habe, über meine Tante einen Roman zu schreiben – obschon ich diesen Plan inzwischen verworfen habe und nur ein Theaterstück über sie schreiben werde –, habe ich Wang Xiaoti von Beginn an als einen wichtigen Protagonisten eingeplant. Zwanzig Jahre vorbereitende Recherche habe ich bislang investiert. Ich habe, um möglichst viele Beteiligte zu interviewen, unendlich viele Beziehungen geknüpft. Ich bin extra zu den drei Flughäfen gefahren, auf denen Wang Xiaoti Staffel geflogen ist, bin in seiner Heimat Zhejiang gewesen, habe mit einem Kriegskameraden aus seiner Jagdfliegerstaffel gesprochen, habe seinen Staffelkapitän und den stellvertretenden Kommodore, Oberstleutnant des Jagdgeschwaders, befragt, bin sogar in so einen Jagdflieger des Typs Shenyang J-5, wie er ihn flog, hineingestiegen und habe mit dem Leiter der Sondereinheit für die Abwehr antikommunistischer Machenschaften und dem Sektionschef des Sicherheitsdienstes im Kreisgesundheitsamt gesprochen. Man kann getrost behaupten, dass ich über Wang Xiaoti besser Bescheid weiß als jeder andere. Bedauerlich ist nur, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Deinem Vater dagegen hatte deine Großtante mal erlaubt, sich vor der Vorstellung im Kino zu verstecken, um mit eigenen Augen zuzusehen, wie die beiden Hand in Hand in das Kino kamen. Sein Sitzplatz war dann unmittelbar neben dem Wang Xiaotis gewesen. So hatte dein Vater ihn uns später beschrieben: Einsfünfundsiebzig groß, vielleicht auch einssechsundsiebzig, blitzsaubere weiße Haut, langes, schmales Gesicht, kleine, aber sehr lebendige Augen, dazu gerade, strahlendweiße Zähne. An jenem Abend hätten sie den sowjetischen Film Wie der Stahl gehärtet wurde gezeigt, eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Nikolai Ostrowski. Zuerst habe er heimlich hinübergeschielt, ob die beiden sich wohl anfassten. Aber dann habe die Revolutions- und Liebesgeschichte auf der Leinwand ihn voll in ihren Bann gezogen. Damals habe es viele Brieffreundschaften zwischen sowjetischen und chinesischen Schülern gegeben. Das sowjetische Mädchen, mit dem sich dein Vater Briefe schrieb, hatte haargenau wie das Mädchen im Film Tonja geheißen. Deswegen hatte dein Vater, versunken in die Liebesgeschichte auf der Leinwand, vergessen, dass das Wichtigste im Leben immer die persönliche Berufung und die eigene Mission sind. Aber ein bisschen hatte es doch genutzt, dass er ins Kino mitgekommen war. Vor der Vorstellung hatte er den Jetpiloten gesehen und in der Pause zum Rollenwechsel, damals arbeiteten die Vorführer in den Kinos nur mit einem einzigen Projektor, hatte er ihn noch einmal gesehen. Er hatte den Bonbonduft aus seinem Mund gerochen, natürlich auch den Geruch der anderen, die geräuschvoll Melonenkerne und Erdnüsse knabberten. Damals durfte man in den Kinos essen. Alles, mit oder ohne Schalen. Die Füße wateten durch eine dicke Schicht von Bonbonpapier, Erdnuss- und Melonenschalen. Als die Zuschauer den Kinosaal geräumt hatten, als der Jetpilot sein Fahrrad herbeigeholt hatte, um deine Großtante nach Hause in das Wohnheim der Krankenstation des Gesundheitsamts zu bringen, damals war sie vorübergehend ins Gesundheitsamt versetzt worden, sagte sie verschmitzt, während die drei im erleuchteten Eingangsbereich des Kinos standen: »Wang Xiaoti, ich will dir jemanden vorstellen!« Aber dein Papa hatte sich hinter einer Säule im Foyer versteckt und mochte sich nicht sehen lassen. »Wen?« Neugierig reckte Wang Xiaoti den Hals. »Wo denn?« »Wan Mund, komm mal!« Erst jetzt kam dieser geduckt hinter der Säule zum Vorschein. Er war schon damals fast genauso groß wie Wang Xiaoti, dabei dürr wie eine Bambusstange. Was das Diskuswerfen angeht – die Sache mit quer über den Schulhof, raus übers Feld und dann einem Ochsen das Horn gespalten –, war ja wohl die Hälfte dazu gedichtet und hauptsächlich Selbstlob. Sein Haar sah aus wie Kraut und Rüben ... »Das ist mein Neffe, Wan Mund«, stellte ihn deine Großtante vor. Der Jetpilot klopfte ihm auf die Schulter, dass es krachte: »Hi! Kumpel und Neffe in spe! Bist wohl gekommen, um auszuspionieren, ob ich auch der Richtige bin? Wan Mund! Einen Supernamen hast du!« Er reichte ihm die Hand: »Komm Junge, erst mal kennenlernen. Ich bin der Wang Xiaoti.« Dein Vater fühlte sich unerwartet geschmeichelt und schüttelte die dargebotene Hand auf und ab, auf und ab. Mit voller Kraft. Später besuchte er Xiaoti auf seinem Flugplatz und durfte mit ihm zusammen in der Kantine der Flugzeugbesatzung essen. Da gab es Riesengarnelen, Kung-Pao-Hühnchen, Lilienblüten-Rührei und gedämpften, schneeweißen polierten Reis, und er durfte davon essen, so viel er wollte. Wie wir ihn darum beneideten! Na klar, dass wir stolz waren! Nicht nur wegen Wang Xiaoti. Auf deinen Vater war ich stolz! Der war doch mein Bruder! Mein Bruder hatte mit den Jetpiloten in ihrer Kantine zu Mittag gegessen! Wang Xiaoti schenkte ihm sogar eine Mundharmonika. Marke Skylark, eine ziemlich feine Marke war das. Dein Vater sagte, der Wang Xiaoti sei ein Tausendsassa, Basketball spiele er auch sehr gut, seine Korbleger, Jump-in- und Unterhandkorbleger sähen super aus. Er konnte nicht nur Mundharmonika spielen, auch dem Schifferklavier entlockte er schöne Musik, seine mit dem Füllfederhalter geschriebene Handschrift war einwandfrei, eine Begabung für die Malerei hatte er auch. Dein Vater erzählte, er habe mit Reißzwecken ein selbstgezeichnetes Bleistiftporträt an seine Wand gepinnt, das deine Großtante zeigte. Wang Xiaotis familiärer Hintergrund war erst recht tadellos, sein Vater war ein hoher Kader, seine Mutter Universitätsprofessorin. Warum haut so einer mit einem Jet nach Taiwan ab und wird zu einem allseits verachteten Verräter? Sein Staffelkapitän sagte, Wang Xiaoti sei mit der Maschine in den Westen abgehauen, weil er heimlich den feindlichen, taiwanischen Radiosender gehört habe. Er habe ein Halbleiter-Kurzwellenradio besessen, mit dem er Sendungen aus Taiwan habe empfangen können. Die betörende Stimme der Ansagerin beim Sender der KMT habe den Spitznamen »Röslein in der Nacht« gehabt. Sie sei total unter die Haut gegangen. Wahrscheinlich habe er sich in diese sexy Stimme verliebt und sei dann deswegen ab in den Westen. Als ob er an meiner herausragenden Tante nicht genug gehabt hätte! »Natürlich war deine Tante in Bezug auf das, was wir damals schön fanden, allererste Wahl!«, gab mir Xiaotis inzwischen seniler Staffelkapitän zu bedenken. »Sie hatte diesen fantastischen familiären Hintergrund, war dazu Parteimitglied, ebenmäßig gebaut und gut anzuschauen. Wer von uns beneidete Wang Xiaoti nicht? Aber deine Tante war zu anständig, zu ehrlich, zu revolutionstreu. So einem bourgeoisen Typen wie ihm fehlte da das gewisse Etwas.« Später analysierte der Sicherheitsdienst Wangs Tagebuch und stieß dabei auf den Spitznamen, den Wang ihr gegeben hatte: Rotes Holz! »Glücklicherweise, müssen wir heute sagen, gab es dieses konfiszierte Tagebuch. Es entlastete deine Tante, um die es sonst geschehen gewesen wäre. Selbst von ungerechtfertigten Vorwürfen hätte sie sich niemals reinwaschen können! Selbst wenn sie sich im Gelben Fluss ertränkt hätte, es hätte nichts genutzt.« Verehrter Freund Sugitani-san, ich sagte meinem Neffen also: »Schau! Nicht nur deine Tante wäre um ein Haar des Todes gewesen! Selbst deinen Vater hat die Polizei wieder und wieder verhört. Die Mundharmonika stellten sie sicher, als Tatbeweis, dass Wang Xiaoti sich an Jugendliche herangemacht und sie aufgehetzt habe. Für deinen Vater gab es auch einen Tagebucheintrag: Das rote Holz hat mich mit seinem dämlichen Neffen bekannt gemacht. Er ist dieselbe Sorte rotes Holz wie sie auch und trägt den seltsamen Namen Wan Mund. Ohne diesen Eintrag wäre auch dein Vater verloren gewesen.« Mein kleiner Neffe meint, Wang Xiaoti habe das doch mit voller Absicht geschrieben. Auch Gugu war später der Ansicht, dass er dieses Tagebuch nur zurückgelassen hatte, um sie zu schützen. Deswegen sagte sie an jenem Abend auch: Er hat mich zwar ins Verderben gestürzt, andererseits hat er mich aber auch wieder gerettet. Am meisten interessiert sich mein kleiner Neffe aber für die Republikflucht, Sugitani-san. Er vergöttert diesen Mann wegen seiner superben Flugkünste, denn wenn so ein Tiger-5 Jet in einer Entfernung von fünf Metern mit einer Geschwindigkeit von achthundert Stundenkilometern über die Wasseroberfläche des Ozeans rase, meint er, brauche man über minimale Fehler gar nicht nachzudenken, der Flieger tunke seine Nase dann ohnehin ins Meer, und aus der Traum. Aber Wang Xiaoti, der habe ja wohl die hohe Kunst beherrscht und mehr Schneid gehabt als jeder andere! Dieser Jetpilot sei wirklich einsame Spitze gewesen. Und wie ein Zugvogel den ganzen Tag in der Luft. Vor dem Zwischenfall, als er noch seine Flugübungen im Luftraum über unserem Dorf absolvierte, vollführte er unübertreffliche Kunststücke am Himmel, die jeder in den höchsten Tönen lobte. Damals, als er seine Tiger-5 im Sturzflug über die Melonenfelder im Osten unseres Dorfes sausen ließ, erzählten wir, dass er dabei die Hand ausstreckte, eine Melone pflückte und seine Maschine nur kurz mit den Flügeln wackeln ließ, um sich sofort wieder hoch in die Luft zu schrauben. Ob er, auf Taiwan angekommen, tatsächlich mit einer Prämie von fünftausend Unzen Gold ausgezeichnet worden sei, fragte mich mein Neffe. »Schon möglich«, sagte ich, »aber selbst zehntausend Unzen Gold sind eine Flugzeugentführung nicht wert. Xiangqun, mein aufgeweckter Junge, Gold und schöne Frauen sind nichts, was bleibt, nur Vaterland, Ruhm und Familie sollten dir teuer sein.« Mein Neffe grinste: »Onkel, du machst wohl Witze? Hast du vergessen, in welcher Zeit wir leben? Und du kommst mir mit so was?« 10 Im Frühling 1961 wurde Gugu wegen des Zwischenfalls mit Wang Xiaoti entlastet und durfte wieder in der frauenärztlichen Abteilung der Kommunekrankenstation arbeiten. Aber in den beiden Jahren darauf kam in den zweiundvierzig zur Kommune gehörenden Dörfern kein einziges Kind zur Welt. Grund war natürlich die große Hungersnot. Deswegen bekamen die Frauen ihre Regel nicht mehr, wegen des Hungers hatten die Männer das Interesse am Sex verloren. In der Abteilung für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe der Kommunekrankenstation arbeiteten nur meine Tante und eine Ärztin mittleren Alters mit Nachnamen Huang. Sie hatte ihr Examen an einer sehr berühmten Universität gemacht, war aber wegen ihres schlechten familiären Hintergrunds und weil sie noch dazu Rechtsabweichlerin war, degradiert und aufs Land versetzt worden. Wenn Gugu auf sie zu sprechen kam, machte sie jedes Mal einen völlig entmutigten Eindruck, verquere Launen habe sie, spreche manchmal den ganzen Tag kein Wort, ergehe sich dann wieder in Gehässigkeiten und sei richtig gemein. Selbst einen Spucknapf kanzelte sie endlos ab. Nachdem meine Großtante gestorben war, kam Gugu nur noch selten zu uns. Aber Mutter vergaß sie nie. Jedes Mal, wenn es bei uns etwas Gutes zu essen gab, schickte sie meine große Schwester mit einer Portion zu ihr ins Wohnheim. Einmal fand mein Vater draußen auf dem Feld einen halben toten Hasen, wahrscheinlich den Rest eines Habichtfangs, den meine Mutter zusammen mit Wildgemüse kochte, wovon sie draußen einen halben Korb voll gesammelt hatte. Sie füllte eine Schale davon ab, wickelte sie in ein Tuch und trug meiner Schwester auf, das Essen hinüberzutragen. Meine Schwester wollte nicht, ich bot mich an. Mutter meinte: »Nun gut, aber unterwegs nicht naschen und gut darauf achten, wo du hintrittst, denn du darfst mir die Schale nicht fallenlassen.« Es sind fünf Kilometer Fußweg von uns zu Hause bis zur Krankenstation der Kommune. Anfangs rannte ich im Dauerlauf. Noch warm sollte das Hasenfleisch sein, wenn ich ankam. Aber nach einer Weile wurden mir die Beine schwer, knurrte mir laut der Magen, lief mir kalter Schweiß den Rücken hinunter, und mir wurde schwarz vor Augen. Die zwei Schalen dünne Reissuppe mit Wildgemüse vom Frühstück waren längst verdaut, und ich hatte argen Hunger. Dabei stieg mir gleichzeitig der Duft des Hasenfleischs durch das Einschlagtuch in die Nase. Welch widerstreitende Gefühle in meiner Brust: Mein eines Ich redete mir zu: »Koste ein Stück. Ein Stückchen weniger macht nichts aus.« Mein zweites unterbrach: »Nein! Du willst ein ehrliches Kind bleiben und auf deine Mutter hören.« Zum soundsovielten Mal hatte ich meine Hand schon am Knoten des Einschlagtuchs gehabt, um das Bündel zu öffnen, aber jedes Mal erschien mir das Gesicht meiner Mutter vor Augen. Zu beiden Seiten des Wegs von unserem Dorf bis zur Krankenstation standen Maulbeerbäume. Sie waren kahl, denn die hungernden Menschen hatten das Laub längst abgepflückt. Ich knickte mir einen Zweig ab und begann daran zu kauen. Der Saft hatte den bitteren Geschmack der Gerbsäure, ich konnte ihn nicht hinunterschlucken. Da bemerkte ich am Baumstamm eine Seidenraupe, die gerade frisch geschlüpft war, von der Farbe heller Eierschalen, die Flügel noch feucht. Ich freute mich, schmiss den Zweig fort, sammelte die Raupe ab und steckte sie, ohne nachzudenken, in den Mund. Seidenraupen gehören zu den erlesenen Zutaten einer feinen Küche, sehr nahrhaft sind sie obendrein. Sie werden frittiert oder pfannengerührt. Da ich sie roh und bei lebendigem Leibe aß, sparte ich das Feuer für den Ofen und die Zeit obendrein. Sie schmeckte so frisch und fein. Ich bin mir sicher, dass eine Raupe roh mehr Nährstoffe enthält als in gekochtem Zustand. Beim Gehen suchte ich mit den Augen die Baumstämme am Wegrand ab. Seidenraupen entdeckte ich keine mehr, dafür ein bunt und teuer bedrucktes, hochglänzendes Flugblatt, das ich vom Boden aufklaubte. Auf dem Papier war ein blendend aussehender junger Mann zu sehen, der eine hübsche, elfengleiche Frau im Arm hielt. Darunter stand zu lesen: Der Jetpilot der kommunistischen Banditen, Wang Xiaoti, bricht mit der verbrecherischen Bande und wählt den lichten Weg. In den Dienstrang eines Majors erhoben, dient er in der Luftwaffe als Staffelkapitän. Er bekam als Auszeichnung eine Prämie von187,5 kg Gold und die berühmte Schlagersängerin Tao Lili zur Frau. Ich vergaß den Hunger, es befiel mich eine solche Aufregung, dass ich am liebsten laut losgeschrien hätte. In der Schule hatte ich davon gehört, dass die Kuomintang mit Luftballons reaktionäre Flugblätter zu uns sandte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas auflesen würde. Nie im Leben! Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass sie so feines, wunderschönes Papier verwendeten. Und die junge Frau auf dem Foto war um einiges anziehender als meine Tante! Als ich in der Krankenstation ankam, war die Tante gerade in einen Streit mit dieser Huang verwickelt. Huang mit der Riesenhakennase trug eine schwarze Hornbrille. Lippen hatte sie – dünn wie ein Strich. Beim Sprechen konnte man ihren blutergussfarbenen Rachen sehen. – Später ermahnte uns meine Tante immer: »Kinder, heiratet niemals eine, deren Rachen beim Sprechen zu sehen ist! Dann bleibt ihr lieber unverheiratet. So eine nehmt bloß nicht!« – Die Huang schaute so finster drein, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Ich hörte, wie sie zu meiner Tante sagte: »Wie kommst du dummes Ding dazu, mich anzuweisen? Mich, die ich, als du noch Windeln getragen hast, bereits an der altehrwürdigen Fachhochschule für Medizin in Peking ausgebildet wurde?« Aber Tante ließ das nicht auf sich sitzen und konterte: »Weiß Bescheid, du eingebildetes Kapitalistenfräulein. Und natürlich warst du als hübscheste Studentin bei euch bekannt und hast die Fahne hochgehalten, als die Japsen eure Schule besuchen kamen! Wahrscheinlich bist du noch mit den Offizieren der Japsen schwofen gewesen? Aber während du mit denen das Tanzbein schwangst, habe ich mich in Pingdu im Kampf gegen den japanischen Armeekommandanten Sugitani tapfer geschlagen.« Huang lachte nur kalt: »Wer will das gesehen haben? Gab’s da wen, der zusah, wie du mit vollem Einsatz gegen den japanischen Armeekommandanten gekämpft hast?« Gugu parierte: »Ist alles Geschichte, unser Vaterland ist mein Zeuge.« Und in diesem Moment gab ich Hornochse, nie, nie, niemals hätte das passieren dürfen – niemand ist so dumm! –, meiner Tante diesen bunten Zettel in die Hand. »Was ist denn los, dass du herkommst?«, fragte meine Tante übelgelaunt, »und was schleppst du da an?« Ich sagte total aufgeregt, mit zitternder Stimme: »Ein reaktionäres Flugblatt! Ein reaktionäres Flugblatt von der Kuomintang!« Zuerst ließ sie nur flüchtig den Blick drüber gleiten. Dann sah ich, wie ihr ganzer Körper heftig zusammenzuckte, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, kreidebleich mit aufgerissenen Augen starrte sie darauf. Als schmetterte sie eine sie anfallende Schlange, nein, mehr noch, als schmetterte sie eine giftige Unke ins Gebüsch, entledigte sie sich dieses Flugblatts! Als sie sich dessen gewahr wurde und das Papier schnell wieder aufheben wollte, war es bereits zu spät. Huang Qiuya hob das Papier auf und warf einen Blick darauf. Dann blickte sie zu Gugu hoch, um sofort wieder hinunter auf den Zettel zu starren. Ihre beiden hinter dicken Brillengläsern versteckten Augen spritzten Gift und Galle. Ihr Mund ließ ein eiskaltes Lachen hören. Mit einem Hechtsprung stürzte Gugu vor, um das Flugblatt wieder zu ergattern, aber Huang Qiuya drehte sich weg und wich ihr aus. Gugu kriegte sie aber noch am Kittel zu fassen und schrie schrill: »Gib es mir zurück!« Huang Qiuya machte nur eine einzige Bewegung nach vorn, sssst, riss der Kittel entzwei und gab den Blick frei auf die Haut des Rückens, die weiß wie der Bauch eines Frosches war. »Gib es zurück!« Huang dreht sich um, das Flugblatt fest in ihren Händen hinter dem Rücken, am ganzen Leib zitternd und Schritt für Schritt rückwärts zur Tür weichend. Dabei sprach sie böse, aber triumphierend: »Es dir zurückgeben? Ha! Dir, einer hündischen Spionin! Einer Landesverräterin! Ausgespielt das Spielchen, du Drecksfott! Ach, dir wird jetzt bange? Deinen Ruf als Märtyrerwaisenkind nimmt man dir nicht mehr ab?« Wie eine Wahnsinnige stürzte sich Tante auf Huang Qiuya. Die rannte auf den Flur und rief schrill: »Fasst die Spionin!« Gugu, ihr auf den Fersen, streckte die Hand aus, kriegte ihr Haar zu fassen. Huang Qiuyas Hals machte einen Ruck rückwärts, aber das Blatt fest in der Hand, gellende Schreie ausstoßend, drängte sie mit allen Kräften nach vorn. Damals bestand das Gebäude der Krankenstation nur aus zwei Zimmerreihen zu beiden Seiten eines Flurs, vorn die Behandlungszimmer, dahinter die Verwaltung. Alle hörten die Schreie und kamen sofort hinaus auf den Flur, wo meine Tante Huang Qiuya inzwischen auf den Boden geworfen hatte und rittlings auf ihr sitzend versuchte, das Flugblatt zu ergattern. Der Stationsleiter kam herbeigerannt. Glatzköpfig, mit schmalen Augen, dicken Tränensäcken und den Mund voller übertrieben weißer dritter Zähne. »Was soll das hier? Aufhören! Hände weg!«, schrie er nur. Gugu schien den Anschnauzer ihres Leiters nicht gehört zu haben, sie quetschte Huangs Hand immer heftiger. Deren Stimme war nicht mehr schrill, sie schrie auch nicht mehr, sie heulte nur noch. »Wan Herz, gib nach!« Der Leiter war nun richtig wütend, die Umstehenden herrschte er an: »Ihr Pfeifen seid doch nicht blind! Trennt ihr sie wohl voneinander!« Ein paar Ärzte zerrten Gugu gemeinsam unter Einsatz ihrer gesamten Kräfte von Huang Qiuya herunter. Ein paar Ärztinnen halfen Huang vom Boden auf. Ihre Brille war verschwunden, aus den Zahnzwischenräumen floss ihr Blut vom Mund am Kinn herunter, und Tränen rannen in trüben Rinnsalen aus ihren tiefliegenden Augen. Ihre Hand umkrallte immer noch das Flugblatt, während sie weinend flehte: »Stationsleiter, sagen Sie mir, was ich tun soll ...« Gugus Kleidung war völlig verrutscht, alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Von den Wangen tropfte aus Kratzwunden Blut, die – ganz klar – von Huangs Fingernägeln stammten. »Was ist passiert, Wan Herz?«, fragte der Stationsleiter. Meine Tante lachte düster, dabei schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie schmiss ein paar Papierschnitzel des Flugblatts auf den Boden. Keinen Ton sagte sie, als sie sich schwankend in die Station für Geburtshilfe zurückzog. Huang Qiuya dagegen reichte dem Stationsleiter wie eine Heldin, die Kampfesstrapazen ausgestanden und große Erfolge errungen hat, den in ihrer Hand zu einem Knäuel zerknüllten Zettel, um sodann auf den Knien über den Boden zu rutschen und nach ihrer Brille zu suchen. Die gefundene Brille, von der ein Bügel abgebrochen war, setzte sie wieder auf die Nase und stützte sie mit einer Hand. Noch auf Knien entdeckte sie die von Gugu auf dem Boden verstreuten Papierschnitzel, die sie hastig aufklaubte. Als hätte sie einen Schatz ausgegraben, kam sie damit auf die Beine. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Stationsleiter, derweil er das Papierknäuel entfaltete. »Ein reaktionäres Flugblatt! Hier ist der Rest davon.« Damit übergab Huang die restlichen Papierschnitzel. »Der Republikflüchtling Wang Xiaoti hat es Wan Herz aus Taiwan geschickt!« Die umstehenden Ärzte und Schwestern raunten vor Erstaunen. Der Stationsleiter war altersweitsichtig, er hielt den Handzettel weit von sich und bemühte sich, den richtigen Abstand zu finden. Wie ein Bienenschwarm drängten sich alle um dieses Flugblatt. »Was guckt ihr? Als wenn’s da was zu sehen gäbe! Macht, dass ihr wieder an die Arbeit kommt! Ärztin Huang«, er packte den Handzettel sorgfältig weg, »komm mal mit in mein Büro!« Während sie in seinem Büro verschwand, standen die Ärzte und Schwestern zu zweit, zu dritt zusammen und ergingen sich in Mutmaßungen. Als nun noch Gugus lautes Wehklagen aus der frauenärztlichen Station drang, kam mir bitter zu Bewusstsein, dass ich großes Unglück angerichtet hatte. Ich machte mich klein, aber ich drückte doch die Tür auf und trat zu meiner Tante in das Behandlungszimmer. Sie saß weinend am Tisch, mit dem Kopf auf der Tischplatte und hämmerte mit geballten Fäusten zu beiden Seiten ihres Kopfes auf den Tisch. Ich sagte: »Tante, Mama schickt dir Hasenfleisch.« Sie reagierte nicht, weinte immer nur weiter. »Wein bitte nicht, Tante, probier das Hasenfleisch!« Ich stellte das mitgebrachte Bündel auf den Tisch und öffnete das Tuch, um die Schüssel mit dem Fleisch neben Tantes Kopf zu stellen. Gugu wischte die Schüssel mit Schwung vom Tisch, die Schale zerbrach am Boden. Sie hob den Kopf und schrie mich gellend an: »Geh mir aus den Augen! Geh weg! Ich will dich nicht sehen! Du Vieh!« 11 Ich sollte noch erfahren, welches Unglück ich heraufbeschworen hatte. Nachdem ich aus dem Krankenhaus geflüchtet war, schnitt Gugu sich die Pulsader an der linken Hand auf und schrieb mit der rechten Hand mit ihrem eigenen Blut: Ich hasse Wang Xiaoti. Solange ich lebe, gehört mein Leben der Partei, nach meinem Tode gehört mein Geist der Partei. Als Huang Qiuya siegesgewiss wieder im Büro eintraf, reichte der Blutsee schon bis zur Tür, ein schriller Schrei, und sie ging bewusstlos zu Boden. Sie retteten das Leben meiner Tante, aber sie musste eine Disziplinarstrafe einstecken. Grund dafür war der Vorwurf der Nötigung der Partei durch ihren Selbstmordversuch, nicht etwa die Unterstellung anhaltender Kontakte zu Wang Xiaoti. 12 Im Herbst 1962 erlebten wir in Nordost-Gaomi eine bisher einmalig reiche Süßkartoffelernte auf unseren dreißigtausend Morgen Ackerland. Die Äcker, die uns drei Jahre lang im Stich gelassen hatten und denen wir während dieser Zeit keine paar Körner abgerungen hatten, waren uns wieder gnädig und beschenkten uns wie früher großmütig mit reichen Gaben. In jenem Herbst ernteten wir auf einem Morgen Acker fünftausend Kilogramm Süßkartoffeln. Wenn ich an die Süßkartoffelernte in jenem Herbst zurückdenke, bin ich auch heute noch sofort heftig ergriffen. Unter jeder Pflanze fanden wir viele, viele Kartoffeln. Die schwerste Süßkartoffel unseres Dorfes hatte ein Gewicht von neunzehn Kilogramm, und unser Kreisparteisekretär ließ sich mit ihr zusammen für die Zeitung fotografieren; das Foto erschien auf der Titelseite der amtlichen Shandonger Tageszeitung Dazhong Daily. Welches Geschenk diese Süßkartoffeln doch waren! Wunderbare Gaben! Wir hatten 1962 nicht nur eine Prachternte, der Stärkegehalt der Kartoffeln war auch besonders hoch. Sie wurden beim Kochen sofort wunderbar mehlig und besaßen einen feinen Maronengeschmack. Das Essen war für unseren Gaumen die reine Freude, angenehm zu kauen und zu schlucken, und mit reichlich Nährwert. Bei uns allen in Nordost-Gaomi türmten sich die Süßkartoffeln im Hof. In jedem Haus schmückten Drähte mit Süßkartoffelscheiben die Wände. Wir konnten uns sattessen, endlich wieder sattessen! Das Kauen von Gras und Rinde hatte ein Ende, und die todbringende Zeit der Hungersnot war auf Nimmerwiedersehen vorüber. Schnell wurden unsere Beine wieder flink, die Bäuche wieder flach und uns wuchs wieder Fleisch auf den Rippen. Allmählich setzten wir auch wieder ein wenig Fett unter der Haut an. Unser Blick war nicht mehr trüb. Laufen tat nicht mehr weh, unsere Beine waren nicht mehr taub, und die Körper der Heranwachsenden wuchsen wieder. Zur selben Zeit wurden auch die Brüste unserer Frauen wieder rund, und ihre Regel kam zurück. Die Kraft in den Lenden unserer Männer begann wieder zu blühen. Ihr Bartwuchs regte sich erneut, ihr Kreuz richtete sich wieder auf. Nach zwei Monaten des Sattessens an Süßkartoffeln waren fast alle jungen Frauen bei uns schwanger geworden. Zum Winteranfang 1963 hatten wir den ersten starken Geburtenjahrgang seit der Gründung der Volksrepublik. In den zweiundfünfzig Dörfern, die zu unserer Kommune gehörten, wurden 2868 Babys geboren. Sie hießen bei meiner Tante immer nur Süßkartoffelbabys. Der Leiter der Krankenstation des Gesundheitsamts war ein herzensguter Mensch. Als unsere Tante sich nach ihrem Selbstmordversuch zu Hause erholen musste, kam er sie besuchen. Er ist entfernt verwandt mit meiner Familie, ein Neffe meiner Oma mütterlicherseits. Er kritisierte meine Tante, sie habe ganz unbesonnen gehandelt, er hoffe doch, dass sie sich nun nicht mehr unter Druck gesetzt fühle, sondern ab jetzt gut arbeiten werde. Er sagte noch, die Augen der Partei und des Volkes seien hell, einen guten Menschen würden die Partei und das Volk nicht zu Unrecht beschuldigen! Und einen bösen würde die Partei niemals ungeschoren davonkommen lassen. Er wünsche sich von meiner Tante, dass sie an die Partei glaube, dass sie durch Taten ihre Unschuld unter Beweis stellen und ihren Ausschluss aus der Partei schnellstmöglich wieder rückgängig machen solle. Dann flüsterte er meiner Tante zu: »Du bist doch anders als die bourgeoise Huang Qiuya. Die ist von Grund auf schlecht. Nicht so du! Du bist eine Pflanze mit roten Wurzeln. Aus solch einer Pflanze wächst ein gerader Spross! Auch wenn du ein paar Umwege nimmst, brauchst du dich nur anzustrengen und siehst sofort wieder einer strahlenden Zukunft entgegen.« Seine Worte ließen meine Tante sogleich von neuem in Tränen ausbrechen. Und mich auch. Wie wir weinten! Kaum aus ihrer Blutlache aufgestanden, stürzte sie sich mit Feuereifer in die Arbeit. Obwohl es in den verschiedenen Dörfern inzwischen ausgebildete Hebammen gab, wollten viele Frauen ihr Kind in der Abteilung für Geburtshilfe der Kommunekrankenstation zur Welt bringen. Gugu begrub den alten Streit und arbeitete eng mit Huang Qiuya zusammen, sowohl bei der Behandlung wie auch bei der Pflege. Manchmal tat sie tagelang kein Auge zu, so viel gab es zu tun. Unzählige Gebärende und Säuglinge, an deren Bett schon der Tod gestanden hatte, holte sie im letzten Moment wieder ins Leben zurück. In einer Zeitspanne von nur fünf Monaten holten sie achthundertachtzig Säuglinge auf die Welt, darunter achtzehn durch Kaiserschnitt. Damals gehörte ein Kaiserschnitt zu den besonders komplizierten Operationen. Dass in der kleinen Krankenstation des Gesundheitsamts mit ihrer winzigen Abteilung für Geburtshilfe und ihren nur zwei Angestellten tatsächlich Kaiserschnitte durchgeführt wurden, sorgte eine ganze Weile für helle Aufregung. Auch meine Tante, die ziemlich unwirsch, voreingenommen und arrogant war, konnte nicht umhin, Huang Qiuyas Meisterschaft in dieser ärztlichen Kunst zu bewundern. Dass Gugu später in Nordost-Gaomi selbst den Ruf einer berühmten Frauenärztin bekam, die traditionelle ländliche Heilkunst mit westlicher Medizin vereinte, verdankte sie natürlich ihrer Erzfeindin Huang Qiuya, dieser alten Jungfer, die sich wahrscheinlich ihr Leben lang kein einziges Mal richtig verliebt hatte. Dass sie verschroben und launisch war, konnte man ihr nachsehen. Als meine Tante alt geworden war, erzählte sie mir öfter mal Geschichten von ihrer alten Rivalin, diesem verwöhnten Tausend-Goldtaler-Fräulein, das einer alten Shanghaier Unternehmerfamilie, ausgemachten Kapitalisten, entstammte, erst Absolventin der namhaftesten Universität, dann degradiert und aufs Land zu uns nach Nordost-Gaomi versetzt. Wie das Sprichwort sagt: Ein Phönix, der Federn lassen musste, kann sich nicht mit einem Huhn messen. »Wer ist das Huhn? Das Huhn bin ja wohl ich. Ein Huhn, das sich mit dem Phönix eine Stange teilen muss«, spottete Gugu selbstironisch, »aber ich vermöbelte ihn so, dass er keinen Mucks mehr machte. Dass er am ganzen Körper schlotterte, sobald er mich sah. Wie eine Eidechse, die eine Zigarettenkippe verschluckt hat. Damals benahmen wir uns alle wie die Wahnsinnigen«, fügte sie ergriffen hinzu. »Ein Wirklichkeit gewordener Albtraum. Huang Qiuya ist eine großartige Ärztin. Selbst wenn sie am Vormittag zusammengeschlagen wurde und stark blutende Kopfverletzungen davongetragen hatte, stand sie am Nachmittag konzentriert im OP und operierte ruhig, sie hatte sich völlig im Griff. Die draußen vor dem Fenster grölenden Menschen konnten sie nicht ablenken. Sie besaß so geschickte Hände! Sie konnte Blumenmuster auf die Bäuche der Frauen sticken ...«, an dieser Stelle begann meine Tante dann jedes Mal zu lachen. So heftig, dass ihr die Tränen kamen. 13 In unserer Großfamilie hatten sich damals die Heirats- und Herzensangelegenheiten meiner Tante zu einer Familienpsychose ausgewachsen. Nicht nur für die Alten waren sie Anlass zu schwerer Besorgnis, selbst die jungen Spunde unter zwanzig machten sich Gedanken. Es gab niemanden, der in ihrer Gegenwart gewagt hätte, an diesem Thema zu rühren. Beim leisesten Versuch explodierte sie. Im Frühling 1966, es war ein Feiertag, am Vormittag des Totenfests, kamen Gugu und ihre Gehilfin Shizi – wir kannten damals nur ihren Spitznamen Kleiner Löwe –, ein achtzehnjähriges Mädchen mit einem Gesicht voller Pickel, Knubbelnase, weit auseinander stehenden Augen, wirrem Haar, kleinwüchsig, aber üppig bestückt, zu uns ins Dorf, um alle Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter zu erfassen. Nach getaner Arbeit brachte Gugu ihre Gehilfin zum Essen mit zu uns nach Hause. Es hatte doppelte dünne Pfannkuchenfladen, darin eingewickelt gekochte Eierscheiben, und Schalotten mit scharfer Bohnensauce gegeben. Weil wir mit Essen längst fertig waren, sahen wir den beiden zu. Kleiner Löwe machte einen schüchternen Eindruck. Sie schlug die Augen nieder und wagte niemanden anzusehen. Ihre vielen Mitesser standen ihr wie rote Bohnen im Gesicht. Mutter schien das Mädchen sehr zu mögen, fragte alles Mögliche, es fehlte nicht viel und sie hätte sich nach ihren Heiratsplänen erkundigt. »Hör mal auf, die Leute hier auszufragen, Schwägerin. Willst sie wohl als Schwiegertochter haben?«, fing Gugu schon an. »Ach wo, wo denkst du hin? Wir Bauern würden niemals wagen, die Hand so hoch hinauszustrecken! Wir bleiben bei Unseresgleichen. Das Fräulein Shizi ist im öffentlichen Dienst und wird vom Staat versorgt. Deine Neffen können wohl schwerlich zu ihr passen«, wandte meine Mutter ein. Der Kopf des Mädchens sank ein Stück tiefer, mit dem Essen klappte es auch nicht mehr. Just kamen meine Mitschüler Wang Leber und Chen Nase auf einen Sprung vorbei. Leber lugte ins Zimmer und trat auf die Schale mit dem Hühnerfutter, die sofort zu Bruch ging. Mutter schnauzte ihn an: »Du Rüpel, kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst?« Der lachte, es war ihm wohl peinlich. »Leber, wie geht es deiner Schwester? Ist sie gewachsen?«, fragte meine Tante. »Es hat sich nichts verändert ...«, antwortete er. »Sag deinem Vater, wenn du wieder zu Haus bist, da gibt es nichts zu diskutieren, deine Mutter darf keine weiteren Kinder mehr bekommen.« Gugu schluckte den Bissen Fladen hinunter, zog ihr Taschentuch hervor und putzte sich den Mund ab. »Sonst schleift sie ihre Gebärmutter eines Tages auf dem Boden hinter sich her.« »Hör auf, ihnen Sachen zu sagen, die nur Frauen was angehen!«, meinte Mutter. »Das macht doch nichts! Dann wissen sie wenigstens, wie schwer es die Frauen damit haben«, meinte meine Tante. »Von den Frauen im Dorf hat die Hälfte eine Gebärmuttersenkung, die andere Hälfte eine Gebärmutterentzündung. Wang Lebers Mutter hängt die Gebärmutter schon aus der Scheide raus, wie eine matschige Birne. Und Wang Bein will ihr partout noch einen Sohn machen! Wenn ich den zu packen kriege ... ach richtig, Nase, deine Mutter ist auch krank ...« Mutter unterbrach meine Tante und herrschte mich an: »Nun marsch an die Luft! Nimm deine Gaunerfreunde und geh draußen spielen. Ihr geht uns hier auf die Nerven.« Auf der Gasse meinte Leber zu mir: »Du musst uns zum Erdnüsseessen einladen!« »Wieso das? Versteh ich nicht.« »Wir wollen dir ein Geheimnis verraten«, entgegnete Nase. »Was für ein Geheimnis?« »Erst mal her mit den Erdnüssen!« »Ich hab keine Kohle.« »Was soll das heißen, du hast kein Geld? Du hast doch aus dem Maschinenpark des staatseigenen landwirtschaftlichen Betriebs ein Stück Kupferblech geklaut«, meinte Nase, »einen Yuan hast du mindestens dafür gekriegt. Du glaubst doch nicht im Ernst, wir wüssten das nicht?« »Ich hab das nicht geklaut«, warf ich schnell ein, »die hatten es weggeschmissen.« »Und wenn schon! Aber du hast es für über einen Yuan verkauft, das stimmt doch? Nun lad uns schon ein, Mann!« Wang Leber zeigte zur Schaukel bei der Tenne, wo sich die Leute drängten und die ausschwingende Schaukel ächzte. Dort verkaufte ein alter Mann geröstete Erdnüsse. Als ich die Erdnüsse erstanden und gerecht unter uns verteilt hatte, sagte Leber mit ernster Stimme: »Deine Tante wird den Kreisparteisekretär heiraten und den Platz seiner verstorbenen Ehefrau einnehmen.« »Völliger Blödsinn!«, fuhr ich ihn an. »Wenn deine Tante erst Frau des Kreisparteisekretärs ist, wird deine Familie davon profitieren. Dann werden dein großer Bruder, dein zweiter Bruder, deine große Schwester und du bestimmt schon bald in die Kreisstadt umziehen, dort arbeiten, vom Staat versorgt werden, auf die Universität gehen und später selber Kader werden. Dann darfst du deine alten Freunde aber nicht vergessen, hörst du?« »Kleiner Löwe ist ja wohl total hübsch!«, sagte Leber da plötzlich. 14 Alle Eltern der damals zur Welt gebrachten Süßkartoffelkinder konnten, wenn sie bei der Kommune die Meldebescheinigung beantragten, einen Liter Sojaöl und Bezugsmarken für zwei Meter Tuch bekommen. Und diejenigen mit Zwillingen bekamen die doppelte Menge. Mit vor Dankbarkeit feuchten Augen blickten die Menschen auf das goldgelbe Sojaöl und kneteten die Tuchmarken, denen ein lieblicher Sojabohnengeruch entströmte, zwischen den Fingern. »Die neue Gesellschaft ist eben doch die bessere!«, mochten die Volksmassen denken. »Nun können wir sogar etwas dafür bekommen, wenn wir ein Kind gebären. Jetzt schätzt unser Land seine Menschen! Es wartet darauf, sie einzusetzen! Denn unserem Land mangelt es an Menschen«, sagte meine Mutter. Aus Dankbarkeit fassten alle den stillen Entschluss, viele Kinder zu bekommen und dem Staat so die empfangenen Wohltaten zurückzugeben. Mein Mitschüler Xiao Unterlippe hatte bereits drei kleine Schwestern bekommen – sein Vater Xiao Oberlippe war Verwalter des Brigadekornspeichers –, doch obwohl seine kleinste Schwester noch die Brust bekam, wölbte sich der Bauch seiner Mutter schon über dem nächsten Baby. Wenn ich mich vom Kühehüten auf den Heimweg machte, kam mir sein Vater regelmäßig auf einem ramponierten Fahrrad auf der kleinen Brücke entgegen. Er war groß und dick, das Fahrrad ächzte unter seinem Gewicht, als bräche es jeden Moment entzwei. Die Leute im Dorf trieben mit ihm Schabernack: »Oberlippe, wie alt bist du denn jetzt? Kannst du nicht auch mal eine Nacht auslassen?« Er lachte immer nur: »Wir klagen nicht, wenn wir Kinder für unser Land machen, da lassen wir keine Nacht aus.« Ende 1965 fühlte sich die Führung durch den sprunghaften Anstieg der Bevölkerung unter Druck gesetzt. Das Neue China erlebte seine erste Kampagne zur Geburtenplanung. Die Regierung ließ die Parole verbreiten: Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht. Als das Team der Filmvorführer unseres Kreises wieder in unser Dorf kam, gab es vor dem Hauptfilm eine Diaschau, mit der für die Geburtenplanung geworben wurde. Als auf der Leinwand die Schaubilder mit den riesig vergrößerten Geschlechtsorganen des Mannes und der Frau zu sehen waren, brach unter den Zuschauern ein seltsames Gejohle und wildes Gelächter aus. Die Halbwüchsigen unter uns hatten keinen blauen Dunst, grölten und lachten aber einfach mit. Viele der jungen Leute rückten dicht zusammen und hielten sich heimlich an den Händen. So eine Propaganda für Verhütungsmethoden war das reinste Fertilitätsprogramm, besser als jedes Aphrodisiakum. Schauspieler und Opernsänger des Kreistheaters teilten sich in ungefähr zwanzig kleine Gruppen auf, die in jedes winzige Dorf reisten und dort eine kurze Oper mit dem Namen »Den halben Himmel stemmen die Frauen« vorführten, die der diskriminierenden Missachtung der Frauen den Kampf ansagte. Gugu war inzwischen Leiterin der frauenärztlichen Abteilung der Kommunekrankenstation geworden, dazu hatte sie die stellvertretende Leitung der Gruppe für geregelte Familienplanung übernommen. Gruppenleiter war der Kommuneparteisekretär Qin Shan, der aber nur seinen Namen zur Verfügung stellte und ansonsten passiv blieb. Somit war meine Tante nicht nur ausführendes Organ der Geburtenkontrolle, also diejenige, die die Politik tatsächlich durchsetzte, sondern auch Leiterin der Kommunearbeit für Familienplanung und Organisatorin der Kampagnen. Damals begann sie Speck anzusetzen. Die von jedermann bewunderten strahlend weißen Zähne waren gelb geworden, weil sie nicht mehr regelmäßig geputzt wurden. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, sie hörte sich immer ein bisschen an wie ein Mann. Wir hörten sie regelmäßig laut durchs Megaphon dröhnen. Meistens begann die Durchsage mit dem Satz: Ich sage nur: Schuster bleib bei deinen Leisten! Man soll nur von dem Handwerk reden, dessen Meister man auch ist. Jeder redet doch immer nur über den eigenen Beruf. Und ich spreche heute über die Geburtenplanung. In dieser Zeit sanken ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den Leuten. Selbst die Frauen in unserem Dorf, die ihr viel Gutes zu verdanken hatten, begannen schlecht über sie zu reden. Ihr unermüdliches Herumreiten auf der Familienplanung verfehlte seinen Erfolg gründlich. Selbst ihre Nachbarn und Freunde, die Leute aus dem Dorf wollten davon nichts wissen. Die Kreisoperntruppe kam mit einer Aufführung zu uns, worin die weibliche Hauptrolle mit hoher Stimme sang: Eine neue Epoche ist angebrochen! Mann und Frau sind gleich. Wang Bein, Lebers Vater, der unten im Publikum saß, kommentierte böse: »Völliger Schwachsinn! Was ist denn da gleich? Wer wagt so etwas zu behaupten?« Unten vor der Bühne reagierte das Publikum mit Krach und bösen Beschimpfungen. Man schmiss mit Backsteinen und Dachziegeln. Als es Ziegel auf die Bühne regnete, schützten die Schauspieler den Kopf mit den Armen und nahmen die Beine in die Hand. Wang Bein hatte an jenem Tag einen Viertelliter Schnaps intus. Der brachte ihn so in Fahrt, dass er völlig über die Stränge schlug. Er bahnte sich seinen Weg durch die Zuschauer, sprang auf die Bühne und hielt mit Händen und Füßen wild gestikulierend eine kurze Rede: »Ihr bestimmt schon über Himmel und Erde, und nun meint ihr, ihr könnt noch bestimmen, wann und wie das Volk seine Kinder bekommt? Wenn ihr was draufhabt, dann spannt eine Leine von links nach rechts über die Bühne und befestigt Unterwäsche, Schminke und Puder der Frauen dran.« Die Leute im Publikum begannen laut zu lachen. Das brachte Wang Bein nur noch mehr in Fahrt. Er hob einen Dachziegel von der Bühne auf, zielte genau auf die hell leuchtende Gaslampe, die in der Mitte des Bühnenvorhangs an einem Querbalken angebracht war, und traf. Es klirrte, und sie erlosch. Auf und unterhalb der Bühne herrschte pechschwarze Nacht. Dafür musste Wang Bein einen halben Monat lang ins Untersuchungsgefängnis. Als er entlassen wurde, rebellierte er immer noch. Er rempelte die Leute an: »Hey, schneidet mir den Schwanz ab, wenn ihr Mumm in den Knochen habt!« In früheren Jahren hatte es ein großes Hallo gegeben, wenn meine Tante nach Hause kam. Die Leute öffneten die Türen, grüßten sie, umarmten sie, aber nun gingen ihr alle aus dem Weg. Meine Mutter fragte besorgt: »Diese Sache mit der Geburtenregelung, Schwägerin, hast du dir die selbst ausgedacht oder haben die da oben dir das aufs Auge gedrückt?« »Was heißt hier selber ausgedacht?« Gugu kam richtig in Rage: »Das ist ein Appell der Partei an das Volk! Eine Anordnung vom Vorsitzenden Mao. Das ist Staatspolitik! Der Vorsitzende Mao lehrt uns: Die Menschheit darf nicht unkontrolliert wachsen, sie soll Selbstbeschränkung üben und sich nur geplant vermehren.« Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf: »Seit Urzeiten und bis heute ist es vom Himmel bestimmt und ein unerschütterliches Recht, Kinder zu bekommen. Schon während der Han-Dynastie verfügte der Kaiser, dass die Mädchen des Volkes mit dreizehn heiraten sollten. Wenn sie nicht heirateten, fragte man beim Vater und beim großen Bruder nach. Denn woher sollte das Land seine Soldaten nehmen, wenn die Mädchen keine Kinder mehr bekamen? Tagtäglich hören wir in der Propaganda, dass die Amerikaner uns angreifen wollen. Tagtäglich spornen wir uns an, Taiwan zurückzugewinnen. Woher sollen denn die Soldaten kommen, wenn die Frauen keine Kinder mehr kriegen dürfen? Wer kämpft denn gegen die Amerikaner in den von ihnen angezettelten Invasionskriegen, wenn wir keine Soldaten mehr haben? Und wer soll Taiwan befreien?« »Schwägerin, hör auf, mich mit diesen abgedroschenen Binsenwahrheiten vollzuquatschen. Der Vorsitzende Mao weiß besser Bescheid als du. Mach dir da keine Sorgen! Der Vorsitzende sagt: Die Größe der Bevölkerung ist in jedem Fall zu kontrollieren. Und er sagt: Ohne Organisation keine Disziplin. Wenn es so weitergeht, löscht sich die Menschheit früher aus, als es sein muss, denke ich.« Meine Mutter antwortete: »Der Vorsitzende Mao sagt auch: Wenn es viele Menschen sind, ist die Kraft groß; wenn es viele sind, wird man besser mit aller Unbill fertig, denn der Mensch ist ein lebender Schatz. Erst durch den Menschen erschaffen wir die Welt. Und er sagt: Wenn wir nicht zulassen, dass es vom Himmel regnet, ist das falsch. Wenn wir die Frauen keine eigenen Kinder großziehen lassen, ist das auch falsch.« Meine Tante wusste nicht mehr, ob sie nun lachen oder weinen sollte: »Schwägerin, du bist dabei, Maos Worte aus dem kleinen roten Buch zu verfälschen. In der Vergangenheit wurde man geköpft, wenn man ein kaiserliches Dekret verkehrt wiedergab. Es stimmt nicht, dass wir den Leuten das Kinderkriegen verbieten, sie sollen nur weniger – nämlich nur noch nach Plan – Kinder bekommen.« »Wie viele Kinder jemand in seinem Leben bekommt, ist vorausbestimmt und der Wille des Himmels, und da willst du noch einen Plan erstellen? Für mich seid ihr wie Blinde, die sich eine Kerze anzünden, pure Verschwendung!«, konterte meine Mutter. Und es traf haargenau ein, was meine Mutter gesagt hatte. Gugu und ihre Leute hatten Energie und Geld umsonst investiert. Dazu hatten sie für ihr Verhalten überall nur Beschimpfungen geerntet, und sie waren übel in Verruf gekommen. Anfangs verteilten sie kostenlose Präservative an die örtlichen Leiterinnen des chinesischen Frauenverbands, damit diese sie an die Frauen in gebärfähigem Alter weitergaben und deren Männer aufforderten, sie beim Verkehr überzuziehen. Aber die Präservative landeten entweder in den Schweineställen oder bei den Kindern, die sie aufpusteten und anmalten und mit ihnen wie mit Luftballons spielten. Die Tante und ihre Helferinnen gingen hausieren und verschenkten Antibabypillen, aber die Frauen störten sich an den Nebenwirkungen der Pillen und weigerten sich, sie einzunehmen. Wenn sie gezwungen wurden, sie auf der Stelle hinunterzuschlucken, versuchten sie, kaum dass sie wieder allein waren, sie hochzuwürgen und auszuspucken, indem sie sich den Finger oder ein Stäbchen in den Hals steckten. Die Sterilisation der Männer mittels Durchtrennen der Samenleiter kam da gerade zur rechten Zeit in Gebrauch. Es war damals Thema Nummer eins bei uns im Dorf. Alle erzählten, dass es meine Tante und Huang Qiuya waren, die diese Methode gemeinsam entwickelt hätten. Von Huang Qiuya käme der theoretische Teil der Erfindung, von meiner Tante der klinische Teil und die Praxis. Der Wichtigtuer Xiao Unterlippe sagte uns: »Diese beiden unbemannten Weiber sind doch völlig psychopatisch, die haben dieses ganze Zeug für die Kinderlosigkeit doch nur entwickelt, weil sie es nicht ertragen, andere Paare glücklich verheiratet zu sehen.« Er behauptete, sie hätten erst einmal an Ferkeln Versuche gemacht, dann diese an Ebern wiederholt und zuletzt an zehn toten Häftlingen laboriert. Nachdem das Experiment geglückt sei, hätten sie die toten Häftlinge gegen lebende mit lebenslänglichen Haftstrafen ausgetauscht. Wir wussten natürlich bald, dass Xiao Unterlippe geflunkert hatte. Die Tante hörten wir in jenen Tagen regelmäßig durch das Megaphon schreien: »Kader unserer Brigaden! Bitte beachten Sie! Infolge der Achten Sitzung des Leitungskollektivs zur Kommune-Geburtenregelung ist es Pflicht, dass Männer mit Frauen, die schon drei Kinder zur Welt gebracht haben, oder Männer, die mehr als drei Kinder haben, sich in unserer Krankenstation einer Sterilisation unterziehen. Nach dem Eingriff bekommen die Männer zwanzig Yuan für Lebensmittel zur Stärkung und eine Woche vollbezahlten Urlaub, die Arbeitspunkte werden trotzdem eingetragen.« Die Männer, die die Durchsage gehört hatten, standen zusammen und schimpften: »Da, fick deine Mutter! Sauschneider gibt’s, Leute, die Bullen kastrieren, Leute, die Pferde- und Mulihengste legen. Aber hat man je von einem Berufszweig gehört, der sich auf das Kastrieren von Männern verlegt hat? Wir wollen ja schließlich nicht als Eunuchen in den Dienst bei Hof! Wir lassen uns nicht betrügen!« Als die Kader aus der Geburtenplanung erklärten, die Sterilisation sei nur ein klitzekleiner Eingriff, wobei nur die ... ... da protestierten die Männer sofort mit bösem Blick: »Ihr redet alles schön! Aber wir befürchten, wenn wir einmal auf eurem Tisch liegen und die Narkose verpasst bekommen haben, dann geht ihr uns nicht nur an die Eier. Wir trauen euch zu, dass ihr uns den Schwanz auch noch mit abschneidet. Dann müssen wir wie die alten Muttchen in der Hocke pissen!« Die Sterilisation der Männer, die den Frauen ungemein genützt hätte, die nur einen einfachen, kurzen operativen Eingriff darstellte, der zudem keine großen Nachwirkungen oder Folgekrankheiten befürchten ließ, wurde über die Maßen boykottiert. Die Tante hatte mit ihren Helferinnen alles vorbereitet, aber niemand kam. Die Kommandostelle der Kreisgeburtenregelung rief täglich an und verlangte Zahlen. Sie war mit Gugu sehr unzufrieden. Die Kommuneparteikader hielten extra eine Sitzung ab, auf der zweierlei beschlossen wurde: 1. Beim Sterilisieren der Männer müssen die Führungskader mit gutem Beispiel vorangehen. Dies muss unter den Kadern und Arbeitenden publik gemacht werden. Im Dorf müssen allen voran die Brigadekader den Anfang machen. Erst dann wird man es in der Bevölkerung propagieren. 2. Diejenigen, die dagegen sind, dass Männer sterilisiert werden, und die Gerüchte streuen, sollen die Keule der proletarischen Diktatur zu spüren bekommen. Genügen sie den Anforderungen für eine Sterilisation, sperren sich aber dagegen, entzieht ihnen die Brigade als erstes die Arbeitserlaubnis. Fügen sie sich dann immer noch nicht, kürzt man ihnen die Reisration. Wenn sich Kader wehren, wird ihre Stelle gestrichen und ihnen ihre Position aberkannt. Wenn es sich um Angestellte des öffentlichen Dienstes handelt, werden sie entlassen. Wenn Parteimitglieder sich wehren, werden sie aus der Partei ausgeschlossen. Der Kommuneparteisekretär Qin Shan sprach höchstpersönlich durch das Megaphon zu den Leuten: »Die Geburtenplanung ist eng verknüpft mit unserer Volkswirtschaft, dem Lebensunterhalt für unser Volk. Die den Kommunen direkt unterstellten Abteilungen und die einzelnen Brigaden sind zuerst an der Reihe. Die Kader und Parteimitglieder, die für eine Sterilisation in Frage kommen, müssen den Anfang machen und sich operieren lassen. Sie müssen den Massen mit gutem Beispiel vorangehen.« Qin Shans Ton schlug plötzlich um. Mit einer Plauderstimme wie beim Familienplausch erzählte er: »Genossen, ich erzähl mal, wie es bei mir läuft. Meiner Frau haben sie, weil sie krank war, schon vor Jahren die Gebärmutter entfernt. Aber weil ich euch Männern die Angst vor diesem Eingriff nehmen will, habe ich mich dazu entschlossen, morgen Vormittag zu unserer Krankenstation zu gehen, um mich sterilisieren zu lassen.« Während seiner Rede verlangte er auch vom chinesischen Jugendverband, dem gesamtchinesischen Frauenverband und den Schulen, diesen Eingriff beim Mann mit Feuereifer zu propagieren, damit eine mächtige Sterilisationswelle anrollen könne. Wie bei allen bisherigen Kampagnen schrieb unsere Lehrerin Xue einen Sprechgesang, dessen Rhythmus mit dem Schlagholz unterstrichen wurde. Wir lernten ihn auswendig, so dass wir ihn in Höchstgeschwindigkeit hersagen konnten. Dann wurden Vierergruppen gebildet. Jeder bekam eine Flüstertüte aus Pappe oder Blech. Wir stiegen auf die Dächer der Häuser, kletterten auf die Bäume ins Geäst und begannen, lauthals zu schreien: »Genossen, macht euch keinen Kopf, in der Kommune fangt damit an! Was wir jetzt mit euch vorhaben, ist einfach, kommt auch nicht dem Sauschneider gleich! Ein kleiner Schnitt, nur fünfzehn Millimeter lang, nach einer Viertelstund schon wieder fit vom Bett er sprang. Er schwitzte und er blutete nicht, und fing am selben Tag noch zu arbeiten an.« In diesem ungewöhnlichen Frühling nahm die Kommune, so sagte mir meine Tante, an 648 Männern eine Sterilisation vor. Bei ihr persönlich kamen 310 unters Messer. Sie erzählte, man brauche den Massen eigentlich nur die Gründe ordentlich zu erklären und die politische Strategie festzulegen. Wenn die leitenden Kader den Anfang machten und Schritt für Schritt alles glatt laufe, könne man auch mit dem Verständnis der Leute rechnen. Sie würden dann mitziehen. Sie habe auf diese Weise viele Eingriffe gemacht. Der Großteil der Männer sei gemeinsam mit dem leitenden Kader seines Dorfes gekommen, der als gutes Beispiel den Anfang gemacht habe. Wirklich frech gewesen seien nur zwei, die hätten Schwierigkeiten gemacht. Da habe man dann geringfügige Zwangsmaßnahmen ergriffen, und gut war’s. Der eine sei unser Kutscher Wang Bein gewesen, der andere der Verwalter unseres Brigadekornspeichers, Xiao Oberlippe. Wang Bein habe sich auf seine guten Familienverhältnisse verlassen, deswegen habe er sich reaktionär, noch dazu arrogant und aggressiv verhalten. Kaum aus der Untersuchungshaft wieder auf freiem Fuß, schwang er laute Reden, wer es wage, ihn zur Sterilisation zu zwingen, dem werde er den blanken Stahl hineinstoßen und triefend rot wieder herausziehen! Mein Freund Wang Leber war verliebt in Gugus Assistentin Shizi und deswegen gefühlsmäßig auf Gugus Seite. Er wollte seinen Vater zur Sterilisation überreden, erntete aber nur zwei Backpfeifen. Leber floh eilends aus dem Haus, Wang Bein rannte mit der großen Kutscherpeitsche hinter ihm her. Er verfolgte ihn bis zum Teich am Dorfrand. Da standen Vater und Sohn hüben und drüben, zwischen ihnen das Wasser, und schrien sich an. Wang Bein brüllte: »Du verfickter Hundesohn! Seinen eigenen Vater zur Sterilisation überreden wollen!« Sein Sohn schrie zurück: »Wenn du meinst, dass ich einen verfickten Hund zum Vater habe, dann ist das wohl so!« Wang Bein merkte, dass er sich mit seinem Schmähruf selbst beschimpft hatte, und rannte los um den Teich, immer seinem Sohn hinterher. Sie rannten und rannten, Runde um Runde, wie in einem Kollergang. Ein ganzer Haufen Schaulustiger versammelte sich, der Öl ins Feuer goss, Zunder auflud, Wind zufächelte, damit die Flammen höher schlagen konnten. Die Folge waren unaufhörliche Lachsalven. Wang Leber hatte den scharfen Säbel heimlich von zu Haus fortgeschafft und beim Dorfparteizellensekretär Yuan Gesicht abgegeben. Er erklärte ihm, die Mordwaffe habe sein Vater schon mal vorbereitet, damit er den, der es wage, ihn zum Sterilisieren zu schleppen, einen Kopf kürzer machen könne. Yuan Gesicht wagte nicht, nachlässig zu verfahren, und nahm den Säbel mit zur Kommune, wo er meiner Tante und Parteisekretär Qin davon berichtete. Qin knallte wütend mit der Handfläche auf den Tisch. »Damit hat er sich strafbar gemacht! Zuwiderhandlung gegen die Politik der Geburtenplanung ist Konterrevolution!« Meine Tante meinte: »Wenn wir den nicht erledigen, können wir das nicht im großen Stil durchziehen.« »Auf jeden Fall. Denn alle im Dorf, die zu sterilen Männern werden sollen, schauen auf Wang Bein«, pflichtete Yuan Gesicht ihr bei und wies seine Leute an: »Nehmt diesen typischen Fall von einem Negativ-Beispiel fest!« Der alte Ning, Beamter für öffentliche Sicherheit im Kommunebüro, der immer ein Sturmgewehr um die Lenden trug, trat, Gewehr bei Fuß, sofort vor. So rückte der Dorfparteisekretär mit Nings Unterstützung zusammen mit der Vorsitzenden des chinesischen Frauenverbandes und dem Feldwebel der Volksmilizionäre mit seinen vier Milizionären aus, um den Hof des Wang Bein zu stürmen. Wangs Frau, die mit einem kleinen Mädchen an der Brust im Schatten der Bäume Strohmatten flocht, ließ, sowie sie den bedrohlichen Ansturm bemerkte, die Arbeit fallen, warf sich zu Boden und weinte in höchsten Tönen. Leber saß unter der Traufe und sagte keinen Ton, Galle kauerte auf der Schwelle und betrachte ihr zierliches Gesichtchen in einem kleinen Spiegel, als Yuan Gesicht schrie: »Wang Bein, komm raus! Wir werden nun andere Saiten mit dir aufziehen. Wenn der süße Schnaps ausgetrunken ist, folgt die bittere Medizin des Gesetzes. Kommunepolizist Ning ist auch mitgekommen. Du magst uns einmal noch entkommen sein, doch beim zweiten Mal gibt es kein Entrinnen mehr. Ein richtiger Kerl macht so was entschlossen, sauber, auf einen Streich. Was soll dieses Rumgeeiere?« »Fang Lianhua! Hör auf zu brüllen und ruf deinen Mann heraus«, riet die Vorsitzende des Frauenverbands der Frau des Wang Bein. Nichts tat sich. Yuan Gesicht blickte vielsagend zum Polizisten hinüber, ein Wink und die vier Bullen stürmten mit Seilen bewaffnet das Haus. Zu gleicher Zeit warf Leber, der unter der Traufe stand, dem Polizisten Ning einen Blick zu und zeigte auf den Schweinepferch, wo es in der Ecke rumorte. Obwohl er ein kurzes und ein langes Bein hatte, war Ning fix zu Fuß, ein paar Riesenschritte und er stand mit gezücktem Gewehr vor dem Pferch, um zu brüllen: »Wang Bein, komm raus!« Den Kopf voller Spinnweben kam dieser herausgekrochen. Die Bullen umzingelten ihn mit den Seilen. Bebend vor Wut, rieb er sich das schweißnasse Gesicht. »Hinkebein, was krakeelst du da? Kriegst du es mit deiner kaputten Flinte wieder nicht gebacken, dass einer wie ich dich fürchtet?« »Ich wollte dir gar keine Angst einjagen, mach kein Theater und komm brav mit, dann passiert dir auch nichts.« »Ach? Und wenn ich nicht mitspiele, was machen wir dann? Willst du mich jetzt erschießen, oder was? Wenn du nicht zu feige bist«, er zeigte auf seinen Hosenstall, »dann feuer hier rein. Da ist es mir lieber, du kastrierst mich mit der Knarre, als dass ich mir von diesen zwei alten Weibern mit dem Messerchen dran rumschnippeln lasse.« »Wang Bein, hör auf, so ein Blech zu reden, Sterilisation beim Mann bedeutet diese Röhre zubinden, mehr nicht«, rief die Vorsitzende des Frauenverbandes. »Dir gehört die Möse zugenäht, dass du’s weißt!« Wang Bein zeigte mit dem Finger auf ihren Schritt. Der Polizist schwenkte sein Sturmgewehr: »Marsch jetzt! Fesselt ihn!« »Woll’n mal sehn, wer hier wagt, mich anzurühren!«Bein griff sich einen Spaten und hielt die Klinge mit funkelnden Augen in Richtung der Bullen. »Nur zu, noch einen Schritt näher und ich hau euch den Schädel weg!« Genau in diesem Moment erhob sich das Püppchen Galle mit seinem kleinen Spiegel in der Hand von der Schwelle. Dreizehn Jahre alt war die Kleine damals und maß gerade mal siebzig Zentimeter. Aber trotz ihrer zurückgebliebenen Körpergröße war sie wunderhübsch und ebenmäßig gewachsen, wie eine Schönheit aus dem Zwergenland. Mit dem Spieglein leitete sie – bar jeder Bosheit – einen blendenden Sonnenstrahl direkt in das Gesicht ihres Vaters, wobei sie mit ihrem unschuldigen, engelsgleichen Stimmchen ein helles Lachen erklingen ließ. Die vier Bullen witterten ihre Gelegenheit sofort, sprangen vor und packten den vom Sonnenlicht Geblendeten, entrissen ihm den Spaten und fesselten ihm blitzschnell die Hände auf dem Rücken. Bein heulte, als man ihn band, laut auf, wie ein abgestochenes Schwein. Es war ein so herzzerreißendes Gebrüll, dass die Schaulustigen, die auf die Mauer seines Hofes geklettert waren und die sein Haupttor umlagerten, von Traurigkeit ergriffen wurden. Der Milizionär mit dem Seil in der Hand war nicht darauf vorbereitet, wurde unsicher. Was tun? Yuan Gesicht musterte Bein. »Bist du eigentlich noch ein Kerl? Dass du dich vor einer kleinen OP so fürchtest! Wo ich’s dir doch schon vorgemacht habe! Hat keinerlei Einfluss auf gar nichts in deinem Leben! Kannst deine Frau zu meiner Frau schicken, um sie zu fragen!« »Freund, hör verdammt noch mal auf damit.« Jetzt weinte Wang Bein . »Ich komm ja schon mit euch mit.« Meine Tante sagte: »Bei uns in der Kommuneverwaltung haben wir mit der Missgeburt Xiao Oberlippe den typischen Fall von einem Negativbeispiel. Wie der immer darauf herumreitet, wie viele Krankentragen er im Untergrundkrankenhaus der Achten Route-Armee geschleppt hat! Wohl bis zum Umfallen ... Als die Kommuneparteikader sich berieten und beschlossen, seinen Arbeitsplatz zu streichen und ihn in sein Dorf zurückzuschicken, damit er wieder als Bauer arbeitete, kam er von sich aus auf einem kaputten Fahrrad zur Krankenstation geradelt. Ich solle ihm die OP machen, so kam er an. Der ist ein Zoten reißender Lustmolch, ein Herumtreiber. Auf dem Operationstisch ärgerte er Shizi mit dämlichen Fragen: ›Kleine, ich versteh nicht, was passiert denn eigentlich mit meinem Sperma? Wo man doch sagt: Ist der Kanal mit Sperma erst mal voll, läuft’s auch von selber raus. Was passiert, wenn ihr die Samenleiter zubindet? Platzt mir dann der Bauch?‹ Mit schamrotem Gesicht blickte Shizi mich an, aber ich sagte nur: ›Rasieren!‹ Der kriegte bei der Rasur doch tatsächlich eine Erektion. Die Kleine hatte so was niemals zuvor gesehen, schmiss das Skalpell fort und nahm Reißaus. Ich sagte nur, ›Anständige Gedanken sind Voraussetzung.‹ – ›Habe ich! Was kann ich dafür, wenn der steif wird?‹, meinte er dickfellig. ›Nun gut‹, sage ich, nehme einen Gummihammer, ziele und haue einmal nachlässig drauf. War sofort wieder schlaff, das Ding. Und ich schwöre beim Himmel, dass ich Wang Bein genau wie Xiao Oberlippe sehr sorgfältig operierte. Die OPs waren hundertprozentig geglückt. Trotzdem leidet Wang Bein seitdem unter Lendenschmerzen und kann nicht mehr aufrecht gehen, er sagt, ich habe ihm seine Nerven durchtrennt, und Xiao Oberlippe kam wieder und wieder zur Krankenstation und beschwerte sich. Bis zur Kreisregierung hoch ging er damit. Er beschuldigte mich, ich hätte ihn zu einem impotenten Mann gemacht ... Diese Halunken! Bei Wang Bein sind es vielleicht psychosomatische Beschwerden. Aber Oberlippe lügt. Keine Frage, der lügt wie gedruckt. Ich will nicht wissen, wie viele junge Mädchen der während der Kulturrevolution, als er eine Zeitlang so eine Art Boss bei den Roten Garden war, ins Bett und damit ins Unglück gezerrt hat. Wäre er nicht sterilisiert gewesen, hätte er Bedenken gehabt, ein Mädchen zu schwängern. Er hätte Scham verspürt, Konsequenzen gefürchtet, die solch ein Tabubruch nach sich zieht. Aber so ... war doch nichts zu bedenken.« 15 Die Kampf- und Kritiksitzung, bei der es Kreisparteisekretär Yang Lin an den Kragen gehen sollte, war überfüllt. Xiao Oberlippe, Leiter des Revolutionskomitees, hatte sich deshalb etwas Besonderes einfallen lassen und das Ganze ans Nordufer unseres Kiaolai-Flusses in das Rückhaltegebiet verlegt. Es war tiefster Winter und der Fluss von einer mächtigen Eisdecke überzogen. Soweit das Auge blickte: eine kristallene Welt. Ich war der erste, der erfuhr, dass die Massenkritikversammlung hier abgehalten werden sollte, nur deshalb, weil ich den Unterricht oft schwänzte und immer zum Spielen hierherkam. Als ich an jenem Tag dabei war, unten am Schleusentor zum Rückhaltebecken ein Loch zum Angeln ins Eis zu hauen, hörte ich von oben Stimmen. Ich konnte Xiao Oberlippe sprechen hören. Dessen lautes Organ hätte ich auch unter zehntausend Leuten noch herausgehört. »Diese scheißverlassene Nordpollandschaft! Wenn wir hier die große Massenkritikversammlung veranstalten, errichten wir das Podium über dem Schleusentor des Rückhaltebeckens.« Beim Fluss hatte sich ursprünglich eine riesige Senke befunden. Später hatte man, um problemlos stromabwärts schippern zu können, am Flussdeich des Kiaolai-Flusses Schleusentore für das Rückhaltebecken gebaut und immer, wenn der Fluss im Sommer und Herbst Hochwasser führte und Überschwemmungen drohten, die Schleusentore geöffnet und die Senke in einen See verwandelt. Damals waren wir in Nordost-Gaomi darüber sehr ungehalten, denn unser Boden war, obgleich Senke, doch Ackerland. Er war zwar nur für Mohrenhirse gut gewesen, aber die war auf ihm immer gut gediehen. Die kleinen Leute und Bauern hatten gegen den Staat nichts ausrichten können. Es war zwecklos gewesen, sich zu widersetzen. Immer, wenn ich den Unterricht schwänzte, und ich schwänzte oft die Schule, rannte ich zur Schleuse, um den brodelnden, in die Tiefe stürzenden Wassermassen bei ihrem Durchtritt durch die zwölf Schächte zuzuschauen. War das Hochwasser endlich vorüber, war aus dem Rückhaltebecken ein weites Meer geworden, ein sieben oder acht Quadratkilometer umfassender See mit vielen Schrimps und Fischen. Die Angler kamen in Scharen, und es gab auch zahlreiche Fischverkäufer. Zuerst schlugen sie ihre Stände auf den Schleusenmauern auf. Als da nichts mehr frei war, nutzten sie das Ostufer des Rückhaltebeckens und standen einer neben dem anderen mit den Fischern unter den Weiden längs des Ufers. In Hochzeiten waren es oft tausend Meter Fischstände in einer Reihe. Eigentlich war der Wochenmarkt vor der Kommuneverwaltung angesiedelt, aber seit hier ein Fischmarkt abgehalten wurde, zogen immer mehr Marktstände mit anderen Waren hierher um. Die Gemüseverkäufer, die Eierverkäufer und die Erdnussröster waren schon da. Auch die Rumtreiber, Taschendiebe, Schurken und Bettler waren mitgekommen. Die bewaffnete Volkswehr, die die Kommune zusammengestellt hatte, war einige Male vor Ort gewesen und hatte die fliegenden Händler und das Pack vertrieben. Dann herrschte jedes Mal Chaos. Jeder rannte, was er konnte, wenn die Milizionäre kamen. Doch kaum waren sie wieder abgezogen, trauten sich alle wieder hervor und versammelten sich aufs Neue. So bestand der Fischmarkt unerlaubt, aber geduldet, fort. Ich für meine Person liebe es, mir Fische anzusehen. Ich sah dort Schuppenkarpfen, Spiegelkarpfen, Silberkarpfen, Karauschen, Welse, Schlangenkopffische, Kiemenschlitzaale. Und Süßwasserkrebse, Schlammpeitzger und Süßwassermuscheln guckte ich mir auch an. Ich erblickte einen wohl über fünfzig Kilo schweren Riesenfisch mit einem Bauch, so weiß und rund wie der einer Schwangeren. Der Alte, der ihn verkaufte, kauerte neben dem Fisch, als gelte es, einen Flussgott zu beschützen. Ich kannte die Fischhändler, die ihre Augen und Ohren immer überall hatten, gut. Sie waren alle meine Kumpel. Warum sie immer als erste und besonders gut informiert über alles waren? Der Grund war, dass der Steuereintreiber des Kommunesteueramts zwar regelmäßig vorbeikam, ihnen aber nur selten ein paar Fische abnahm. Doch es gab Aushilfskräfte in der Kommune, die sich als Steuereinnehmer ausgaben und versuchten, sich an den Fischhändlern zu bereichern. Den fünfzig Kilo schweren Riesenfisch hätten zwei solche Brüder in blauen Uniformen, die Fluppen in den Mundwinkeln, die schwarzen Aktenmappen unterm Arm, dem Alten auch um ein Haar abgenommen. Wäre die Tochter des Fischverkäufers nicht plötzlich herbeigestürzt und hätte laut weinend Krach geschlagen! Hätte Qin Strom die beiden nicht als Betrüger entlarvt! Kein Zweifel, der Fisch wäre weggetragen worden! Qin Strom war der mit der Mittelscheitelfrisur in der blauen Schüleruniform aus Gabardine, mit dem Füller Marke HERO DOCTOR und dem Zweifarbenkuli Marke NEUES CHINA in der Brusttasche. Er sah haargenau aus wie ein Bettelstudent aus der Zeit der Vierten-Mai-Bewegung. Ein fahler Teint, ein kummervolles Gesicht mit wässrigen Augen, als wenn er jeden Moment in Tränen ausbräche. Dabei war er ein herausragender Redner, sprach problemlos chinesische Hochsprache, jeder seiner Sätze perfekt, als entstammte er dem Bühnentext eines Schauspiels – dass ich mich letztlich für das Schreiben eines Theaterstücks entschieden habe, ist unter seinem Einfluss geschehen. Er lief immer mit einer Henkeltasse aus Emaille herum, bedruckt mit einem roten fünfzackigen Stern und dem Schriftzeichen 奖 für »Auszeichnung«. Liebenswürdig sprach er an den Ständen die Fischverkäufer an: »Genossen! Ich habe meine Arbeitsfähigkeit eingebüßt! Vielleicht denkt ihr, ach was, dieser junge Spund ist doch nicht arbeitsunfähig! Aber Genossen, ich sage euch, ihr seht nur mein Äußeres, dabei bin ich schwer herzkrank. Man hat mir mit einem Dolch ins Herz gestochen. Bei der geringsten Anstrengung platzen die Narben wieder auf. Und wenn das passiert, blute ich aus allen sieben Körperöffnungen, so lange, bis ich verblutet bin. Genosse, bitteschön, schenk mir einen Fisch. Keinen großen! So unbescheiden will ich nicht sein: einen kleinen, deinen allerkleinsten!« Er schaffte es immer, sich Fisch oder Garnelen zu erbetteln. Mit der Beute verschwand er ans Wasser, machte sie mit einem kleinen Messer kochfertig, suchte einen windgeschützten Ort, wo er zusammengesuchtes Holz aufschichtete, zwei Backsteine darüberlegte, um sodann seinen Henkeltopf mit dem Fisch darauf zu stellen und das Feuer zu entfachen. Oft stand ich hinter ihm, wenn er Fisch kochte. Es duftete so köstlich aus seiner Henkeltasse, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich ihn in den Tiefen meines Herzens um sein Leben beneidete. Er war der leibliche kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs Qin Shan. Früher war er mal der begabteste, aber eigenwilligste Schüler der ersten Kreismittelschule gewesen. Dass der kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs am Fluss bei den Marktschreiern bettelte, musste wohl einen schwerwiegenden Grund haben! Man munkelte, er wäre schon immer hoffnungslos in meine Tante verliebt gewesen. Und dass man ihn so gereizt habe, dass er sich die Pistole seines Bruders gegriffen habe, ihm der Selbstmord aber missglückt sei. Und dass er nach dem Verheilen seiner Verletzungen wie verwandelt gewesen sei. Zuerst verlachten ihn die Fischverkäufer, aber nachdem er den Riesenfisch des alten Han gerettet hatte, sahen sie ihn mit anderen Augen. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Ich wollte so gern wissen, was in ihm vorging. Ich fühlte auch Mitleid, wenn ich in seine tränenfeuchten Augen blickte. Eines Abends folgte ich ihm, als er, nachdem die Marktleute mit ihren Ständen abgezogen waren, mit seinem langen Schatten im Schlepptau der untergehenden Sonne entgegenging. Ich tat es heimlich, weil ich sein Geheimnis erfahren wollte. Ich wollte auf keinen Fall von ihm entdeckt werden. Aber er spürte, dass ich ihm folgte, hielt inne, wandte sich nach mir um und verbeugte sich ehrerbietig. »Verehrter Freund, ich bitte Sie doch, das zu unterlassen!« Ich machte ihn nach und sagte im selben gekünstelten Tonfall: »Verehrter Freund! Ich habe nichts getan.« Bemitleidenswert, jämmerlich war er, als er mir antwortete: »Ich möchte sagen, bitte folgen Sie mir nicht!« Ich wieder: »Du gehst hier, und ich gehe hier auch. Ich folge dir nicht.« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Bitte hab doch Mitleid mit einem Unglückseligen wie mir!« Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort. Ich folgte ihm immer noch ... Er begann zu rennen, mit Riesenschritten, die Knie hob er hoch bis zum Bauch und lief leicht wie eine Feder mit schwankendem Körper, wie eine Anziehpuppe aus Papier. Ich strengte mich nicht weiter an und hatte ihn schon bald eingeholt. Schnaufend, außer Atem, mit einem Gesicht wie aus goldenem Totenpapier bettelte er tränenüberströmt: »Freund, ich flehe Sie an, lassen Sie mich laufen! Ich bin ein Stück Müll, ein ehemals Schwerverletzter ...« Ich war gerührt, blieb stehen und folgte ihm nicht mehr, hörte aber noch eine Weile zu, wie seiner Kehle wimmernde Laute entfuhren. Dabei hatte ich nur etwas über sein Leben erfahren wollen, wohin er nachts zum Schlafen ging, mehr nicht. Damals war ich ein Teenager von dreizehn, vierzehn Jahren mit staksigen, langen Beinen und Riesenschuhen, bereits Größe 40. Meine Mutter hatte mit meinen großen Füßen ihren Kummer. Unser Sportlehrer Chen hatte früher einmal auf Provinzebene Leichtathletik betrieben. Er hatte damals zur Mannschaft von Shandong gehört, ein echter Spitzenathlet, aber ein Rechter. Wie ein Pferdehändler auf dem Maultiermarkt hatte er mir in Beine und Füße gekniffen und war zu dem Schluss gekommen, dass bei mir die Substanz gut sei und er mich besonders fördern wolle. Er lehrte mich die Beine richtig heben, in großen Schritten laufen, dabei ausgewogen atmen und die eigenen Kräfte einteilen. Ich erreichte von allen Grund- und Mittelschülern bei uns im Kreis über dreitausend Meter den dritten Platz. Wegen dieses guten Ergebnisses wurde es bei uns im Dorf geduldet, es war sozusagen inoffiziell erlaubt, dass ich regelmäßig den Unterricht schwänzte und als Training zum Fischmarkt rannte. Nachdem ich Qin Strom hinterhergerannt war, wurden wir beide Freunde. Wenn wir uns sahen, nickte er mir jedes Mal aufmerksam zu. Er war zwölf, dreizehn Jahre älter als ich. Es war ein bisschen, als suche ein älterer Mann einen Eleven als Freund, damit er sein Altern vergisst. Außer ihm gab es auf dem Markt noch zwei andere Bettler, einen breitschultrigen Typen mit großen Pranken, namens Gao Men, der wohl Riesenkräfte hatte. Und einen anderen, der Lu Huahua hieß und an Gelbsucht litt. Warum er diesen mädchenhaften Vornamen Huahua trug, kann ich nicht sagen. Eines Tages sah ich zu, wie die beiden Bettler Qin Strom mit vereinten Kräften brutal zusammenschlugen, der eine mit einer Weidenrute, der andere mit einem kaputten Schuh. Qin Strom wehrte sich nicht, sondern sagte nur immer: »Schlagt mich nur tot, meine guten Freunde. Ich danke es euch. Aber esst keine Frösche. Frösche sind die Freunde der Menschen. Sie sind nicht genießbar, zudem voller Parasiten. Werden sie trotzdem genossen, erkrankt der Mensch an Wahnsinn.« Ich bemerkte das Lagerfeuer unter der Weide. Weißer Qualm stieg empor, auf dem Feuer brieten Frösche, die noch nicht gar waren. Neben dem Feuer sah ich die Knochen und die Haut von ein paar anderen Fröschen, die einen ekelerregenden Geruch verströmten. Ich begriff: Qin Strom bekam Prügel, weil er die beiden davon abhalten wollte, Frösche zu essen. Mir kamen die Tränen, als ich ihnen beim Prügeln zusah. Während der großen Hungersnot hatten viele Leute Frösche gegessen. In unserer Familie war das tabu gewesen. Wir hatten uns vor den Froschessern immer sehr geekelt. In unserer Sippe wäre man lieber verhungert. In diesem Punkt waren wir beide Seelenverwandte. Ich griff mir einen rotglühenden Ast aus dem Feuer und hieb Gao Men auf den Hintern, Lu Hua piekte ich damit in den Hals. Dann rannte ich, was ich konnte, immer am Ufer entlang. Ich hielt einen ausreichenden Abstand zu ihnen und neckte sie, damit sie mir weiter hinterherrannten. Als sie mir nicht mehr folgten und stehenblieben, begann ich sie zu beschimpfen und mit Tonscherben nach ihnen zu werfen. Am Tag der Massenkritikversammlung waren alle Bewohner der vierundzwanzig Dörfer unserer Kommune Schub um Schub, bewehrt mit roten Fahnen, Trommeln, Becken und Hausrat, mit dem man Krach machen konnte, auf dem zugefrorenen Rückhaltebecken zusammengekommen. Manche hatten die Straße genommen, manche waren direkt über den Fluss gelaufen, die Bösewichte aus ihren Dörfern eskortierend, um sie vorzuführen, bevor unser als Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht verschrienes Kreisoberhaupt Yang Lin der Massenkritik unterzogen werden würde. Denn die dorfeigenen Bösewichte sollten als Vorgruppe herhalten. Auf dem Fluss gingen wir über das spiegelglatte Eis, manch einer kam auf selbstgebauten Gleitboards. Mein Lehrer Chen, dem ich wegen der Bevorzugung meiner Person so viel verdanke, marschierte barfuß in kaputten Strohsandalen, über das ganze Gesicht grinsend, seinem bitter dreinblickenden Schulleiter hinterher, der wie er einen spitzen Papierhut trug. Xiao Unterlippe trieb sie mit einem Speer in der Hand vorwärts. Sein Vater war damals gerade Leiter des Kommunerevolutionskomitees und Truppführer der Roten Garden an unserer Schule geworden. Das Paar weiße Warrior-Sportschuhe, das er trug, hatte er meinem Lehrer von den Füßen gestreift. Die Schreckschusspistole, die einen doppelten Knall abgab – sie war Staatseigentum, dennoch baumelte sie jetzt um Xiao Unterlippes Lenden – hätte ich gern gehabt. Was hätte ich darum gegeben! Andauernd zog er sie hervor, feuerte einen Schuss ab, lud Schießpulver nach und feuerte wieder ohrenbetäubend gen Himmel: Bum, bum machte es. Dabei zischte weißer Mündungsqualm in die Höhe und füllte die Luft mit wohlriechendem Salpeter- und Schwefelgeruch. Als die Kulturrevolution begonnen hatte, wäre ich auch gern den Roten Garden beigetreten. Doch Xiao Unterlippe hatte mich nicht haben wollen. Er hatte gesagt, ich, der Zögling des rechtsabweichlerischen Lehrers Chen sei ein schwarzer Schandfleck. Und mein Großonkel, der mit den Japanern unter einer Decke gesteckt habe, sei ein Verräter gewesen ... Ein falscher Held des Volkes. Meine Tante sei ein Spitzel der Kuomintang, Verlobte eines Landesverräters und die Geliebte von einem, der den kapitalistischen Weg gehe. Um mich an ihm zu rächen, klaubte ich einen Haufen Hundescheiße auf, wickelte ihn in ein paar Blätter und verbarg den Haufen in meiner Hand. Als ich vor ihm stand, rief ich: »Unterlippe, was ist mit deiner Zunge? Die ist ja ganz schwarz!« Er tappte in die Falle und sperrte sein Maul auf, während ich ihm mit der Scheiße das Maul stopfte. Dann rannte ich, was ich konnte. Er konnte mich nicht einholen. Außer Lehrer Chen konnte mich keiner an der Schule einholen. Als ich Unterlippe in den Schuhen meines Lehrers, mit dem Speer und der Schreckschusspistole um die Lenden erblickt hatte – diese Memme, mit den Sachen anderer Leute auftrumpfen und sich wer weiß was drauf einbilden –, spürte ich einen brennenden Hass, mit Eifersucht gepaart: Jetzt würde ich ihn fertigmachen! Ich wusste, dass er eine Wahnsinnsangst vor Schlangen hatte. Wo aber sollte ich eine hernehmen, jetzt um diese Jahreszeit? Also griff ich mir einen gammligen, alten Strick, den ich unter den Maulbeerbäumen am Ufer gefunden hatte, wurschtelte ihn mit den Händen zurecht, verbarg ihn hinter meinem Rücken und näherte mich unbemerkt Unterlippe. Schnell warf ich ihm den Strick um den Hals, wand ihn einmal herum und schrie dabei: »Vorsicht, Giftschlange!« Er gab einen sonderbaren Schrei von sich, schmiss den scharfen Speer fort und griff sich hastig an den Hals, um sich von der Schlange zu befreien. Als er merkte, dass das, was von ihm herabfiel, nur ein Strick war, kam er wieder zu sich. Zähneknirschend hob er den Speer auf und sagte grollend: »Kleiner Renner, du Konterrevolutionär! Ich mach dich kalt!« Dabei zielte er mit dem Speer auf mich und stürzte vor, um mich zu bajonettieren. Ich rannte. Er hinter mir her. Beim Rennen auf dem Eis hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Lauftechnik, ich spürte einen bedrohlichen, kalten Windzug im Rücken. Gleich würde der Speer meinen Rücken durchbohren ... Ich wusste, dass dieser fiese Kerl ihn auf dem Schleifrad messerscharf gewetzt hatte, dass sein Herz schwarz wie die Hölle, seine Hand tödlich war. Seit Unterlippe die scharfe Waffe besaß, war seine Mordlust noch gewachsen. Grundlos bohrte er, wo er gerade war, seinen Speer in Bäume, er benutzte aus Hirsestroh gefertigte Puppen in Menschengröße als Zielscheiben. Es war nicht lange her, dass er einen Eber, der dabei war, eine Sau zu belegen, totgestochen hatte. Ich rannte und schaute im Laufen hinter mich, sah seine nach oben abstehenden Haare, seinen starr auf mich gerichteten Blick. Wenn er mich jetzt einholte, würde ich mein Leben aushauchen. Ich rannte, umrundete Hindernisse, schlüpfte zwischen den Menschentrauben hindurch, rannte wieder, fiel hin, rollte, kroch weiter, fast hätte mich sein böser Speer getroffen. Doch daneben! Der Speer bohrte sich ins Eis. Eissplitter flogen auf. Unterlippe fiel hin. Ich rappelte mich auf, rannte weiter. Er rappelte sich auf, verfolgte mich wieder, rempelte Leute an, Frauen, Männer. Verdorbene Blagen! Was schubst ihr so? Zu Hilfe! Zu Hilfe! Mörder! Einer, der im Rhythmus der zur Bühne marschierenden Bösewichte die Trommel schlug, kam, von mir angerempelt, aus dem Takt – den Bösewichten fielen die spitzen Papierhüte vom Kopf –, ich umrundete Nases Vater Chen Stirn, seine Mutter Alina, Backes Vater Yuan Gesicht – auch er war zu einem Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht abgestempelt worden –, und ich preschte an Wang Bein vorbei. Ich sah Mutters Gesicht, hörte ihr lautes Schreien, sah meinen Freund Leber, hörte ein dumpfes Geräusch, dann Unterlippes schmerzverzerrten Aufschrei – später sollte ich erfahren, dass Leber ihm schnell ein Bein gestellt hatte, so dass er vornüber hingeschlagen war und mit den Zähnen ins Eis gebissen hatte. Die Lippen waren aufgeschlagen. Glück hatte er, dass er seine Schneidezähne behalten hatte. Unterlippe rappelte sich wieder auf, wollte es Leber heimzahlen, doch Wang Bein konnte ihn einschüchtern. »Unterlippe, du Bastard! Wag es, meinem Sohn ein Haar zu krümmen, und ich kratze die deine zwei Augäpfel aus den Augenhöhlen! Wir sind seit drei Generationen Lohnbauern. Auch wenn andere dich fürchten, ich fürchte dich nicht!« Der Versammlungsort war von Menschen überflutet. Auf dem Rückhaltebecken hatte man eine aus Brettern und Schilfmatten ansehnlich zurechtgezimmerte Bühne aufgestellt. In jenen Zeiten war es in den Kommunen üblich, einen Arbeitstrupp aus handwerklich versierten Männern durchzufüttern, Topleute, die allein zum Bühnenbau oder Tafelbau für die Kampagnen eingesetzt wurden. Auf der Bühne flatterten an die fünfzig rote Flaggen an Fahnenstangen, querformatige Spruchbänder waren aufgehängt, und in den Ecken rechts und links hatte man zwei große Pfosten aufgestellt und vier riesige Lautsprecher daran befestigt. Während die Teilnehmer sich versammelten, ertönte aus den Lautsprechern das Maobibel-Lied: Wahrheiten des Marxismus gibt es viele, aber schließlich trifft ein Satz den Kern, der lautet: Rebellion ist gerechtfertigt! Rebellion ist gerechtfertigt! Es war ja so viel los. Wirklich aufregend war das alles. Ich befand mich mitten in der Menge und drängelte mich mit nach vorn. Ich wollte unbedingt einen Platz neben der Bühne ergattern. Die von mir weggeboxten Leute traten ohne einen Funken Höflichkeit mit den Füßen nach mir, hieben mir mit geballter Faust auf den Kopf, keilten mit den Ellenbogen nach mir aus. Nass bis auf die Haut, mit grünen und blauen Flecken am ganzen Körper, hatte ich schließlich meine Kräfte verpulvert. Ich war aber keinen Schritt weiter in Richtung Bühne gekommen, sondern befand mich weiter hinten als zuvor. Ich hörte, wie es unter der Eisoberfläche widerhallte. Mich beschlich eine ungute Vorahnung, als ein Mann mit einer Stimme wie ein Erpel durchs Megaphon brüllte: »Die Kritik- und Kampfversammlung beginnt! Ich bitte die Armen und die Mittelbauern um Ruhe! Die ersten Reihen sollen sich setzen. Hinsetzen! Hinsetzen!« Ich verschwand ans Westufer des Rückhaltebeckens. Dort gab es drei Kornspeicher, die auch als Schleusenraum dienen konnten. Ich kam von der rückwärtigen Seite der Speicher, zog mich an den Fugenritzen der Mauer hoch, klammerte mich mit den Händen an der Traufe fest, um mich dann wie eine Steppenweihe im Gaukelflug über die Mauer aufs Dach hinaufzuschwingen. Ich robbte die Dachziegelreihen hoch, kletterte leise auf den First und machte den Hals lang, um mich umzublicken. So weit das Auge reichte, sah ich Abertausende von Menschen und unzählige rote Flaggen. Das Rot füllte meine Augen, und das Eis auf der Wasseroberfläche blendete. Auf der Bühne knieten mit gesenkten Häuptern wohl an die fünfzig Leute. Ich wusste, dass es die Rinder- und Schlangenteufel aus der Kommune waren, die gleich der Massenkritik unterzogen würden. Xiao Oberlippe schrie mit berstender Stimme ins Megaphon. Dieser verkommene Verwalter unseres Brigadekornspeichers hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass er es, verdammt noch mal, zum Kommandanten bringen würde. Aber seit Beginn der Kulturrevolution führte er die Leute in die Rebellion, denn er hatte eine Truppe mit dem Namen »Sturmrebellen« gegründet und sich selbst zu deren Kommandanten berufen. Er trug eine verblichene, mit dunklen Flicken gestopfte Militäruniform mit einer roten Armbinde. Spärlicher Haarwuchs umkränzte seine im Sonnenlicht gleißende Glatze. Er imitierte Gestik und Tonfall, die wir von gewichtigen Persönlichkeiten aus Filmen kennen: langgezogene Laute, eine Hand in die Taille gestützt, die andere wild gestikulierend, der Körper in ständig wechselnden, raumgreifenden Posen. Seine Stimme wurde in ohrenbetäubender Lautstärke durch Hochfrequenzlautsprecher übertragen. Wie tosend gegen Stein klatschende Meeresfluten dröhnte das Brüllen der Massen vom Platz zu mir herüber. Offenbar kam es zu Störungen, denn wenn es auf der einen Seite still wurde, donnerte es von der anderen Seite. Ich sorgte mich um meine Mutter und die anderen alten Leute aus unserem Dorf. Also suchte ich mit den Augen das Eis nach ihnen ab, aber es reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass ich nichts sehen konnte. Der Eiswind blies mir durch meine zerlumpte Steppjacke bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich. Auf einen Wink von Xiao Oberlippe griffen sich zehn, zwanzig Muskelpakete mit roten Armbinden, auf denen »Kontrollposten« stand, einen Knüppel, sprangen von der Bühne in die Menge und ließen die Knüppel tanzen, um die Ordnung zu wahren. An die Knüppelspitzen waren rote Stoffstreifen geknotet, die wie Flammen tanzten. Ein Junge bekam einen Schlag auf den Kopf, griff aufgebracht nach dem Knüppel, diskutierte lautstark mit dem Kontrollposten, bekam aber einen Faustschlag vor die Brust. Die Kontrollposten hatten Gesichter wie Stein. Bar jeden Gefühls schlugen sie zu, der Knüppel machte die Runde, die Menschen warfen sich wie rasend bäuchlings zu Boden. Durch die Lautsprecher schallte Xiao Oberlippes Geschrei. »Alle setzen! Auf den Boden setzen! Holt die elenden Bösewichte rauf!« Der Junge, der den Faustschlag auf die Brust bekommen hatte, wurde an den Haaren aus der Menge gleich mit nach oben gezerrt. Da waren unten auf dem Eis alle schlagartig ruhig. Manche knieten, manche saßen. Keiner wagte mehr aufzustehen. Die Kontrollposten stellten sich mit ihren langen Knüppeln gleichmäßig verteilt in der Menge auf. Wie die Vogelscheuchen im Feld! »Zerrt die Rinder- und Schlangenteufel auf die Bühne!«, brüllte Oberlippe. Die Kontrollposten mit den Steingesichtern brachten die Rinder- und Schlangenteufel immer zu zweit auf die Bühne, einer packte sie von rechts, einer von links unterm Arm, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Ich sah meine Tante. Gugu gehorchte nicht. Als der Kontrollposten ihr den Kopf auf den Boden drückte und nur eben die Hand lockerte, kam sie geschwind wieder hoch. Ihr Widerstand machte ihn nur brutaler, er zwang sie nieder, prügelte sie, dass sie bäuchlings auf dem Boden zu liegen kam, während ein anderer Kontrolleur den Fuß auf ihren Rücken stellte und darauf stehen blieb. Da sprang so ein Parolenschreier aus der Menge auf die Bühne und brüllte eine Parole. Aber sehr spärlich tönte die Antwort. Das missfiel ihm, und er machte sich gleich wieder davon. Im selben Moment ertönte gellendes Weinen. Es war meine Mutter. »Himmel, bewahre meine arme Schwägerin! Ihr Bestien, ihr sündigen, elenden, ihr seid schlimmer als Tiere!« Unterlippe gab den Befehl, die Rinder- und Schlangenteufel wieder hinunterzubringen, damit er meine Tante allein auf der Bühne hatte. Der Kontrollposten stand immer noch mit einem Fuß auf ihrem Rücken und machte ein furchtloses Heldengesicht. Seine Pose sah aus wie eine Illustration der damals üblichen Parolen – »den Klassenfeind zu Boden werfen und einen Fuß auf ihn setzen«. Meine Tante bewegte sich nicht mehr. Ich befürchtete, sie sei bereits tot. Das Weinen meiner Mutter war verstummt. Ich hatte Angst, auch sie sei tot. Die von der Bühne hinuntergetriebenen Rinder- und Schlangenteufel drängten sich um die große Pappel. Ein paar Aufseher bewachten sie mit gezückten Gewehren. Wie die Bösewichte da mit hängenden Köpfen auf dem Boden hockten, sahen sie aus wie eine Tonskulpturengruppe. Huang Qiuya saß mit dem Rücken zur Mauer, den Hinterkopf angelehnt. Man hatte ihr die Haare mit einer Schere auf einer Seite bis zum Scheitel abgeschnitten, es sah grässlich aus. Ich hatte aufgeschnappt, dass meine Tante in der Anfangsphase der Kampagne eine der Gründerinnen des »Henry Norman Bethune Kampftrupps« unseres Krankenhauses gewesen war. Und dass sie sich sehr heißblütig am Kampf beteiligt habe, auch gegen ihren alten Krankenhausdirektor, der sie einmal in Schutz genommen hatte, und noch gemeiner gegen Huang Qiuya. Ich kann schon verstehen, dass meine Tante dies aus Selbstschutz getan hatte. Wie jemand, der im Dunklen durch die Nacht reisen muss und lauthals singt, dessen Herz sich aber zur gleichen Zeit ängstlich zusammenkrampft. Ihr alter Direktor war ein warmherziger Mensch gewesen. Er hatte der Erniedrigung nicht standgehalten und sich im Brunnen ertränkt. Huang Qiuya brachte nun, vielleicht aus Rache, vielleicht, weil sie sich genötigt fühlte, manches über meine Tante und Wang Xiaoti an den Tag und lieferte Beweise für geheime Kontakte, die beide unterhalten hätten. Sie sagte, dass Wan Herz nachts im Traum laut »Wang Xiaoti« gerufen habe und dass sie sie eines Nachts, als sie Nachtschicht gehabt habe und darum erst spät ins Wohnheim zurückgekommen sei, nicht angetroffen habe. Wohin eine trübsinnige, alleinstehende Frau denn mitten in der Nacht wohl zu laufen hätte? Auf der Suche nach ihr habe sie sie am Ufer des Kiaolai-Flusses im Weidenwald stehen und drei rote Rauchsignale abschießen sehen. Kurz danach sei aus großer Höhe das Brummen von Flugzeugmotoren zu hören gewesen. Nach einiger Zeit habe sich jemand heimlich ins Wohnheim geschlichen. Der Gestalt nach sei es zweifellos Wan Herz gewesen. Dem Krankenhausdirektor habe sie darüber sofort Bericht erstattet, der jedoch sei wie Wan Herz ein »Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht«, und er habe nichts verlauten lassen. Wan Herz sei zweifelsohne eine Spionin der Kuomintang. Diese Geschichte hätte schon gereicht, um meine Tante unter die Erde zu bringen, aber Huang Qiuya hatte noch eine weitere in petto und berichtete, meine Tante sei oft in die Kreisstadt gefahren, weil sie eine Affäre mit dem Kapitalisten Yang Lin habe, und sie sei von ihm auch schwanger geworden, die Abtreibung habe sie, Huang, eigenhändig vorgenommen. Die Massen sind erfinderisch, wenn’s ums Ausschmücken und Dazuerfinden geht, sie verfügen über eine überbordende, bösartige Phantasie. Huang Qiuya hatte zwei große Verbrechen meiner Tante aufgedeckt und damit die Sensationslust der Massen befriedigt. Die Massen hatten ihren Hunger nach Sensationen umso mehr gestillt, weil Gugu nichts von alledem zugegeben, sondern beständig Widerstand geleistet hatte. Die Tage, an denen man bei uns in Nordost-Gaomi diese Kritik- und Kampfversammlungen abhielt, wurden zu berühmten Schandtagen. Jedes Mal stritt meine Tante unablässig und lauthals alle Vorwürfe ab. Ich verfolgte alles vom Dach aus; ich befand mich oberhalb von Huang Qiuya und hatte deshalb ihren geschorenen »Yin und Yang-Kopf« im Blick. Ich verspürte Hass, Mitleid, Verstörung, Horror und Trauer. Ich nahm einen Ziegel vom Dach und zielte damit auf ihren Kopf. Ich hätte nur die Hand öffnen müssen, und der Ziegel wäre hinunter auf ihren Kopf gefallen. Aber ich kam ins Grübeln, schließlich tat ich es nicht. Viele Jahre später erzählte ich meiner Tante davon. »Ich bin dir dankbar dafür, dass du es nicht getan hast! Sonst wäre mir noch mehr Schuld aufgeladen worden und die Anklage noch schwerer ausgefallen.« Auf ihre alten Tage meinte sie immer, dass sie Schuld auf sich geladen habe, und zwar eine besonders schwerwiegende Schuld, von der sie niemals frei werden würde. Ich fand, sie sollte die Schuld nicht nur bei sich selbst suchen. In jener Zeit habe doch keiner besser gehandelt als sie, da habe man nehmen können, wen man wollte. Aber meine Tante sagte nur immer: »Kind, du verstehst das nicht.« Als sie Yang Lin auf die Bühne zwangen und vorführten, nahm der, der mit einem Bein auf dem Rückgrat meiner Tante stand, seinen Fuß weg. Sie zogen sie hoch und stellten sie mit vornüber gebeugtem Oberkörper und nach unten gepresstem Kopf, die Arme auf dem Rücken gefesselt, neben Yang Lin auf. Die Pose glich der Form nach dem Tiger-5 Jet, den dieser Wang Xiaoti geflogen hatte. Ich konnte auf Yang Lins Glatze herabgucken. Noch vor einem halben Jahr hatte er sich in so göttergleichen, unerreichbaren Sphären bewegt, dass wir uns schon Hoffnungen gemacht hatten, meine Tante könnte sich mit ihm auf ewig verbinden, obschon er doch zwanzig und mehr Jahre älter als sie war. Sie hätte zwar nur den Platz seiner verstorbenen Gattin eingenommen, aber dadurch wäre sie Ehefrau des Parteisekretärs geworden. Mit dem stattlichen monatlichen Sold eines hohen Kaders war er eine Persönlichkeit gewesen, die, Sekretär und Polizist im Gefolge, in einem grasgrünen Jeep aufs Land chauffiert worden war. Jahre später sagte mir Gugu einmal: »Ich hätte ihn gern geheiratet, obwohl ich mich mit ihm nur ein einziges Mal getroffen hatte, obwohl ich auch seinen Bauch nicht leiden konnte, der aussah wie der einer im achten Monat Schwangeren, obwohl ich auch den strengen Knoblauchgeruch aus seinem Mund nicht mochte und obwohl ich doch sah, dass er eigentlich ein ungebildeter Bauer war. Aber euch, unserer ganzen Sippe zuliebe hätte ich ihn gern geheiratet.« Gugu erzählte, dass, nachdem sie in die Kreisstadt gefahren war, um sich mit Yang Lin zu treffen, schon anderntags der Kommuneparteisekretär Qin Shan auf der Krankenstation zur Inspektion erschien. Mit einem unterwürfigen Lächeln, sich mit schönen Worten anbiedernd, kam er in Begleitung des Direktors auf die Entbindungsstation. Dieser lakaienhafte Duckmäuser! Gugu sagte, er sei früher ein so stolzer Mann gewesen! Welch dominante Aura er gehabt hätte! Und binnen eines Wimpernschlags hätte er sich so verändert, sich solch eine Visage zugelegt. Das gab Gugu schwer zu denken. »Allein um diesen kriecherischen Liebediener loszuwerden, hätte ich Yang Lin geheiratet. Wenn nur nicht die Kulturrevolution gekommen wäre!« Auf die Bühne stieg nun eine kleinwüchsige, dralle Rotgardistin, die ein Paar ausgelatschte Schuhe mit hinaufbrachte. Einen hängte die Yang Lin, den anderen Gugu an den Hals. Gugu sagte mir später, als Konterrevolutionärin, Spionin oder was immer sonst verunglimpft zu werden, sei nichts gegen die Schmach, sich »ausgetretener Schuh« – leichtes Mädchen – schimpfen zu lassen. Diese Schande habe sie nicht ertragen. Diese völlig aus der Luft gegriffene Erniedrigung! Gugu riss sich den ausgelatschten Schuh vom Hals und schleuderte ihn mit aller Wucht von sich. Als seien ihm Augen gewachsen, landete er unmittelbar vor Huang Qiuya. Die Rotgardistin machte einen Luftsprung, griff in die Haare meiner Tante und riss sie mit aller Kraft nach unten, Gugu machte den Hals steif und leistete dem Mädchen Widerstand. Es war wie Tauziehen. »Tante, bitte, bitte nimm den Kopf runter. Sie wird dich skalpieren! Die Dicke ist doch mindestens hundert Pfund schwer! Wie sie deinen Haarschopf mit beiden Händen wringt! Der steht schon stramm von deinem Körper ab.« Gugu ruckte wie ein stürmisches Pferd, das die Mähne wirft, abrupt mit dem Kopf. Die zwei Haarbüschel, die das Mädchen mit den Händen umkrallt hielt, wurden dabei ausgerissen. Hellrotes Blut triefte vom Kopf meiner Tante. Bis heute sind ihr davon zwei kupfermünzengroße Narben geblieben. Blut floss in Strömen über ihre Stirn, floss ihr über die Ohren hinab. Aber sie stand aufrecht und beugte sich nicht. Totenstille unterhalb der Bühne. Ein Esel vor einem Karren machte den Hals lang und brüllte sein schrilles Iah. Ich hatte kein Weinen meiner Mutter mehr gehört. Aschfahle Leere breitete sich in meinem Herzen aus. Huang Qiuya griff sich den ausgelatschten Schuh vor ihren Füßen, rannte los, hinauf auf die Bühne. Ich nehme an, sie wusste nicht, was dort oben geschehen war, denn sonst wäre sie mit Sicherheit unten geblieben. Oben angekommen, erstarrte sie zur Salzsäule. Sie warf den Schuh fort, murmelte etwas und wich Schritt um Schritt zurück. Xiao Oberlippe hechtete auf die Bühne und brüllte: »Wan Herz! Wie führst du dich hier auf!« Er ruderte mit den Armen und feuerte sich selbst beim Parolenschreien an. Er wollte damit die Stimmung wieder in Schwung bringen. Keiner der vielen, die unterhalb der Bühne saßen, stimmte jedoch mit ein. Die Dicke umklammerte immer noch die zwei Haarbüschel samt Kopfhaut. Wie zwei Schlangen baumelten sie in ihren Händen, als sie damit, schreiend wie ein Kleinkind, die Bühne hinabstolperte. »Stillgestanden!«, brüllte Oberlippe die zurückweichende Huang Qiuya an. Er zeigte mit dem Finger auf den Schuh. »Häng ihr den Schuh um!« Hellrotes Blut floss über Gugus Ohren, strömte über die Brauen, floss in ihre Augen, floss ihren Hals herunter. Gugu hob die Hand und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Huang Qiuya bückte sich, hob den Schuh auf und ging zitternd wie Espenlaub auf sie zu. Meine Tante hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Ein monströser Schrei entwich ihr. Dann spuckte sie weißen Schaum und fiel bewusstlos hintenüber. Wie einen toten Straßenköter zerrten die zuspringenden Rotgardisten sie von der Bühne. Xiao Oberlippe griff sich Yang Lin am Kragen und trat ihm in die Kniekehlen, damit er sich aufrichtete. Er hing mit schlackernden Armen, krummen Beinen, am ganzen Körper schlaff, in seinem Hemd. Hätte Oberlippe den Griff gelockert, wäre er sofort ohnmächtig zu Boden gegangen. »Wan Herz widersetzt sich halsstarrig. Ihr bleibt nur noch der Tod. Wenn aus ihr nichts rauszubekommen ist, sei du wenigstens gefügig. Wenn du alles frei preisgibst, werden wir milde mit dir verfahren. Wenn du dich weigerst, sind wir unerbittlich!«, fuhr Xiao Oberlippe ihn an. »Sag schon, wie oft habt ihr beide es miteinander getrieben?« Yang Ling sagte keinen Ton. Oberlippe winkte einen Riesenkerl herbei, der Yang Lin an die zwanzig Backpfeifen verpasste. Mit beiden Händen abwechselnd teilte er aus. Es schallte hell bis in die Bäume hinauf. Ein paar kleine weiße Dinger fielen zu Boden. Wahrscheinlich waren es seine Zähne. Er schwankte, drohte hinzufallen, aber der Kerl hielt ihn am Kragen. Er ließ nicht zu, dass er zu Boden ging. »Nun los! Habt ihrs miteinander getrieben?« »Haben wir.« »Wie oft?« »Einmal ...« »Sag gefälligst die ganze Wahrheit!« »Zweimal ...« »Du lügst mich an!« »Dreimal, viermal, zehnmal, oft, ich erinnere mich nicht.« Meine Tante stieß einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wie eine Löwin, die sich auf ihre Beute stürzt, sprang sie herbei und fiel über Yang Lin her. Der lag bewusstlos am Boden, während sie ihm das Gesicht zerkratzte. Ein paar kapitale Burschen aus dem Kontrolltrupp brauchten all ihre Kraft, um sie von Yang Lin zu trennen. Auf dem Eis hörte man ein monströses Geräusch. Die Eisschicht fing an zu bersten. Viele Menschen brachen ein und gingen im Eiswasser unter. 14 Alle Eltern der damals zur Welt gebrachten Süßkartoffelkinder konnten, wenn sie bei der Kommune die Meldebescheinigung beantragten, einen Liter Sojaöl und Bezugsmarken für zwei Meter Tuch bekommen. Und diejenigen mit Zwillingen bekamen die doppelte Menge. Mit vor Dankbarkeit feuchten Augen blickten die Menschen auf das goldgelbe Sojaöl und kneteten die Tuchmarken, denen ein lieblicher Sojabohnengeruch entströmte, zwischen den Fingern. »Die neue Gesellschaft ist eben doch die bessere!«, mochten die Volksmassen denken. »Nun können wir sogar etwas dafür bekommen, wenn wir ein Kind gebären. Jetzt schätzt unser Land seine Menschen! Es wartet darauf, sie einzusetzen! Denn unserem Land mangelt es an Menschen«, sagte meine Mutter. Aus Dankbarkeit fassten alle den stillen Entschluss, viele Kinder zu bekommen und dem Staat so die empfangenen Wohltaten zurückzugeben. Mein Mitschüler Xiao Unterlippe hatte bereits drei kleine Schwestern bekommen – sein Vater Xiao Oberlippe war Verwalter des Brigadekornspeichers –, doch obwohl seine kleinste Schwester noch die Brust bekam, wölbte sich der Bauch seiner Mutter schon über dem nächsten Baby. Wenn ich mich vom Kühehüten auf den Heimweg machte, kam mir sein Vater regelmäßig auf einem ramponierten Fahrrad auf der kleinen Brücke entgegen. Er war groß und dick, das Fahrrad ächzte unter seinem Gewicht, als bräche es jeden Moment entzwei. Die Leute im Dorf trieben mit ihm Schabernack: »Oberlippe, wie alt bist du denn jetzt? Kannst du nicht auch mal eine Nacht auslassen?« Er lachte immer nur: »Wir klagen nicht, wenn wir Kinder für unser Land machen, da lassen wir keine Nacht aus.« Ende 1965 fühlte sich die Führung durch den sprunghaften Anstieg der Bevölkerung unter Druck gesetzt. Das Neue China erlebte seine erste Kampagne zur Geburtenplanung. Die Regierung ließ die Parole verbreiten: Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht. Als das Team der Filmvorführer unseres Kreises wieder in unser Dorf kam, gab es vor dem Hauptfilm eine Diaschau, mit der für die Geburtenplanung geworben wurde. Als auf der Leinwand die Schaubilder mit den riesig vergrößerten Geschlechtsorganen des Mannes und der Frau zu sehen waren, brach unter den Zuschauern ein seltsames Gejohle und wildes Gelächter aus. Die Halbwüchsigen unter uns hatten keinen blauen Dunst, grölten und lachten aber einfach mit. Viele der jungen Leute rückten dicht zusammen und hielten sich heimlich an den Händen. So eine Propaganda für Verhütungsmethoden war das reinste Fertilitätsprogramm, besser als jedes Aphrodisiakum. Schauspieler und Opernsänger des Kreistheaters teilten sich in ungefähr zwanzig kleine Gruppen auf, die in jedes winzige Dorf reisten und dort eine kurze Oper mit dem Namen »Den halben Himmel stemmen die Frauen« vorführten, die der diskriminierenden Missachtung der Frauen den Kampf ansagte. Gugu war inzwischen Leiterin der frauenärztlichen Abteilung der Kommunekrankenstation geworden, dazu hatte sie die stellvertretende Leitung der Gruppe für geregelte Familienplanung übernommen. Gruppenleiter war der Kommuneparteisekretär Qin Shan, der aber nur seinen Namen zur Verfügung stellte und ansonsten passiv blieb. Somit war meine Tante nicht nur ausführendes Organ der Geburtenkontrolle, also diejenige, die die Politik tatsächlich durchsetzte, sondern auch Leiterin der Kommunearbeit für Familienplanung und Organisatorin der Kampagnen. Damals begann sie Speck anzusetzen. Die von jedermann bewunderten strahlend weißen Zähne waren gelb geworden, weil sie nicht mehr regelmäßig geputzt wurden. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, sie hörte sich immer ein bisschen an wie ein Mann. Wir hörten sie regelmäßig laut durchs Megaphon dröhnen. Meistens begann die Durchsage mit dem Satz: Ich sage nur: Schuster bleib bei deinen Leisten! Man soll nur von dem Handwerk reden, dessen Meister man auch ist. Jeder redet doch immer nur über den eigenen Beruf. Und ich spreche heute über die Geburtenplanung. In dieser Zeit sanken ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den Leuten. Selbst die Frauen in unserem Dorf, die ihr viel Gutes zu verdanken hatten, begannen schlecht über sie zu reden. Ihr unermüdliches Herumreiten auf der Familienplanung verfehlte seinen Erfolg gründlich. Selbst ihre Nachbarn und Freunde, die Leute aus dem Dorf wollten davon nichts wissen. Die Kreisoperntruppe kam mit einer Aufführung zu uns, worin die weibliche Hauptrolle mit hoher Stimme sang: Eine neue Epoche ist angebrochen! Mann und Frau sind gleich. Wang Bein, Lebers Vater, der unten im Publikum saß, kommentierte böse: »Völliger Schwachsinn! Was ist denn da gleich? Wer wagt so etwas zu behaupten?« Unten vor der Bühne reagierte das Publikum mit Krach und bösen Beschimpfungen. Man schmiss mit Backsteinen und Dachziegeln. Als es Ziegel auf die Bühne regnete, schützten die Schauspieler den Kopf mit den Armen und nahmen die Beine in die Hand. Wang Bein hatte an jenem Tag einen Viertelliter Schnaps intus. Der brachte ihn so in Fahrt, dass er völlig über die Stränge schlug. Er bahnte sich seinen Weg durch die Zuschauer, sprang auf die Bühne und hielt mit Händen und Füßen wild gestikulierend eine kurze Rede: »Ihr bestimmt schon über Himmel und Erde, und nun meint ihr, ihr könnt noch bestimmen, wann und wie das Volk seine Kinder bekommt? Wenn ihr was draufhabt, dann spannt eine Leine von links nach rechts über die Bühne und befestigt Unterwäsche, Schminke und Puder der Frauen dran.« Die Leute im Publikum begannen laut zu lachen. Das brachte Wang Bein nur noch mehr in Fahrt. Er hob einen Dachziegel von der Bühne auf, zielte genau auf die hell leuchtende Gaslampe, die in der Mitte des Bühnenvorhangs an einem Querbalken angebracht war, und traf. Es klirrte, und sie erlosch. Auf und unterhalb der Bühne herrschte pechschwarze Nacht. Dafür musste Wang Bein einen halben Monat lang ins Untersuchungsgefängnis. Als er entlassen wurde, rebellierte er immer noch. Er rempelte die Leute an: »Hey, schneidet mir den Schwanz ab, wenn ihr Mumm in den Knochen habt!« In früheren Jahren hatte es ein großes Hallo gegeben, wenn meine Tante nach Hause kam. Die Leute öffneten die Türen, grüßten sie, umarmten sie, aber nun gingen ihr alle aus dem Weg. Meine Mutter fragte besorgt: »Diese Sache mit der Geburtenregelung, Schwägerin, hast du dir die selbst ausgedacht oder haben die da oben dir das aufs Auge gedrückt?« »Was heißt hier selber ausgedacht?« Gugu kam richtig in Rage: »Das ist ein Appell der Partei an das Volk! Eine Anordnung vom Vorsitzenden Mao. Das ist Staatspolitik! Der Vorsitzende Mao lehrt uns: Die Menschheit darf nicht unkontrolliert wachsen, sie soll Selbstbeschränkung üben und sich nur geplant vermehren.« Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf: »Seit Urzeiten und bis heute ist es vom Himmel bestimmt und ein unerschütterliches Recht, Kinder zu bekommen. Schon während der Han-Dynastie verfügte der Kaiser, dass die Mädchen des Volkes mit dreizehn heiraten sollten. Wenn sie nicht heirateten, fragte man beim Vater und beim großen Bruder nach. Denn woher sollte das Land seine Soldaten nehmen, wenn die Mädchen keine Kinder mehr bekamen? Tagtäglich hören wir in der Propaganda, dass die Amerikaner uns angreifen wollen. Tagtäglich spornen wir uns an, Taiwan zurückzugewinnen. Woher sollen denn die Soldaten kommen, wenn die Frauen keine Kinder mehr kriegen dürfen? Wer kämpft denn gegen die Amerikaner in den von ihnen angezettelten Invasionskriegen, wenn wir keine Soldaten mehr haben? Und wer soll Taiwan befreien?« »Schwägerin, hör auf, mich mit diesen abgedroschenen Binsenwahrheiten vollzuquatschen. Der Vorsitzende Mao weiß besser Bescheid als du. Mach dir da keine Sorgen! Der Vorsitzende sagt: Die Größe der Bevölkerung ist in jedem Fall zu kontrollieren. Und er sagt: Ohne Organisation keine Disziplin. Wenn es so weitergeht, löscht sich die Menschheit früher aus, als es sein muss, denke ich.« Meine Mutter antwortete: »Der Vorsitzende Mao sagt auch: Wenn es viele Menschen sind, ist die Kraft groß; wenn es viele sind, wird man besser mit aller Unbill fertig, denn der Mensch ist ein lebender Schatz. Erst durch den Menschen erschaffen wir die Welt. Und er sagt: Wenn wir nicht zulassen, dass es vom Himmel regnet, ist das falsch. Wenn wir die Frauen keine eigenen Kinder großziehen lassen, ist das auch falsch.« Meine Tante wusste nicht mehr, ob sie nun lachen oder weinen sollte: »Schwägerin, du bist dabei, Maos Worte aus dem kleinen roten Buch zu verfälschen. In der Vergangenheit wurde man geköpft, wenn man ein kaiserliches Dekret verkehrt wiedergab. Es stimmt nicht, dass wir den Leuten das Kinderkriegen verbieten, sie sollen nur weniger – nämlich nur noch nach Plan – Kinder bekommen.« »Wie viele Kinder jemand in seinem Leben bekommt, ist vorausbestimmt und der Wille des Himmels, und da willst du noch einen Plan erstellen? Für mich seid ihr wie Blinde, die sich eine Kerze anzünden, pure Verschwendung!«, konterte meine Mutter. Und es traf haargenau ein, was meine Mutter gesagt hatte. Gugu und ihre Leute hatten Energie und Geld umsonst investiert. Dazu hatten sie für ihr Verhalten überall nur Beschimpfungen geerntet, und sie waren übel in Verruf gekommen. Anfangs verteilten sie kostenlose Präservative an die örtlichen Leiterinnen des chinesischen Frauenverbands, damit diese sie an die Frauen in gebärfähigem Alter weitergaben und deren Männer aufforderten, sie beim Verkehr überzuziehen. Aber die Präservative landeten entweder in den Schweineställen oder bei den Kindern, die sie aufpusteten und anmalten und mit ihnen wie mit Luftballons spielten. Die Tante und ihre Helferinnen gingen hausieren und verschenkten Antibabypillen, aber die Frauen störten sich an den Nebenwirkungen der Pillen und weigerten sich, sie einzunehmen. Wenn sie gezwungen wurden, sie auf der Stelle hinunterzuschlucken, versuchten sie, kaum dass sie wieder allein waren, sie hochzuwürgen und auszuspucken, indem sie sich den Finger oder ein Stäbchen in den Hals steckten. Die Sterilisation der Männer mittels Durchtrennen der Samenleiter kam da gerade zur rechten Zeit in Gebrauch. Es war damals Thema Nummer eins bei uns im Dorf. Alle erzählten, dass es meine Tante und Huang Qiuya waren, die diese Methode gemeinsam entwickelt hätten. Von Huang Qiuya käme der theoretische Teil der Erfindung, von meiner Tante der klinische Teil und die Praxis. Der Wichtigtuer Xiao Unterlippe sagte uns: »Diese beiden unbemannten Weiber sind doch völlig psychopatisch, die haben dieses ganze Zeug für die Kinderlosigkeit doch nur entwickelt, weil sie es nicht ertragen, andere Paare glücklich verheiratet zu sehen.« Er behauptete, sie hätten erst einmal an Ferkeln Versuche gemacht, dann diese an Ebern wiederholt und zuletzt an zehn toten Häftlingen laboriert. Nachdem das Experiment geglückt sei, hätten sie die toten Häftlinge gegen lebende mit lebenslänglichen Haftstrafen ausgetauscht. Wir wussten natürlich bald, dass Xiao Unterlippe geflunkert hatte. Die Tante hörten wir in jenen Tagen regelmäßig durch das Megaphon schreien: »Kader unserer Brigaden! Bitte beachten Sie! Infolge der Achten Sitzung des Leitungskollektivs zur Kommune-Geburtenregelung ist es Pflicht, dass Männer mit Frauen, die schon drei Kinder zur Welt gebracht haben, oder Männer, die mehr als drei Kinder haben, sich in unserer Krankenstation einer Sterilisation unterziehen. Nach dem Eingriff bekommen die Männer zwanzig Yuan für Lebensmittel zur Stärkung und eine Woche vollbezahlten Urlaub, die Arbeitspunkte werden trotzdem eingetragen.« Die Männer, die die Durchsage gehört hatten, standen zusammen und schimpften: »Da, fick deine Mutter! Sauschneider gibt’s, Leute, die Bullen kastrieren, Leute, die Pferde- und Mulihengste legen. Aber hat man je von einem Berufszweig gehört, der sich auf das Kastrieren von Männern verlegt hat? Wir wollen ja schließlich nicht als Eunuchen in den Dienst bei Hof! Wir lassen uns nicht betrügen!« Als die Kader aus der Geburtenplanung erklärten, die Sterilisation sei nur ein klitzekleiner Eingriff, wobei nur die ... ... da protestierten die Männer sofort mit bösem Blick: »Ihr redet alles schön! Aber wir befürchten, wenn wir einmal auf eurem Tisch liegen und die Narkose verpasst bekommen haben, dann geht ihr uns nicht nur an die Eier. Wir trauen euch zu, dass ihr uns den Schwanz auch noch mit abschneidet. Dann müssen wir wie die alten Muttchen in der Hocke pissen!« Die Sterilisation der Männer, die den Frauen ungemein genützt hätte, die nur einen einfachen, kurzen operativen Eingriff darstellte, der zudem keine großen Nachwirkungen oder Folgekrankheiten befürchten ließ, wurde über die Maßen boykottiert. Die Tante hatte mit ihren Helferinnen alles vorbereitet, aber niemand kam. Die Kommandostelle der Kreisgeburtenregelung rief täglich an und verlangte Zahlen. Sie war mit Gugu sehr unzufrieden. Die Kommuneparteikader hielten extra eine Sitzung ab, auf der zweierlei beschlossen wurde: 1. Beim Sterilisieren der Männer müssen die Führungskader mit gutem Beispiel vorangehen. Dies muss unter den Kadern und Arbeitenden publik gemacht werden. Im Dorf müssen allen voran die Brigadekader den Anfang machen. Erst dann wird man es in der Bevölkerung propagieren. 2. Diejenigen, die dagegen sind, dass Männer sterilisiert werden, und die Gerüchte streuen, sollen die Keule der proletarischen Diktatur zu spüren bekommen. Genügen sie den Anforderungen für eine Sterilisation, sperren sich aber dagegen, entzieht ihnen die Brigade als erstes die Arbeitserlaubnis. Fügen sie sich dann immer noch nicht, kürzt man ihnen die Reisration. Wenn sich Kader wehren, wird ihre Stelle gestrichen und ihnen ihre Position aberkannt. Wenn es sich um Angestellte des öffentlichen Dienstes handelt, werden sie entlassen. Wenn Parteimitglieder sich wehren, werden sie aus der Partei ausgeschlossen. Der Kommuneparteisekretär Qin Shan sprach höchstpersönlich durch das Megaphon zu den Leuten: »Die Geburtenplanung ist eng verknüpft mit unserer Volkswirtschaft, dem Lebensunterhalt für unser Volk. Die den Kommunen direkt unterstellten Abteilungen und die einzelnen Brigaden sind zuerst an der Reihe. Die Kader und Parteimitglieder, die für eine Sterilisation in Frage kommen, müssen den Anfang machen und sich operieren lassen. Sie müssen den Massen mit gutem Beispiel vorangehen.« Qin Shans Ton schlug plötzlich um. Mit einer Plauderstimme wie beim Familienplausch erzählte er: »Genossen, ich erzähl mal, wie es bei mir läuft. Meiner Frau haben sie, weil sie krank war, schon vor Jahren die Gebärmutter entfernt. Aber weil ich euch Männern die Angst vor diesem Eingriff nehmen will, habe ich mich dazu entschlossen, morgen Vormittag zu unserer Krankenstation zu gehen, um mich sterilisieren zu lassen.« Während seiner Rede verlangte er auch vom chinesischen Jugendverband, dem gesamtchinesischen Frauenverband und den Schulen, diesen Eingriff beim Mann mit Feuereifer zu propagieren, damit eine mächtige Sterilisationswelle anrollen könne. Wie bei allen bisherigen Kampagnen schrieb unsere Lehrerin Xue einen Sprechgesang, dessen Rhythmus mit dem Schlagholz unterstrichen wurde. Wir lernten ihn auswendig, so dass wir ihn in Höchstgeschwindigkeit hersagen konnten. Dann wurden Vierergruppen gebildet. Jeder bekam eine Flüstertüte aus Pappe oder Blech. Wir stiegen auf die Dächer der Häuser, kletterten auf die Bäume ins Geäst und begannen, lauthals zu schreien: »Genossen, macht euch keinen Kopf, in der Kommune fangt damit an! Was wir jetzt mit euch vorhaben, ist einfach, kommt auch nicht dem Sauschneider gleich! Ein kleiner Schnitt, nur fünfzehn Millimeter lang, nach einer Viertelstund schon wieder fit vom Bett er sprang. Er schwitzte und er blutete nicht, und fing am selben Tag noch zu arbeiten an.« In diesem ungewöhnlichen Frühling nahm die Kommune, so sagte mir meine Tante, an 648 Männern eine Sterilisation vor. Bei ihr persönlich kamen 310 unters Messer. Sie erzählte, man brauche den Massen eigentlich nur die Gründe ordentlich zu erklären und die politische Strategie festzulegen. Wenn die leitenden Kader den Anfang machten und Schritt für Schritt alles glatt laufe, könne man auch mit dem Verständnis der Leute rechnen. Sie würden dann mitziehen. Sie habe auf diese Weise viele Eingriffe gemacht. Der Großteil der Männer sei gemeinsam mit dem leitenden Kader seines Dorfes gekommen, der als gutes Beispiel den Anfang gemacht habe. Wirklich frech gewesen seien nur zwei, die hätten Schwierigkeiten gemacht. Da habe man dann geringfügige Zwangsmaßnahmen ergriffen, und gut war’s. Der eine sei unser Kutscher Wang Bein gewesen, der andere der Verwalter unseres Brigadekornspeichers, Xiao Oberlippe. Wang Bein habe sich auf seine guten Familienverhältnisse verlassen, deswegen habe er sich reaktionär, noch dazu arrogant und aggressiv verhalten. Kaum aus der Untersuchungshaft wieder auf freiem Fuß, schwang er laute Reden, wer es wage, ihn zur Sterilisation zu zwingen, dem werde er den blanken Stahl hineinstoßen und triefend rot wieder herausziehen! Mein Freund Wang Leber war verliebt in Gugus Assistentin Shizi und deswegen gefühlsmäßig auf Gugus Seite. Er wollte seinen Vater zur Sterilisation überreden, erntete aber nur zwei Backpfeifen. Leber floh eilends aus dem Haus, Wang Bein rannte mit der großen Kutscherpeitsche hinter ihm her. Er verfolgte ihn bis zum Teich am Dorfrand. Da standen Vater und Sohn hüben und drüben, zwischen ihnen das Wasser, und schrien sich an. Wang Bein brüllte: »Du verfickter Hundesohn! Seinen eigenen Vater zur Sterilisation überreden wollen!« Sein Sohn schrie zurück: »Wenn du meinst, dass ich einen verfickten Hund zum Vater habe, dann ist das wohl so!« Wang Bein merkte, dass er sich mit seinem Schmähruf selbst beschimpft hatte, und rannte los um den Teich, immer seinem Sohn hinterher. Sie rannten und rannten, Runde um Runde, wie in einem Kollergang. Ein ganzer Haufen Schaulustiger versammelte sich, der Öl ins Feuer goss, Zunder auflud, Wind zufächelte, damit die Flammen höher schlagen konnten. Die Folge waren unaufhörliche Lachsalven. Wang Leber hatte den scharfen Säbel heimlich von zu Haus fortgeschafft und beim Dorfparteizellensekretär Yuan Gesicht abgegeben. Er erklärte ihm, die Mordwaffe habe sein Vater schon mal vorbereitet, damit er den, der es wage, ihn zum Sterilisieren zu schleppen, einen Kopf kürzer machen könne. Yuan Gesicht wagte nicht, nachlässig zu verfahren, und nahm den Säbel mit zur Kommune, wo er meiner Tante und Parteisekretär Qin davon berichtete. Qin knallte wütend mit der Handfläche auf den Tisch. »Damit hat er sich strafbar gemacht! Zuwiderhandlung gegen die Politik der Geburtenplanung ist Konterrevolution!« Meine Tante meinte: »Wenn wir den nicht erledigen, können wir das nicht im großen Stil durchziehen.« »Auf jeden Fall. Denn alle im Dorf, die zu sterilen Männern werden sollen, schauen auf Wang Bein«, pflichtete Yuan Gesicht ihr bei und wies seine Leute an: »Nehmt diesen typischen Fall von einem Negativ-Beispiel fest!« Der alte Ning, Beamter für öffentliche Sicherheit im Kommunebüro, der immer ein Sturmgewehr um die Lenden trug, trat, Gewehr bei Fuß, sofort vor. So rückte der Dorfparteisekretär mit Nings Unterstützung zusammen mit der Vorsitzenden des chinesischen Frauenverbandes und dem Feldwebel der Volksmilizionäre mit seinen vier Milizionären aus, um den Hof des Wang Bein zu stürmen. Wangs Frau, die mit einem kleinen Mädchen an der Brust im Schatten der Bäume Strohmatten flocht, ließ, sowie sie den bedrohlichen Ansturm bemerkte, die Arbeit fallen, warf sich zu Boden und weinte in höchsten Tönen. Leber saß unter der Traufe und sagte keinen Ton, Galle kauerte auf der Schwelle und betrachte ihr zierliches Gesichtchen in einem kleinen Spiegel, als Yuan Gesicht schrie: »Wang Bein, komm raus! Wir werden nun andere Saiten mit dir aufziehen. Wenn der süße Schnaps ausgetrunken ist, folgt die bittere Medizin des Gesetzes. Kommunepolizist Ning ist auch mitgekommen. Du magst uns einmal noch entkommen sein, doch beim zweiten Mal gibt es kein Entrinnen mehr. Ein richtiger Kerl macht so was entschlossen, sauber, auf einen Streich. Was soll dieses Rumgeeiere?« »Fang Lianhua! Hör auf zu brüllen und ruf deinen Mann heraus«, riet die Vorsitzende des Frauenverbands der Frau des Wang Bein. Nichts tat sich. Yuan Gesicht blickte vielsagend zum Polizisten hinüber, ein Wink und die vier Bullen stürmten mit Seilen bewaffnet das Haus. Zu gleicher Zeit warf Leber, der unter der Traufe stand, dem Polizisten Ning einen Blick zu und zeigte auf den Schweinepferch, wo es in der Ecke rumorte. Obwohl er ein kurzes und ein langes Bein hatte, war Ning fix zu Fuß, ein paar Riesenschritte und er stand mit gezücktem Gewehr vor dem Pferch, um zu brüllen: »Wang Bein, komm raus!« Den Kopf voller Spinnweben kam dieser herausgekrochen. Die Bullen umzingelten ihn mit den Seilen. Bebend vor Wut, rieb er sich das schweißnasse Gesicht. »Hinkebein, was krakeelst du da? Kriegst du es mit deiner kaputten Flinte wieder nicht gebacken, dass einer wie ich dich fürchtet?« »Ich wollte dir gar keine Angst einjagen, mach kein Theater und komm brav mit, dann passiert dir auch nichts.« »Ach? Und wenn ich nicht mitspiele, was machen wir dann? Willst du mich jetzt erschießen, oder was? Wenn du nicht zu feige bist«, er zeigte auf seinen Hosenstall, »dann feuer hier rein. Da ist es mir lieber, du kastrierst mich mit der Knarre, als dass ich mir von diesen zwei alten Weibern mit dem Messerchen dran rumschnippeln lasse.« »Wang Bein, hör auf, so ein Blech zu reden, Sterilisation beim Mann bedeutet diese Röhre zubinden, mehr nicht«, rief die Vorsitzende des Frauenverbandes. »Dir gehört die Möse zugenäht, dass du’s weißt!« Wang Bein zeigte mit dem Finger auf ihren Schritt. Der Polizist schwenkte sein Sturmgewehr: »Marsch jetzt! Fesselt ihn!« »Woll’n mal sehn, wer hier wagt, mich anzurühren!«Bein griff sich einen Spaten und hielt die Klinge mit funkelnden Augen in Richtung der Bullen. »Nur zu, noch einen Schritt näher und ich hau euch den Schädel weg!« Genau in diesem Moment erhob sich das Püppchen Galle mit seinem kleinen Spiegel in der Hand von der Schwelle. Dreizehn Jahre alt war die Kleine damals und maß gerade mal siebzig Zentimeter. Aber trotz ihrer zurückgebliebenen Körpergröße war sie wunderhübsch und ebenmäßig gewachsen, wie eine Schönheit aus dem Zwergenland. Mit dem Spieglein leitete sie – bar jeder Bosheit – einen blendenden Sonnenstrahl direkt in das Gesicht ihres Vaters, wobei sie mit ihrem unschuldigen, engelsgleichen Stimmchen ein helles Lachen erklingen ließ. Die vier Bullen witterten ihre Gelegenheit sofort, sprangen vor und packten den vom Sonnenlicht Geblendeten, entrissen ihm den Spaten und fesselten ihm blitzschnell die Hände auf dem Rücken. Bein heulte, als man ihn band, laut auf, wie ein abgestochenes Schwein. Es war ein so herzzerreißendes Gebrüll, dass die Schaulustigen, die auf die Mauer seines Hofes geklettert waren und die sein Haupttor umlagerten, von Traurigkeit ergriffen wurden. Der Milizionär mit dem Seil in der Hand war nicht darauf vorbereitet, wurde unsicher. Was tun? Yuan Gesicht musterte Bein. »Bist du eigentlich noch ein Kerl? Dass du dich vor einer kleinen OP so fürchtest! Wo ich’s dir doch schon vorgemacht habe! Hat keinerlei Einfluss auf gar nichts in deinem Leben! Kannst deine Frau zu meiner Frau schicken, um sie zu fragen!« »Freund, hör verdammt noch mal auf damit.« Jetzt weinte Wang Bein . »Ich komm ja schon mit euch mit.« Meine Tante sagte: »Bei uns in der Kommuneverwaltung haben wir mit der Missgeburt Xiao Oberlippe den typischen Fall von einem Negativbeispiel. Wie der immer darauf herumreitet, wie viele Krankentragen er im Untergrundkrankenhaus der Achten Route-Armee geschleppt hat! Wohl bis zum Umfallen ... Als die Kommuneparteikader sich berieten und beschlossen, seinen Arbeitsplatz zu streichen und ihn in sein Dorf zurückzuschicken, damit er wieder als Bauer arbeitete, kam er von sich aus auf einem kaputten Fahrrad zur Krankenstation geradelt. Ich solle ihm die OP machen, so kam er an. Der ist ein Zoten reißender Lustmolch, ein Herumtreiber. Auf dem Operationstisch ärgerte er Shizi mit dämlichen Fragen: ›Kleine, ich versteh nicht, was passiert denn eigentlich mit meinem Sperma? Wo man doch sagt: Ist der Kanal mit Sperma erst mal voll, läuft’s auch von selber raus. Was passiert, wenn ihr die Samenleiter zubindet? Platzt mir dann der Bauch?‹ Mit schamrotem Gesicht blickte Shizi mich an, aber ich sagte nur: ›Rasieren!‹ Der kriegte bei der Rasur doch tatsächlich eine Erektion. Die Kleine hatte so was niemals zuvor gesehen, schmiss das Skalpell fort und nahm Reißaus. Ich sagte nur, ›Anständige Gedanken sind Voraussetzung.‹ – ›Habe ich! Was kann ich dafür, wenn der steif wird?‹, meinte er dickfellig. ›Nun gut‹, sage ich, nehme einen Gummihammer, ziele und haue einmal nachlässig drauf. War sofort wieder schlaff, das Ding. Und ich schwöre beim Himmel, dass ich Wang Bein genau wie Xiao Oberlippe sehr sorgfältig operierte. Die OPs waren hundertprozentig geglückt. Trotzdem leidet Wang Bein seitdem unter Lendenschmerzen und kann nicht mehr aufrecht gehen, er sagt, ich habe ihm seine Nerven durchtrennt, und Xiao Oberlippe kam wieder und wieder zur Krankenstation und beschwerte sich. Bis zur Kreisregierung hoch ging er damit. Er beschuldigte mich, ich hätte ihn zu einem impotenten Mann gemacht ... Diese Halunken! Bei Wang Bein sind es vielleicht psychosomatische Beschwerden. Aber Oberlippe lügt. Keine Frage, der lügt wie gedruckt. Ich will nicht wissen, wie viele junge Mädchen der während der Kulturrevolution, als er eine Zeitlang so eine Art Boss bei den Roten Garden war, ins Bett und damit ins Unglück gezerrt hat. Wäre er nicht sterilisiert gewesen, hätte er Bedenken gehabt, ein Mädchen zu schwängern. Er hätte Scham verspürt, Konsequenzen gefürchtet, die solch ein Tabubruch nach sich zieht. Aber so ... war doch nichts zu bedenken.« 15 Die Kampf- und Kritiksitzung, bei der es Kreisparteisekretär Yang Lin an den Kragen gehen sollte, war überfüllt. Xiao Oberlippe, Leiter des Revolutionskomitees, hatte sich deshalb etwas Besonderes einfallen lassen und das Ganze ans Nordufer unseres Kiaolai-Flusses in das Rückhaltegebiet verlegt. Es war tiefster Winter und der Fluss von einer mächtigen Eisdecke überzogen. Soweit das Auge blickte: eine kristallene Welt. Ich war der erste, der erfuhr, dass die Massenkritikversammlung hier abgehalten werden sollte, nur deshalb, weil ich den Unterricht oft schwänzte und immer zum Spielen hierherkam. Als ich an jenem Tag dabei war, unten am Schleusentor zum Rückhaltebecken ein Loch zum Angeln ins Eis zu hauen, hörte ich von oben Stimmen. Ich konnte Xiao Oberlippe sprechen hören. Dessen lautes Organ hätte ich auch unter zehntausend Leuten noch herausgehört. »Diese scheißverlassene Nordpollandschaft! Wenn wir hier die große Massenkritikversammlung veranstalten, errichten wir das Podium über dem Schleusentor des Rückhaltebeckens.« Beim Fluss hatte sich ursprünglich eine riesige Senke befunden. Später hatte man, um problemlos stromabwärts schippern zu können, am Flussdeich des Kiaolai-Flusses Schleusentore für das Rückhaltebecken gebaut und immer, wenn der Fluss im Sommer und Herbst Hochwasser führte und Überschwemmungen drohten, die Schleusentore geöffnet und die Senke in einen See verwandelt. Damals waren wir in Nordost-Gaomi darüber sehr ungehalten, denn unser Boden war, obgleich Senke, doch Ackerland. Er war zwar nur für Mohrenhirse gut gewesen, aber die war auf ihm immer gut gediehen. Die kleinen Leute und Bauern hatten gegen den Staat nichts ausrichten können. Es war zwecklos gewesen, sich zu widersetzen. Immer, wenn ich den Unterricht schwänzte, und ich schwänzte oft die Schule, rannte ich zur Schleuse, um den brodelnden, in die Tiefe stürzenden Wassermassen bei ihrem Durchtritt durch die zwölf Schächte zuzuschauen. War das Hochwasser endlich vorüber, war aus dem Rückhaltebecken ein weites Meer geworden, ein sieben oder acht Quadratkilometer umfassender See mit vielen Schrimps und Fischen. Die Angler kamen in Scharen, und es gab auch zahlreiche Fischverkäufer. Zuerst schlugen sie ihre Stände auf den Schleusenmauern auf. Als da nichts mehr frei war, nutzten sie das Ostufer des Rückhaltebeckens und standen einer neben dem anderen mit den Fischern unter den Weiden längs des Ufers. In Hochzeiten waren es oft tausend Meter Fischstände in einer Reihe. Eigentlich war der Wochenmarkt vor der Kommuneverwaltung angesiedelt, aber seit hier ein Fischmarkt abgehalten wurde, zogen immer mehr Marktstände mit anderen Waren hierher um. Die Gemüseverkäufer, die Eierverkäufer und die Erdnussröster waren schon da. Auch die Rumtreiber, Taschendiebe, Schurken und Bettler waren mitgekommen. Die bewaffnete Volkswehr, die die Kommune zusammengestellt hatte, war einige Male vor Ort gewesen und hatte die fliegenden Händler und das Pack vertrieben. Dann herrschte jedes Mal Chaos. Jeder rannte, was er konnte, wenn die Milizionäre kamen. Doch kaum waren sie wieder abgezogen, trauten sich alle wieder hervor und versammelten sich aufs Neue. So bestand der Fischmarkt unerlaubt, aber geduldet, fort. Ich für meine Person liebe es, mir Fische anzusehen. Ich sah dort Schuppenkarpfen, Spiegelkarpfen, Silberkarpfen, Karauschen, Welse, Schlangenkopffische, Kiemenschlitzaale. Und Süßwasserkrebse, Schlammpeitzger und Süßwassermuscheln guckte ich mir auch an. Ich erblickte einen wohl über fünfzig Kilo schweren Riesenfisch mit einem Bauch, so weiß und rund wie der einer Schwangeren. Der Alte, der ihn verkaufte, kauerte neben dem Fisch, als gelte es, einen Flussgott zu beschützen. Ich kannte die Fischhändler, die ihre Augen und Ohren immer überall hatten, gut. Sie waren alle meine Kumpel. Warum sie immer als erste und besonders gut informiert über alles waren? Der Grund war, dass der Steuereintreiber des Kommunesteueramts zwar regelmäßig vorbeikam, ihnen aber nur selten ein paar Fische abnahm. Doch es gab Aushilfskräfte in der Kommune, die sich als Steuereinnehmer ausgaben und versuchten, sich an den Fischhändlern zu bereichern. Den fünfzig Kilo schweren Riesenfisch hätten zwei solche Brüder in blauen Uniformen, die Fluppen in den Mundwinkeln, die schwarzen Aktenmappen unterm Arm, dem Alten auch um ein Haar abgenommen. Wäre die Tochter des Fischverkäufers nicht plötzlich herbeigestürzt und hätte laut weinend Krach geschlagen! Hätte Qin Strom die beiden nicht als Betrüger entlarvt! Kein Zweifel, der Fisch wäre weggetragen worden! Qin Strom war der mit der Mittelscheitelfrisur in der blauen Schüleruniform aus Gabardine, mit dem Füller Marke HERO DOCTOR und dem Zweifarbenkuli Marke NEUES CHINA in der Brusttasche. Er sah haargenau aus wie ein Bettelstudent aus der Zeit der Vierten-Mai-Bewegung. Ein fahler Teint, ein kummervolles Gesicht mit wässrigen Augen, als wenn er jeden Moment in Tränen ausbräche. Dabei war er ein herausragender Redner, sprach problemlos chinesische Hochsprache, jeder seiner Sätze perfekt, als entstammte er dem Bühnentext eines Schauspiels – dass ich mich letztlich für das Schreiben eines Theaterstücks entschieden habe, ist unter seinem Einfluss geschehen. Er lief immer mit einer Henkeltasse aus Emaille herum, bedruckt mit einem roten fünfzackigen Stern und dem Schriftzeichen 奖 für »Auszeichnung«. Liebenswürdig sprach er an den Ständen die Fischverkäufer an: »Genossen! Ich habe meine Arbeitsfähigkeit eingebüßt! Vielleicht denkt ihr, ach was, dieser junge Spund ist doch nicht arbeitsunfähig! Aber Genossen, ich sage euch, ihr seht nur mein Äußeres, dabei bin ich schwer herzkrank. Man hat mir mit einem Dolch ins Herz gestochen. Bei der geringsten Anstrengung platzen die Narben wieder auf. Und wenn das passiert, blute ich aus allen sieben Körperöffnungen, so lange, bis ich verblutet bin. Genosse, bitteschön, schenk mir einen Fisch. Keinen großen! So unbescheiden will ich nicht sein: einen kleinen, deinen allerkleinsten!« Er schaffte es immer, sich Fisch oder Garnelen zu erbetteln. Mit der Beute verschwand er ans Wasser, machte sie mit einem kleinen Messer kochfertig, suchte einen windgeschützten Ort, wo er zusammengesuchtes Holz aufschichtete, zwei Backsteine darüberlegte, um sodann seinen Henkeltopf mit dem Fisch darauf zu stellen und das Feuer zu entfachen. Oft stand ich hinter ihm, wenn er Fisch kochte. Es duftete so köstlich aus seiner Henkeltasse, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich ihn in den Tiefen meines Herzens um sein Leben beneidete. Er war der leibliche kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs Qin Shan. Früher war er mal der begabteste, aber eigenwilligste Schüler der ersten Kreismittelschule gewesen. Dass der kleine Bruder unseres Kommuneparteisekretärs am Fluss bei den Marktschreiern bettelte, musste wohl einen schwerwiegenden Grund haben! Man munkelte, er wäre schon immer hoffnungslos in meine Tante verliebt gewesen. Und dass man ihn so gereizt habe, dass er sich die Pistole seines Bruders gegriffen habe, ihm der Selbstmord aber missglückt sei. Und dass er nach dem Verheilen seiner Verletzungen wie verwandelt gewesen sei. Zuerst verlachten ihn die Fischverkäufer, aber nachdem er den Riesenfisch des alten Han gerettet hatte, sahen sie ihn mit anderen Augen. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Ich wollte so gern wissen, was in ihm vorging. Ich fühlte auch Mitleid, wenn ich in seine tränenfeuchten Augen blickte. Eines Abends folgte ich ihm, als er, nachdem die Marktleute mit ihren Ständen abgezogen waren, mit seinem langen Schatten im Schlepptau der untergehenden Sonne entgegenging. Ich tat es heimlich, weil ich sein Geheimnis erfahren wollte. Ich wollte auf keinen Fall von ihm entdeckt werden. Aber er spürte, dass ich ihm folgte, hielt inne, wandte sich nach mir um und verbeugte sich ehrerbietig. »Verehrter Freund, ich bitte Sie doch, das zu unterlassen!« Ich machte ihn nach und sagte im selben gekünstelten Tonfall: »Verehrter Freund! Ich habe nichts getan.« Bemitleidenswert, jämmerlich war er, als er mir antwortete: »Ich möchte sagen, bitte folgen Sie mir nicht!« Ich wieder: »Du gehst hier, und ich gehe hier auch. Ich folge dir nicht.« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Bitte hab doch Mitleid mit einem Unglückseligen wie mir!« Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort. Ich folgte ihm immer noch ... Er begann zu rennen, mit Riesenschritten, die Knie hob er hoch bis zum Bauch und lief leicht wie eine Feder mit schwankendem Körper, wie eine Anziehpuppe aus Papier. Ich strengte mich nicht weiter an und hatte ihn schon bald eingeholt. Schnaufend, außer Atem, mit einem Gesicht wie aus goldenem Totenpapier bettelte er tränenüberströmt: »Freund, ich flehe Sie an, lassen Sie mich laufen! Ich bin ein Stück Müll, ein ehemals Schwerverletzter ...« Ich war gerührt, blieb stehen und folgte ihm nicht mehr, hörte aber noch eine Weile zu, wie seiner Kehle wimmernde Laute entfuhren. Dabei hatte ich nur etwas über sein Leben erfahren wollen, wohin er nachts zum Schlafen ging, mehr nicht. Damals war ich ein Teenager von dreizehn, vierzehn Jahren mit staksigen, langen Beinen und Riesenschuhen, bereits Größe 40. Meine Mutter hatte mit meinen großen Füßen ihren Kummer. Unser Sportlehrer Chen hatte früher einmal auf Provinzebene Leichtathletik betrieben. Er hatte damals zur Mannschaft von Shandong gehört, ein echter Spitzenathlet, aber ein Rechter. Wie ein Pferdehändler auf dem Maultiermarkt hatte er mir in Beine und Füße gekniffen und war zu dem Schluss gekommen, dass bei mir die Substanz gut sei und er mich besonders fördern wolle. Er lehrte mich die Beine richtig heben, in großen Schritten laufen, dabei ausgewogen atmen und die eigenen Kräfte einteilen. Ich erreichte von allen Grund- und Mittelschülern bei uns im Kreis über dreitausend Meter den dritten Platz. Wegen dieses guten Ergebnisses wurde es bei uns im Dorf geduldet, es war sozusagen inoffiziell erlaubt, dass ich regelmäßig den Unterricht schwänzte und als Training zum Fischmarkt rannte. Nachdem ich Qin Strom hinterhergerannt war, wurden wir beide Freunde. Wenn wir uns sahen, nickte er mir jedes Mal aufmerksam zu. Er war zwölf, dreizehn Jahre älter als ich. Es war ein bisschen, als suche ein älterer Mann einen Eleven als Freund, damit er sein Altern vergisst. Außer ihm gab es auf dem Markt noch zwei andere Bettler, einen breitschultrigen Typen mit großen Pranken, namens Gao Men, der wohl Riesenkräfte hatte. Und einen anderen, der Lu Huahua hieß und an Gelbsucht litt. Warum er diesen mädchenhaften Vornamen Huahua trug, kann ich nicht sagen. Eines Tages sah ich zu, wie die beiden Bettler Qin Strom mit vereinten Kräften brutal zusammenschlugen, der eine mit einer Weidenrute, der andere mit einem kaputten Schuh. Qin Strom wehrte sich nicht, sondern sagte nur immer: »Schlagt mich nur tot, meine guten Freunde. Ich danke es euch. Aber esst keine Frösche. Frösche sind die Freunde der Menschen. Sie sind nicht genießbar, zudem voller Parasiten. Werden sie trotzdem genossen, erkrankt der Mensch an Wahnsinn.« Ich bemerkte das Lagerfeuer unter der Weide. Weißer Qualm stieg empor, auf dem Feuer brieten Frösche, die noch nicht gar waren. Neben dem Feuer sah ich die Knochen und die Haut von ein paar anderen Fröschen, die einen ekelerregenden Geruch verströmten. Ich begriff: Qin Strom bekam Prügel, weil er die beiden davon abhalten wollte, Frösche zu essen. Mir kamen die Tränen, als ich ihnen beim Prügeln zusah. Während der großen Hungersnot hatten viele Leute Frösche gegessen. In unserer Familie war das tabu gewesen. Wir hatten uns vor den Froschessern immer sehr geekelt. In unserer Sippe wäre man lieber verhungert. In diesem Punkt waren wir beide Seelenverwandte. Ich griff mir einen rotglühenden Ast aus dem Feuer und hieb Gao Men auf den Hintern, Lu Hua piekte ich damit in den Hals. Dann rannte ich, was ich konnte, immer am Ufer entlang. Ich hielt einen ausreichenden Abstand zu ihnen und neckte sie, damit sie mir weiter hinterherrannten. Als sie mir nicht mehr folgten und stehenblieben, begann ich sie zu beschimpfen und mit Tonscherben nach ihnen zu werfen. Am Tag der Massenkritikversammlung waren alle Bewohner der vierundzwanzig Dörfer unserer Kommune Schub um Schub, bewehrt mit roten Fahnen, Trommeln, Becken und Hausrat, mit dem man Krach machen konnte, auf dem zugefrorenen Rückhaltebecken zusammengekommen. Manche hatten die Straße genommen, manche waren direkt über den Fluss gelaufen, die Bösewichte aus ihren Dörfern eskortierend, um sie vorzuführen, bevor unser als Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht verschrienes Kreisoberhaupt Yang Lin der Massenkritik unterzogen werden würde. Denn die dorfeigenen Bösewichte sollten als Vorgruppe herhalten. Auf dem Fluss gingen wir über das spiegelglatte Eis, manch einer kam auf selbstgebauten Gleitboards. Mein Lehrer Chen, dem ich wegen der Bevorzugung meiner Person so viel verdanke, marschierte barfuß in kaputten Strohsandalen, über das ganze Gesicht grinsend, seinem bitter dreinblickenden Schulleiter hinterher, der wie er einen spitzen Papierhut trug. Xiao Unterlippe trieb sie mit einem Speer in der Hand vorwärts. Sein Vater war damals gerade Leiter des Kommunerevolutionskomitees und Truppführer der Roten Garden an unserer Schule geworden. Das Paar weiße Warrior-Sportschuhe, das er trug, hatte er meinem Lehrer von den Füßen gestreift. Die Schreckschusspistole, die einen doppelten Knall abgab – sie war Staatseigentum, dennoch baumelte sie jetzt um Xiao Unterlippes Lenden – hätte ich gern gehabt. Was hätte ich darum gegeben! Andauernd zog er sie hervor, feuerte einen Schuss ab, lud Schießpulver nach und feuerte wieder ohrenbetäubend gen Himmel: Bum, bum machte es. Dabei zischte weißer Mündungsqualm in die Höhe und füllte die Luft mit wohlriechendem Salpeter- und Schwefelgeruch. Als die Kulturrevolution begonnen hatte, wäre ich auch gern den Roten Garden beigetreten. Doch Xiao Unterlippe hatte mich nicht haben wollen. Er hatte gesagt, ich, der Zögling des rechtsabweichlerischen Lehrers Chen sei ein schwarzer Schandfleck. Und mein Großonkel, der mit den Japanern unter einer Decke gesteckt habe, sei ein Verräter gewesen ... Ein falscher Held des Volkes. Meine Tante sei ein Spitzel der Kuomintang, Verlobte eines Landesverräters und die Geliebte von einem, der den kapitalistischen Weg gehe. Um mich an ihm zu rächen, klaubte ich einen Haufen Hundescheiße auf, wickelte ihn in ein paar Blätter und verbarg den Haufen in meiner Hand. Als ich vor ihm stand, rief ich: »Unterlippe, was ist mit deiner Zunge? Die ist ja ganz schwarz!« Er tappte in die Falle und sperrte sein Maul auf, während ich ihm mit der Scheiße das Maul stopfte. Dann rannte ich, was ich konnte. Er konnte mich nicht einholen. Außer Lehrer Chen konnte mich keiner an der Schule einholen. Als ich Unterlippe in den Schuhen meines Lehrers, mit dem Speer und der Schreckschusspistole um die Lenden erblickt hatte – diese Memme, mit den Sachen anderer Leute auftrumpfen und sich wer weiß was drauf einbilden –, spürte ich einen brennenden Hass, mit Eifersucht gepaart: Jetzt würde ich ihn fertigmachen! Ich wusste, dass er eine Wahnsinnsangst vor Schlangen hatte. Wo aber sollte ich eine hernehmen, jetzt um diese Jahreszeit? Also griff ich mir einen gammligen, alten Strick, den ich unter den Maulbeerbäumen am Ufer gefunden hatte, wurschtelte ihn mit den Händen zurecht, verbarg ihn hinter meinem Rücken und näherte mich unbemerkt Unterlippe. Schnell warf ich ihm den Strick um den Hals, wand ihn einmal herum und schrie dabei: »Vorsicht, Giftschlange!« Er gab einen sonderbaren Schrei von sich, schmiss den scharfen Speer fort und griff sich hastig an den Hals, um sich von der Schlange zu befreien. Als er merkte, dass das, was von ihm herabfiel, nur ein Strick war, kam er wieder zu sich. Zähneknirschend hob er den Speer auf und sagte grollend: »Kleiner Renner, du Konterrevolutionär! Ich mach dich kalt!« Dabei zielte er mit dem Speer auf mich und stürzte vor, um mich zu bajonettieren. Ich rannte. Er hinter mir her. Beim Rennen auf dem Eis hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Lauftechnik, ich spürte einen bedrohlichen, kalten Windzug im Rücken. Gleich würde der Speer meinen Rücken durchbohren ... Ich wusste, dass dieser fiese Kerl ihn auf dem Schleifrad messerscharf gewetzt hatte, dass sein Herz schwarz wie die Hölle, seine Hand tödlich war. Seit Unterlippe die scharfe Waffe besaß, war seine Mordlust noch gewachsen. Grundlos bohrte er, wo er gerade war, seinen Speer in Bäume, er benutzte aus Hirsestroh gefertigte Puppen in Menschengröße als Zielscheiben. Es war nicht lange her, dass er einen Eber, der dabei war, eine Sau zu belegen, totgestochen hatte. Ich rannte und schaute im Laufen hinter mich, sah seine nach oben abstehenden Haare, seinen starr auf mich gerichteten Blick. Wenn er mich jetzt einholte, würde ich mein Leben aushauchen. Ich rannte, umrundete Hindernisse, schlüpfte zwischen den Menschentrauben hindurch, rannte wieder, fiel hin, rollte, kroch weiter, fast hätte mich sein böser Speer getroffen. Doch daneben! Der Speer bohrte sich ins Eis. Eissplitter flogen auf. Unterlippe fiel hin. Ich rappelte mich auf, rannte weiter. Er rappelte sich auf, verfolgte mich wieder, rempelte Leute an, Frauen, Männer. Verdorbene Blagen! Was schubst ihr so? Zu Hilfe! Zu Hilfe! Mörder! Einer, der im Rhythmus der zur Bühne marschierenden Bösewichte die Trommel schlug, kam, von mir angerempelt, aus dem Takt – den Bösewichten fielen die spitzen Papierhüte vom Kopf –, ich umrundete Nases Vater Chen Stirn, seine Mutter Alina, Backes Vater Yuan Gesicht – auch er war zu einem Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht abgestempelt worden –, und ich preschte an Wang Bein vorbei. Ich sah Mutters Gesicht, hörte ihr lautes Schreien, sah meinen Freund Leber, hörte ein dumpfes Geräusch, dann Unterlippes schmerzverzerrten Aufschrei – später sollte ich erfahren, dass Leber ihm schnell ein Bein gestellt hatte, so dass er vornüber hingeschlagen war und mit den Zähnen ins Eis gebissen hatte. Die Lippen waren aufgeschlagen. Glück hatte er, dass er seine Schneidezähne behalten hatte. Unterlippe rappelte sich wieder auf, wollte es Leber heimzahlen, doch Wang Bein konnte ihn einschüchtern. »Unterlippe, du Bastard! Wag es, meinem Sohn ein Haar zu krümmen, und ich kratze die deine zwei Augäpfel aus den Augenhöhlen! Wir sind seit drei Generationen Lohnbauern. Auch wenn andere dich fürchten, ich fürchte dich nicht!« Der Versammlungsort war von Menschen überflutet. Auf dem Rückhaltebecken hatte man eine aus Brettern und Schilfmatten ansehnlich zurechtgezimmerte Bühne aufgestellt. In jenen Zeiten war es in den Kommunen üblich, einen Arbeitstrupp aus handwerklich versierten Männern durchzufüttern, Topleute, die allein zum Bühnenbau oder Tafelbau für die Kampagnen eingesetzt wurden. Auf der Bühne flatterten an die fünfzig rote Flaggen an Fahnenstangen, querformatige Spruchbänder waren aufgehängt, und in den Ecken rechts und links hatte man zwei große Pfosten aufgestellt und vier riesige Lautsprecher daran befestigt. Während die Teilnehmer sich versammelten, ertönte aus den Lautsprechern das Maobibel-Lied: Wahrheiten des Marxismus gibt es viele, aber schließlich trifft ein Satz den Kern, der lautet: Rebellion ist gerechtfertigt! Rebellion ist gerechtfertigt! Es war ja so viel los. Wirklich aufregend war das alles. Ich befand mich mitten in der Menge und drängelte mich mit nach vorn. Ich wollte unbedingt einen Platz neben der Bühne ergattern. Die von mir weggeboxten Leute traten ohne einen Funken Höflichkeit mit den Füßen nach mir, hieben mir mit geballter Faust auf den Kopf, keilten mit den Ellenbogen nach mir aus. Nass bis auf die Haut, mit grünen und blauen Flecken am ganzen Körper, hatte ich schließlich meine Kräfte verpulvert. Ich war aber keinen Schritt weiter in Richtung Bühne gekommen, sondern befand mich weiter hinten als zuvor. Ich hörte, wie es unter der Eisoberfläche widerhallte. Mich beschlich eine ungute Vorahnung, als ein Mann mit einer Stimme wie ein Erpel durchs Megaphon brüllte: »Die Kritik- und Kampfversammlung beginnt! Ich bitte die Armen und die Mittelbauern um Ruhe! Die ersten Reihen sollen sich setzen. Hinsetzen! Hinsetzen!« Ich verschwand ans Westufer des Rückhaltebeckens. Dort gab es drei Kornspeicher, die auch als Schleusenraum dienen konnten. Ich kam von der rückwärtigen Seite der Speicher, zog mich an den Fugenritzen der Mauer hoch, klammerte mich mit den Händen an der Traufe fest, um mich dann wie eine Steppenweihe im Gaukelflug über die Mauer aufs Dach hinaufzuschwingen. Ich robbte die Dachziegelreihen hoch, kletterte leise auf den First und machte den Hals lang, um mich umzublicken. So weit das Auge reichte, sah ich Abertausende von Menschen und unzählige rote Flaggen. Das Rot füllte meine Augen, und das Eis auf der Wasseroberfläche blendete. Auf der Bühne knieten mit gesenkten Häuptern wohl an die fünfzig Leute. Ich wusste, dass es die Rinder- und Schlangenteufel aus der Kommune waren, die gleich der Massenkritik unterzogen würden. Xiao Oberlippe schrie mit berstender Stimme ins Megaphon. Dieser verkommene Verwalter unseres Brigadekornspeichers hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass er es, verdammt noch mal, zum Kommandanten bringen würde. Aber seit Beginn der Kulturrevolution führte er die Leute in die Rebellion, denn er hatte eine Truppe mit dem Namen »Sturmrebellen« gegründet und sich selbst zu deren Kommandanten berufen. Er trug eine verblichene, mit dunklen Flicken gestopfte Militäruniform mit einer roten Armbinde. Spärlicher Haarwuchs umkränzte seine im Sonnenlicht gleißende Glatze. Er imitierte Gestik und Tonfall, die wir von gewichtigen Persönlichkeiten aus Filmen kennen: langgezogene Laute, eine Hand in die Taille gestützt, die andere wild gestikulierend, der Körper in ständig wechselnden, raumgreifenden Posen. Seine Stimme wurde in ohrenbetäubender Lautstärke durch Hochfrequenzlautsprecher übertragen. Wie tosend gegen Stein klatschende Meeresfluten dröhnte das Brüllen der Massen vom Platz zu mir herüber. Offenbar kam es zu Störungen, denn wenn es auf der einen Seite still wurde, donnerte es von der anderen Seite. Ich sorgte mich um meine Mutter und die anderen alten Leute aus unserem Dorf. Also suchte ich mit den Augen das Eis nach ihnen ab, aber es reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass ich nichts sehen konnte. Der Eiswind blies mir durch meine zerlumpte Steppjacke bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich. Auf einen Wink von Xiao Oberlippe griffen sich zehn, zwanzig Muskelpakete mit roten Armbinden, auf denen »Kontrollposten« stand, einen Knüppel, sprangen von der Bühne in die Menge und ließen die Knüppel tanzen, um die Ordnung zu wahren. An die Knüppelspitzen waren rote Stoffstreifen geknotet, die wie Flammen tanzten. Ein Junge bekam einen Schlag auf den Kopf, griff aufgebracht nach dem Knüppel, diskutierte lautstark mit dem Kontrollposten, bekam aber einen Faustschlag vor die Brust. Die Kontrollposten hatten Gesichter wie Stein. Bar jeden Gefühls schlugen sie zu, der Knüppel machte die Runde, die Menschen warfen sich wie rasend bäuchlings zu Boden. Durch die Lautsprecher schallte Xiao Oberlippes Geschrei. »Alle setzen! Auf den Boden setzen! Holt die elenden Bösewichte rauf!« Der Junge, der den Faustschlag auf die Brust bekommen hatte, wurde an den Haaren aus der Menge gleich mit nach oben gezerrt. Da waren unten auf dem Eis alle schlagartig ruhig. Manche knieten, manche saßen. Keiner wagte mehr aufzustehen. Die Kontrollposten stellten sich mit ihren langen Knüppeln gleichmäßig verteilt in der Menge auf. Wie die Vogelscheuchen im Feld! »Zerrt die Rinder- und Schlangenteufel auf die Bühne!«, brüllte Oberlippe. Die Kontrollposten mit den Steingesichtern brachten die Rinder- und Schlangenteufel immer zu zweit auf die Bühne, einer packte sie von rechts, einer von links unterm Arm, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Ich sah meine Tante. Gugu gehorchte nicht. Als der Kontrollposten ihr den Kopf auf den Boden drückte und nur eben die Hand lockerte, kam sie geschwind wieder hoch. Ihr Widerstand machte ihn nur brutaler, er zwang sie nieder, prügelte sie, dass sie bäuchlings auf dem Boden zu liegen kam, während ein anderer Kontrolleur den Fuß auf ihren Rücken stellte und darauf stehen blieb. Da sprang so ein Parolenschreier aus der Menge auf die Bühne und brüllte eine Parole. Aber sehr spärlich tönte die Antwort. Das missfiel ihm, und er machte sich gleich wieder davon. Im selben Moment ertönte gellendes Weinen. Es war meine Mutter. »Himmel, bewahre meine arme Schwägerin! Ihr Bestien, ihr sündigen, elenden, ihr seid schlimmer als Tiere!« Unterlippe gab den Befehl, die Rinder- und Schlangenteufel wieder hinunterzubringen, damit er meine Tante allein auf der Bühne hatte. Der Kontrollposten stand immer noch mit einem Fuß auf ihrem Rücken und machte ein furchtloses Heldengesicht. Seine Pose sah aus wie eine Illustration der damals üblichen Parolen – »den Klassenfeind zu Boden werfen und einen Fuß auf ihn setzen«. Meine Tante bewegte sich nicht mehr. Ich befürchtete, sie sei bereits tot. Das Weinen meiner Mutter war verstummt. Ich hatte Angst, auch sie sei tot. Die von der Bühne hinuntergetriebenen Rinder- und Schlangenteufel drängten sich um die große Pappel. Ein paar Aufseher bewachten sie mit gezückten Gewehren. Wie die Bösewichte da mit hängenden Köpfen auf dem Boden hockten, sahen sie aus wie eine Tonskulpturengruppe. Huang Qiuya saß mit dem Rücken zur Mauer, den Hinterkopf angelehnt. Man hatte ihr die Haare mit einer Schere auf einer Seite bis zum Scheitel abgeschnitten, es sah grässlich aus. Ich hatte aufgeschnappt, dass meine Tante in der Anfangsphase der Kampagne eine der Gründerinnen des »Henry Norman Bethune Kampftrupps« unseres Krankenhauses gewesen war. Und dass sie sich sehr heißblütig am Kampf beteiligt habe, auch gegen ihren alten Krankenhausdirektor, der sie einmal in Schutz genommen hatte, und noch gemeiner gegen Huang Qiuya. Ich kann schon verstehen, dass meine Tante dies aus Selbstschutz getan hatte. Wie jemand, der im Dunklen durch die Nacht reisen muss und lauthals singt, dessen Herz sich aber zur gleichen Zeit ängstlich zusammenkrampft. Ihr alter Direktor war ein warmherziger Mensch gewesen. Er hatte der Erniedrigung nicht standgehalten und sich im Brunnen ertränkt. Huang Qiuya brachte nun, vielleicht aus Rache, vielleicht, weil sie sich genötigt fühlte, manches über meine Tante und Wang Xiaoti an den Tag und lieferte Beweise für geheime Kontakte, die beide unterhalten hätten. Sie sagte, dass Wan Herz nachts im Traum laut »Wang Xiaoti« gerufen habe und dass sie sie eines Nachts, als sie Nachtschicht gehabt habe und darum erst spät ins Wohnheim zurückgekommen sei, nicht angetroffen habe. Wohin eine trübsinnige, alleinstehende Frau denn mitten in der Nacht wohl zu laufen hätte? Auf der Suche nach ihr habe sie sie am Ufer des Kiaolai-Flusses im Weidenwald stehen und drei rote Rauchsignale abschießen sehen. Kurz danach sei aus großer Höhe das Brummen von Flugzeugmotoren zu hören gewesen. Nach einiger Zeit habe sich jemand heimlich ins Wohnheim geschlichen. Der Gestalt nach sei es zweifellos Wan Herz gewesen. Dem Krankenhausdirektor habe sie darüber sofort Bericht erstattet, der jedoch sei wie Wan Herz ein »Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht«, und er habe nichts verlauten lassen. Wan Herz sei zweifelsohne eine Spionin der Kuomintang. Diese Geschichte hätte schon gereicht, um meine Tante unter die Erde zu bringen, aber Huang Qiuya hatte noch eine weitere in petto und berichtete, meine Tante sei oft in die Kreisstadt gefahren, weil sie eine Affäre mit dem Kapitalisten Yang Lin habe, und sie sei von ihm auch schwanger geworden, die Abtreibung habe sie, Huang, eigenhändig vorgenommen. Die Massen sind erfinderisch, wenn’s ums Ausschmücken und Dazuerfinden geht, sie verfügen über eine überbordende, bösartige Phantasie. Huang Qiuya hatte zwei große Verbrechen meiner Tante aufgedeckt und damit die Sensationslust der Massen befriedigt. Die Massen hatten ihren Hunger nach Sensationen umso mehr gestillt, weil Gugu nichts von alledem zugegeben, sondern beständig Widerstand geleistet hatte. Die Tage, an denen man bei uns in Nordost-Gaomi diese Kritik- und Kampfversammlungen abhielt, wurden zu berühmten Schandtagen. Jedes Mal stritt meine Tante unablässig und lauthals alle Vorwürfe ab. Ich verfolgte alles vom Dach aus; ich befand mich oberhalb von Huang Qiuya und hatte deshalb ihren geschorenen »Yin und Yang-Kopf« im Blick. Ich verspürte Hass, Mitleid, Verstörung, Horror und Trauer. Ich nahm einen Ziegel vom Dach und zielte damit auf ihren Kopf. Ich hätte nur die Hand öffnen müssen, und der Ziegel wäre hinunter auf ihren Kopf gefallen. Aber ich kam ins Grübeln, schließlich tat ich es nicht. Viele Jahre später erzählte ich meiner Tante davon. »Ich bin dir dankbar dafür, dass du es nicht getan hast! Sonst wäre mir noch mehr Schuld aufgeladen worden und die Anklage noch schwerer ausgefallen.« Auf ihre alten Tage meinte sie immer, dass sie Schuld auf sich geladen habe, und zwar eine besonders schwerwiegende Schuld, von der sie niemals frei werden würde. Ich fand, sie sollte die Schuld nicht nur bei sich selbst suchen. In jener Zeit habe doch keiner besser gehandelt als sie, da habe man nehmen können, wen man wollte. Aber meine Tante sagte nur immer: »Kind, du verstehst das nicht.« Als sie Yang Lin auf die Bühne zwangen und vorführten, nahm der, der mit einem Bein auf dem Rückgrat meiner Tante stand, seinen Fuß weg. Sie zogen sie hoch und stellten sie mit vornüber gebeugtem Oberkörper und nach unten gepresstem Kopf, die Arme auf dem Rücken gefesselt, neben Yang Lin auf. Die Pose glich der Form nach dem Tiger-5 Jet, den dieser Wang Xiaoti geflogen hatte. Ich konnte auf Yang Lins Glatze herabgucken. Noch vor einem halben Jahr hatte er sich in so göttergleichen, unerreichbaren Sphären bewegt, dass wir uns schon Hoffnungen gemacht hatten, meine Tante könnte sich mit ihm auf ewig verbinden, obschon er doch zwanzig und mehr Jahre älter als sie war. Sie hätte zwar nur den Platz seiner verstorbenen Gattin eingenommen, aber dadurch wäre sie Ehefrau des Parteisekretärs geworden. Mit dem stattlichen monatlichen Sold eines hohen Kaders war er eine Persönlichkeit gewesen, die, Sekretär und Polizist im Gefolge, in einem grasgrünen Jeep aufs Land chauffiert worden war. Jahre später sagte mir Gugu einmal: »Ich hätte ihn gern geheiratet, obwohl ich mich mit ihm nur ein einziges Mal getroffen hatte, obwohl ich auch seinen Bauch nicht leiden konnte, der aussah wie der einer im achten Monat Schwangeren, obwohl ich auch den strengen Knoblauchgeruch aus seinem Mund nicht mochte und obwohl ich doch sah, dass er eigentlich ein ungebildeter Bauer war. Aber euch, unserer ganzen Sippe zuliebe hätte ich ihn gern geheiratet.« Gugu erzählte, dass, nachdem sie in die Kreisstadt gefahren war, um sich mit Yang Lin zu treffen, schon anderntags der Kommuneparteisekretär Qin Shan auf der Krankenstation zur Inspektion erschien. Mit einem unterwürfigen Lächeln, sich mit schönen Worten anbiedernd, kam er in Begleitung des Direktors auf die Entbindungsstation. Dieser lakaienhafte Duckmäuser! Gugu sagte, er sei früher ein so stolzer Mann gewesen! Welch dominante Aura er gehabt hätte! Und binnen eines Wimpernschlags hätte er sich so verändert, sich solch eine Visage zugelegt. Das gab Gugu schwer zu denken. »Allein um diesen kriecherischen Liebediener loszuwerden, hätte ich Yang Lin geheiratet. Wenn nur nicht die Kulturrevolution gekommen wäre!« Auf die Bühne stieg nun eine kleinwüchsige, dralle Rotgardistin, die ein Paar ausgelatschte Schuhe mit hinaufbrachte. Einen hängte die Yang Lin, den anderen Gugu an den Hals. Gugu sagte mir später, als Konterrevolutionärin, Spionin oder was immer sonst verunglimpft zu werden, sei nichts gegen die Schmach, sich »ausgetretener Schuh« – leichtes Mädchen – schimpfen zu lassen. Diese Schande habe sie nicht ertragen. Diese völlig aus der Luft gegriffene Erniedrigung! Gugu riss sich den ausgelatschten Schuh vom Hals und schleuderte ihn mit aller Wucht von sich. Als seien ihm Augen gewachsen, landete er unmittelbar vor Huang Qiuya. Die Rotgardistin machte einen Luftsprung, griff in die Haare meiner Tante und riss sie mit aller Kraft nach unten, Gugu machte den Hals steif und leistete dem Mädchen Widerstand. Es war wie Tauziehen. »Tante, bitte, bitte nimm den Kopf runter. Sie wird dich skalpieren! Die Dicke ist doch mindestens hundert Pfund schwer! Wie sie deinen Haarschopf mit beiden Händen wringt! Der steht schon stramm von deinem Körper ab.« Gugu ruckte wie ein stürmisches Pferd, das die Mähne wirft, abrupt mit dem Kopf. Die zwei Haarbüschel, die das Mädchen mit den Händen umkrallt hielt, wurden dabei ausgerissen. Hellrotes Blut triefte vom Kopf meiner Tante. Bis heute sind ihr davon zwei kupfermünzengroße Narben geblieben. Blut floss in Strömen über ihre Stirn, floss ihr über die Ohren hinab. Aber sie stand aufrecht und beugte sich nicht. Totenstille unterhalb der Bühne. Ein Esel vor einem Karren machte den Hals lang und brüllte sein schrilles Iah. Ich hatte kein Weinen meiner Mutter mehr gehört. Aschfahle Leere breitete sich in meinem Herzen aus. Huang Qiuya griff sich den ausgelatschten Schuh vor ihren Füßen, rannte los, hinauf auf die Bühne. Ich nehme an, sie wusste nicht, was dort oben geschehen war, denn sonst wäre sie mit Sicherheit unten geblieben. Oben angekommen, erstarrte sie zur Salzsäule. Sie warf den Schuh fort, murmelte etwas und wich Schritt um Schritt zurück. Xiao Oberlippe hechtete auf die Bühne und brüllte: »Wan Herz! Wie führst du dich hier auf!« Er ruderte mit den Armen und feuerte sich selbst beim Parolenschreien an. Er wollte damit die Stimmung wieder in Schwung bringen. Keiner der vielen, die unterhalb der Bühne saßen, stimmte jedoch mit ein. Die Dicke umklammerte immer noch die zwei Haarbüschel samt Kopfhaut. Wie zwei Schlangen baumelten sie in ihren Händen, als sie damit, schreiend wie ein Kleinkind, die Bühne hinabstolperte. »Stillgestanden!«, brüllte Oberlippe die zurückweichende Huang Qiuya an. Er zeigte mit dem Finger auf den Schuh. »Häng ihr den Schuh um!« Hellrotes Blut floss über Gugus Ohren, strömte über die Brauen, floss in ihre Augen, floss ihren Hals herunter. Gugu hob die Hand und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Huang Qiuya bückte sich, hob den Schuh auf und ging zitternd wie Espenlaub auf sie zu. Meine Tante hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Ein monströser Schrei entwich ihr. Dann spuckte sie weißen Schaum und fiel bewusstlos hintenüber. Wie einen toten Straßenköter zerrten die zuspringenden Rotgardisten sie von der Bühne. Xiao Oberlippe griff sich Yang Lin am Kragen und trat ihm in die Kniekehlen, damit er sich aufrichtete. Er hing mit schlackernden Armen, krummen Beinen, am ganzen Körper schlaff, in seinem Hemd. Hätte Oberlippe den Griff gelockert, wäre er sofort ohnmächtig zu Boden gegangen. »Wan Herz widersetzt sich halsstarrig. Ihr bleibt nur noch der Tod. Wenn aus ihr nichts rauszubekommen ist, sei du wenigstens gefügig. Wenn du alles frei preisgibst, werden wir milde mit dir verfahren. Wenn du dich weigerst, sind wir unerbittlich!«, fuhr Xiao Oberlippe ihn an. »Sag schon, wie oft habt ihr beide es miteinander getrieben?« Yang Ling sagte keinen Ton. Oberlippe winkte einen Riesenkerl herbei, der Yang Lin an die zwanzig Backpfeifen verpasste. Mit beiden Händen abwechselnd teilte er aus. Es schallte hell bis in die Bäume hinauf. Ein paar kleine weiße Dinger fielen zu Boden. Wahrscheinlich waren es seine Zähne. Er schwankte, drohte hinzufallen, aber der Kerl hielt ihn am Kragen. Er ließ nicht zu, dass er zu Boden ging. »Nun los! Habt ihrs miteinander getrieben?« »Haben wir.« »Wie oft?« »Einmal ...« »Sag gefälligst die ganze Wahrheit!« »Zweimal ...« »Du lügst mich an!« »Dreimal, viermal, zehnmal, oft, ich erinnere mich nicht.« Meine Tante stieß einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wie eine Löwin, die sich auf ihre Beute stürzt, sprang sie herbei und fiel über Yang Lin her. Der lag bewusstlos am Boden, während sie ihm das Gesicht zerkratzte. Ein paar kapitale Burschen aus dem Kontrolltrupp brauchten all ihre Kraft, um sie von Yang Lin zu trennen. Auf dem Eis hörte man ein monströses Geräusch. Die Eisschicht fing an zu bersten. Viele Menschen brachen ein und gingen im Eiswasser unter. DAS ZWEITE BUCH Verehrter Yoshito Sugitani san! Ich habe furchtbare Gewissensbisse, es lässt mir keine Ruhe, dass Sie so viel kostbare Zeit für mich opfern. Dass Sie die Geduld aufbringen, einen so langen Brief zu Ende zu lesen, den ich in Etappen über einen Zeitraum von zwei Monaten schrieb und den ich Ihnen dann auch noch, um Geld zu sparen, nur als Päckchen per Seefracht zuschickte, und schließlich, dass Sie mich dazu auch noch ermutigten und darin bestärkten. Und wie ist mir erst zumute, seit ich von Ihnen erfahren habe, dass der japanische Kommandostabsgeneral Sugitani, der damals im Zuge der japanischen Invasion im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg bei uns in Pingdu als Besatzer stationiert war, doch tatsächlich Ihr Herr Vater war! Und nun haben Sie, stellvertretend für Ihren Herrn Vater, bei meiner Tante, meiner gesamten Familie und den Dörflern aus meinem Heimatort für das geschehene Unrecht um Verzeihung gebeten. Dass Sie Ihre Augen vor der Geschichte nicht verschließen und es Ihr Wille ist, die Konsequenzen zu tragen, und dass Sie sich dies zutrauen, hat uns alle zutiefst gerührt. Zumal Sie ja selbst Leidtragender des Krieges sind. Sie haben in Ihrem Brief erwähnt, dass Sie und Ihre Frau Mutter während des Krieges ein Leben in Angst und Schrecken führten und dass Sie beide nach dem Krieg hungerten und in Lumpen gingen. Auch Ihr Herr Vater ist, wenn man es recht betrachtet, ein Leidtragender des Krieges. Denn wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte er, wie Sie sagen, eine glänzende Zukunft als Chirurg vor sich gehabt. Der Krieg war sein Schicksal, er gab seinem Leben einen gänzlich anderen Verlauf, veränderte seinen Charakter und machte aus einem Lebensretter einen Mörder. Ich habe Ihren Brief meiner Tante, meinem Vater und vielen, die jenen Krieg hier miterlebten, vorgelesen. Als ich zu Ende gelesen hatte, seufzten alle tief berührt und hatten tränenverschleierte Augen. Als Ihr Herr Vater als Kommandostabsgeneral der Besatzungszone das Hauptquartier Pingdu unter sich hatte, waren Sie ein Kind von vier, nicht einmal fünf Jahren. Es gibt keinen Grund, dass Sie für die Kriegsverbrechen, die er begangen hat, Verantwortung übernehmen. Aber Sie tun es aus freien Stücken. Mutig schultern Sie die Last der Verbrechen Ihres Herrn Vaters. Sie wollen die Schuld unter persönlichem Einsatz abbüßen. Diese Bereitschaft schätzen wir hoch, auch wenn unsere Herzen dabei bluten. In unserer heutigen Zeit mangelt es auf der ganzen Welt vor allem an der Herzenseinstellung, Verantwortung zu übernehmen. Wenn alle Menschen auf der ganzen Welt mit wachen Augen und Herzen selbstkritisch die Geschichte und sich selbst einer Prüfung unterzögen, dann bliebe der Menschheit eine Menge Dummheit erspart. Meine Tante, mein Vater und alle meine Freunde aus unserem Dorf laden Sie herzlich ein, wiederzukommen und unser Gast in Nordost-Gaomi zu sein. Meine Tante sagte, sie wolle Sie dann auf einer Reise nach Pingdu begleiten, um sich alles vor Ort anzuschauen. Sie hat mir noch im Geheimen verraten, dass sie von Ihrem verblichenen, verehrten Herrn Vater nur das Beste denkt, er habe einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht. Unter den japanischen Offizieren der Kaiserlich Japanischen Armee gab es sicherlich viele, die so entsetzlich barbarisch und brutal waren, wie die chinesischen Filme sie immer zeigen. Es gab aber auch einige, die wie Ihr verblichener Herr Vater kultiviert und vollendet höflich waren. Meine Tante hat über ihn ein persönliches Urteil abgegeben. Sie bezeichnet ihn als einen weniger Bösen innerhalb einer großen Gruppe von Verbrechern. Anfang Juni bin ich wieder nach Gaomi zurückgekehrt. Inzwischen ist bereits ein Monat vergangen, in dem ich mich sozusagen der empirischen Sozialforschung bei uns gewidmet habe, alles Vorbereitungen für das geplante Theaterstück, das meine Tante zum Thema hat. Zur gleichen Zeit schreibe ich weiter an den von Ihnen erbetenen Briefen, in denen ich Ihnen die Lebensgeschichte meiner Tante schildere, und ich befolge Ihren mahnenden Ratschlag und schreibe möglichst viel von dem, was mir persönlich widerfahren ist, mit in die Briefe hinein. Von meiner Tante und von meinem Vater Ihnen und Ihrer Familie herzliche Grüße! Wir Dörfler Nordost-Gaomis heißen Sie willkommen, uns wieder zu besuchen! Kaulquappe Gaomi, im Juli 2003 Verehrter Yoshito Sugitani san! Ich habe furchtbare Gewissensbisse, es lässt mir keine Ruhe, dass Sie so viel kostbare Zeit für mich opfern. Dass Sie die Geduld aufbringen, einen so langen Brief zu Ende zu lesen, den ich in Etappen über einen Zeitraum von zwei Monaten schrieb und den ich Ihnen dann auch noch, um Geld zu sparen, nur als Päckchen per Seefracht zuschickte, und schließlich, dass Sie mich dazu auch noch ermutigten und darin bestärkten. Und wie ist mir erst zumute, seit ich von Ihnen erfahren habe, dass der japanische Kommandostabsgeneral Sugitani, der damals im Zuge der japanischen Invasion im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg bei uns in Pingdu als Besatzer stationiert war, doch tatsächlich Ihr Herr Vater war! Und nun haben Sie, stellvertretend für Ihren Herrn Vater, bei meiner Tante, meiner gesamten Familie und den Dörflern aus meinem Heimatort für das geschehene Unrecht um Verzeihung gebeten. Dass Sie Ihre Augen vor der Geschichte nicht verschließen und es Ihr Wille ist, die Konsequenzen zu tragen, und dass Sie sich dies zutrauen, hat uns alle zutiefst gerührt. Zumal Sie ja selbst Leidtragender des Krieges sind. Sie haben in Ihrem Brief erwähnt, dass Sie und Ihre Frau Mutter während des Krieges ein Leben in Angst und Schrecken führten und dass Sie beide nach dem Krieg hungerten und in Lumpen gingen. Auch Ihr Herr Vater ist, wenn man es recht betrachtet, ein Leidtragender des Krieges. Denn wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte er, wie Sie sagen, eine glänzende Zukunft als Chirurg vor sich gehabt. Der Krieg war sein Schicksal, er gab seinem Leben einen gänzlich anderen Verlauf, veränderte seinen Charakter und machte aus einem Lebensretter einen Mörder. Ich habe Ihren Brief meiner Tante, meinem Vater und vielen, die jenen Krieg hier miterlebten, vorgelesen. Als ich zu Ende gelesen hatte, seufzten alle tief berührt und hatten tränenverschleierte Augen. Als Ihr Herr Vater als Kommandostabsgeneral der Besatzungszone das Hauptquartier Pingdu unter sich hatte, waren Sie ein Kind von vier, nicht einmal fünf Jahren. Es gibt keinen Grund, dass Sie für die Kriegsverbrechen, die er begangen hat, Verantwortung übernehmen. Aber Sie tun es aus freien Stücken. Mutig schultern Sie die Last der Verbrechen Ihres Herrn Vaters. Sie wollen die Schuld unter persönlichem Einsatz abbüßen. Diese Bereitschaft schätzen wir hoch, auch wenn unsere Herzen dabei bluten. In unserer heutigen Zeit mangelt es auf der ganzen Welt vor allem an der Herzenseinstellung, Verantwortung zu übernehmen. Wenn alle Menschen auf der ganzen Welt mit wachen Augen und Herzen selbstkritisch die Geschichte und sich selbst einer Prüfung unterzögen, dann bliebe der Menschheit eine Menge Dummheit erspart. Meine Tante, mein Vater und alle meine Freunde aus unserem Dorf laden Sie herzlich ein, wiederzukommen und unser Gast in Nordost-Gaomi zu sein. Meine Tante sagte, sie wolle Sie dann auf einer Reise nach Pingdu begleiten, um sich alles vor Ort anzuschauen. Sie hat mir noch im Geheimen verraten, dass sie von Ihrem verblichenen, verehrten Herrn Vater nur das Beste denkt, er habe einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht. Unter den japanischen Offizieren der Kaiserlich Japanischen Armee gab es sicherlich viele, die so entsetzlich barbarisch und brutal waren, wie die chinesischen Filme sie immer zeigen. Es gab aber auch einige, die wie Ihr verblichener Herr Vater kultiviert und vollendet höflich waren. Meine Tante hat über ihn ein persönliches Urteil abgegeben. Sie bezeichnet ihn als einen weniger Bösen innerhalb einer großen Gruppe von Verbrechern. Anfang Juni bin ich wieder nach Gaomi zurückgekehrt. Inzwischen ist bereits ein Monat vergangen, in dem ich mich sozusagen der empirischen Sozialforschung bei uns gewidmet habe, alles Vorbereitungen für das geplante Theaterstück, das meine Tante zum Thema hat. Zur gleichen Zeit schreibe ich weiter an den von Ihnen erbetenen Briefen, in denen ich Ihnen die Lebensgeschichte meiner Tante schildere, und ich befolge Ihren mahnenden Ratschlag und schreibe möglichst viel von dem, was mir persönlich widerfahren ist, mit in die Briefe hinein. Von meiner Tante und von meinem Vater Ihnen und Ihrer Familie herzliche Grüße! Wir Dörfler Nordost-Gaomis heißen Sie willkommen, uns wieder zu besuchen! Kaulquappe Gaomi, im Juli 2003 1 Verehrter Freund, der 7. 7. 1979 ist mein Hochzeitstag. Meine Braut Wang Renmei war meine Klassenkameradin aus der Grundschule. Sie hatte die langen Beine mit mir gemein, wir beide hatten Kranichbeine. Immer wenn ich ihre langen Beine sah, pochte mein Herz wie verrückt. Mit achtzehn traf ich sie am Brunnen, als ich mit dem Tragjoch Wasser holen ging. Ihr Eimer war ihr hinein gefallen, und sie lief aufgeregt im Kreis. Ich kniete mich auf den Brunnenrand, um ihr den Eimer wieder herauszuholen. An jenem Tag hatte ich Glück, mit einem Griff kriegte ich ihn zu packen und fischte ihn heraus. Sie rief voller Bewunderung: »Renner, das ist toll! Du bist ja ein Spezialist im Rausfischen von Eimern!« Damals durfte sie an der Grundschule Vertretungsstunden für den Lehrer geben. Sie gab Sportunterricht. Sie war eine hoch aufgeschossene Bohnenstange, mit langem Hals, zierlichem Kopf und zwei geflochtenen Zöpfen, die ihr den Rücken hinunterbaumelten. »Renmei, ich will dir was erzählen«, stotterte ich. »Was denn?« »Wang Galle und Chen Nase gehen miteinander. Wusstest du das?« Erst zuckte sie zusammen, dann lachte sie los. »Renner, da redest du ausgemachten Unsinn. Wie sollte wohl eine so kleine Person wie Galle mit diesem Ausländerross Nase zusammen sein? Das passt doch gar nicht!« Dann aber platzte es plötzlich aus ihr heraus, sie bog sich vor Lachen und errötete übers ganze Gesicht, als hätte sie sich etwas Bestimmtes vorgestellt. Todernst erwiderte ich: »Es stimmt. Wenn ich nicht die Wahrheit sage, will ich mich sofort in einen Hund verwandeln. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« »Was hast du gesehen?«, fragte Renmei jetzt, worauf ich ihr zuraunte: »Wenn ich es dir erzähle, darfst du aber nichts weitersagen. Als ich gestern aus dem Zimmer des Arbeitspunktekontrolleurs kam, ging ich an der Tenne vorbei, an dem Strohhaufen. Dahinter habe ich Flüstern und leises Kichern gehört. Ich habe mich heimlich herangepirscht, mein Ohr an den Strohhaufen gehalten und gehorcht. Ich habe gemerkt, dass Nase und Galle da drinnen steckten und miteinander turtelten. Ich hörte Galle sagen: ›Bruderherz Nase, verlass dich drauf: Auch wenn ich so klein bin, fehlt mir nichts, und ich kann dir bestimmt einen großen Sohn gebären.‹« Renmei bog sich wieder, weil sie einen Lachanfall bekam. Ich fragte sie: »Willst du weiterhören oder nicht?« »Klar doch. Nun sag schon! Was haben die sonst noch gemacht?« Ich sagte: »Dann haben sie sich wohl gegenseitig auf den Mund geküsst.« »Völliger Unsinn. Das kann doch gar nicht angehen!« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich lüge? Wenn ich dich hinters Licht führen wollte, würde ich mir schon was Besseres ausdenken.« »Wie haben die das mit dem Küssen geschafft?« »Na wie schon ... Nase hat Galle in den Arm genommen, besser gesagt auf den Arm, wie man ein kleines Kind auf den Arm nimmt. Und dann hat er sie geküsst, so viel und so lange, wie er wollte.« Wang Renmei wurde rot: »Renner, du bist ein ganz verdorbener Lump! Und Nase ist genauso ein verdorbener Lump!« Ich sagte zu ihr: »Wang Renmei, können wir beide, wo doch Nase und Galle schon ein Liebespaar sind, Freundschaft schließen?« Sie stutzte, dann lachte sie hell: »Wieso möchtest du mit mir befreundet sein?« »Weil wir beide lange Beine haben. Meine Tante sagt, wenn wir beide heiraten würden, bekämen unsere Kinder bestimmt lange Beine. Wir könnten unser langbeiniges Kind trainieren, damit es Weltmeister wird.« Sie lachte: »Deine Tante ist ja witzig! Sie ist nicht nur für die Sterilisationen zuständig, sondern auch noch für die Heiratsvermittlung!« Sie schulterte die Tragestange mit den Wassereimern und ging. Mit Riesenschritten, die Tragestange federte und die zwei Eimer hüpften auf und ab, als würde sie jeden Moment abheben und losfliegen. Später ging ich zum Militärdienst und verließ mein Dorf. Wieder ein paar Jahre später hörte ich, dass sie sich mit Xiao Unterlippe verlobt hatte, der damals in der Mittelschule für Landwirte als Aushilfslehrer Sprachen unterrichtete. Er hatte einen Essay mit dem Titel Lobpreis auf die Kohle geschrieben, der im Feuilleton der Shandonger Tageszeitung Dazhong Daily erschien und bei uns in Nordost-Gaomi großes Aufsehen erregte. Diese Nachricht hatte mir ganz schön zu denken gegeben. Denn diejenigen von uns, die damals Kohlen gegessen hatten, hatten keine Hymne auf die Kohle geschrieben. Er dagegen, der sie verschmäht hatte, schrieb den Lobpreis auf die Kohle. Da war Renmeis Wahl wohl genau richtig. Als Xiao Unterlippe die Universitätseintrittsprüfungen bestand, zündete sein Vater Oberlippe zur Feier drei Böllerschlangen mit jeweils tausend Chinakrachern, und er bestellte ein Filmvorführteam, das auf dem Schulhof unserer Grundschule eine Leinwand aufhängte und drei Abende lang Filme vorführen musste. Er war unerträglich arrogant, anmaßend, dünkelhaft ... Damals kam ich gerade aus dem Chinesisch-Vietnamesischen Krieg, dem sogenannten Selbstverteidigungskrieg. Ich hatte »Verdienste dritter Klasse« errungen und wurde von da an offiziell als Berufsoffizier eingesetzt. Von allen Seiten wurden Heiratsanträge an mich herangetragen, wurden Bräute vorgeschlagen, die für mich in Frage kämen. Gugu sagte: »Renner, ich werde dir ein feines Mädchen vorstellen. Ich garantiere, dass sie deinen Ansprüchen genügt.« Mutter fragte: »Wer ist es denn?« »Es ist meine Gehilfin Shizi«, sagte die Tante. »Schwägerin, das Mädchen ist doch schon über dreißig!« »Nein, sie ist gerade mal dreißig.« »Aber Renner ist erst sechsundzwanzig.« »Es ist besser, wenn die Frau etwas älter ist, die älteren kümmern sich besser.« Ich erklärte meiner Tante, sie sei bestimmt gut genug für mich, aber Wang Leber sei schon fünfzehn Jahre lang in sie verliebt. Ich könne meinem besten Freund doch nicht die Braut ausspannen. »Leber? Das ist doch wohl zu hoch gegriffen! Als wollte eine Unke Schwanenfleisch essen! Und wenn sie gar keinen heiratet, aber den wird sie nicht zum Mann nehmen! Sein Vater kommt alle Tage am Stock zu mir ins Krankenhaus gehumpelt, um wegen dieser Angelegenheit mit mir zu streiten. Seit Jahren ruiniert er systematisch meinen guten Ruf. Er hat mich inzwischen achthundert Yuan für Stärkungsmittel gekostet.« »Na, der markiert aber auch ein wenig.« Gugu war sofort in Rage: »Nicht bloß ein wenig, er markiert komplett. Der presst mir Geld ab und rennt damit zum Markt, um sich den Bauch mit Schmorfleisch vollzuschlagen und sich mit Branntwein volllaufen zu lassen. Ist er betrunken, jagt er über den Markt, den Rücken gerade wie eine Eins und flink wie ein Wiesel. Warum begegnen mir immer solche Pfeifen? Und dann erst dieser Bastard Oberlippe. Während der Kulturrevolution lyncht er mich fast zu Tode, und jetzt kommt er als herzensguter Großvater daher, ein Müßiggänger, der mit dem Palmblattfächer wedelt. Und man hört, sein Sohn habe die Aufnahmeprüfungen der Universität bestanden. Früher hatten wir eine Redensart: Gutes wird mit Gutem vergolten und Böses mit Bösem. Und jetzt? Guten Menschen widerfährt nichts Gutes, doch den Bösen wohl.« Mutter warf ein: »Das Gesetz von Ursache und Wirkung existiert, aber es ist eben noch nicht so weit.« Tante fragte: »Wann ist es denn so weit? Mein Haar ist längst grau.« Als meine Tante gegangen war, sagte meine Mutter seufzend: »Im Leben deiner Tante läuft wirklich gar nichts glatt.« »Die Leute erzählen, Yang Lin hätte Gugu später noch mal besucht, stimmt das?«, fragte ich. »Ja, deine Tante behauptet, er sei wieder bei ihr vorbeigekommen. Ich habe gehört, dass er inzwischen Bezirkskommissar geworden ist und in einer großen Limousine chauffiert wird. Er hat sie um Verzeihung gebeten und erklärt, er wolle sie immer noch heiraten und seine Fehler während der Kulturrevolution sühnen. Deine Tante lehnte aber sofort und ohne zu überlegen ab.« Als wir gerade wegen Gugus Herzensangelegenheiten ins Seufzen kamen, stürzte Renmei mit Riesenschritten zur Tür herein. »Verehrte Tante, ich habe gehört, Renner hat Großes geleistet und ist nun zurück, um sich eine Frau zu suchen. Würde ich Euren Ansprüchen genügen?« »Aber mein Mädchen, du bist doch längst in festen Händen?«, gab meine Mutter zurück. »Ich habe mit Unterlippe Schluss gemacht.« »Der trennt sich, nachdem er die Aufnahmeprüfung für die Universität geschafft hat? Der ist ja so ein ehrloser Betrüger wie Chen Shimei !«, empörte sich meine Mutter. »Nicht er, sondern ich habe die Beziehung beendet. Was ist schon dabei, wenn man es auf die Universität schafft? Dieser Angeber mit seinen Böllern und dem Freiluftkino auf dem Markt ist mir zu vorlaut. Da ist mir Renner lieber, er hat es zum Offizier gebracht und macht keine große Sache daraus. Wenn er zu Hause ankommt, geht er gleich zum Arbeiten aufs Feld.« »Renmei, eine Verbindung mit Renner und unserer Familie wäre nicht standesgemäß«, gab Mutter zu bedenken. »Verehrte Tante, diese Angelegenheit können wir so nicht endgültig klären. Da müssen wir Renner fragen. Renner, möchtest du mich zur Frau haben und soll ich für dich einen Weltmeister zur Welt bringen?« Ich warf einen Blick auf ihre Beine und sagte: »Das will ich!« 2 Am Hochzeitstag hatten wir schlechtes Wetter, es gab einen Kälteeinbruch, am Himmel ballten sich graue Wolken zusammen und es donnerte. Nach dem Donner schüttete es wie aus Kübeln. Höchst ungemütlich! Mutter murmelte mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme: »Da hat Yuan Backe ja einen feinen Hochzeitstag ausgesucht. Von wegen astrologisch glücklichster Tag zum Heiraten, es sieht aus, als fluteten die Wasser den Jinshan-Tempel in Zhenjiang .« Um zehn Uhr früh kam Renmei in Begleitung zweier Cousinen im strömenden Regen zu uns nach Haus. Sie trugen Regenmäntel und sahen aus, als kämen sie vom Hochwasserschutz und seien auf dem Weg zum Fluss, um eine Inspektion der Deiche vorzunehmen. Im Hof hatten wir ein Partyzelt aufgestellt und darin einen Herd untergebracht, vor dem ich kniete und mit einem Blasebalg das Feuer zum Wasserkochen anfachte. Mein Cousin Wuguan rief mir in unflätigem Ton zu: »Held des Chinesisch-Vietnamesischen Kriegs, was hockst du da noch am Herd? Die Braut steht schon im Hof!« Ich erwiderte nur: »Na, dann mach du doch hier für mich weiter!« Er rief zurück: »Tante hat mich für die Böllerschlangen eingeteilt. Um bei so einem Sauwetter Böller zu zünden, braucht man eine gute Technik.« Mutter stand in der Tür und rief: »Wuguan, sei endlich still! Nun mach schon!« Er fischte eine Knallerschlange, die er vorher in Plastikfolie eingewickelt hatte, aus seiner Jacke und zündete die Zündschnur an. Er hatte keinen Stecken, woran er sie hätte hängen können. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er sie in der einen Hand, in der anderen den aufgespannten Regenschirm, und drehte sich weg, während sie abbrannte. Schwarzer Qualm hüllte ihn ein, denn er hatte in dem heftig prasselnden Regen die Folie nicht abziehen können. Die Kinder, die wegen des Trubels alle herbeigekommen waren, sahen im Regen wie Suppenhühner aus. Sie klatschen in die Hände, stampften mit den Füßen und feuerten ihn an: »Wuguan! Qualmkopf! Qualmkopf!« »Was gibt’s da zu schreien, ihr verdorbenen Blagen!«, rief Mutter herüber. Bei Hochzeiten ist es so Brauch, dass die Braut, wenn sie den Hof betritt, keinen Ton sagt, schweigend das Wohnzimmer durchquert, ins Hochzeitszimmer hineingeht, ein Bein in die Höhe schwingt und auf den Kang steigt. Diese Pose nennt man »Aufs Bett steigen«. Nicht so Renmei! Die betrat den Hof und schaute Wuguan erst mal beim Böllern zu. Der Qualm hatte Wuguan so das Gesicht geschwärzt, dass er aussah, als wäre er gerade aus dem Ofenrohr geklettert. Renmei lachte laut auf, ihre beiden Brautjungfern zupften sie verstohlen am Ärmel, aber sie reagierte nicht. Sie trug Plastikstöckelschuhe, so dass sie noch größer wirkte. Groß wie ein Baum erschien sie mir. Wuguan machte eine entsprechende Bemerkung, während er sie musterte: »Schwägerin, wer dich küssen will, muss ja erst mal auf eine Leiter steigen.« »Wuguan, ich werde dir das Maul stopfen, wenn du nicht ruhig bist!«, rief die Mutter in lautem Ton über den Hof. »Bist du ein Hornochse!«, sagte Renmei. »Selbst Galle und Nase schaffen das ohne Leiter!« Fix waren da die neugierigen Ohren der alten Tanten und Großtanten gespitzt, als sie hörten, dass sich die Braut im Hof mit ihrem Schwager neckte. Ich kam mit der Kohlenschaufel aus dem Partyzelt, da klatschen die Kinder in die Hände und stampften mit den Füßen: »Der Held ist da! Der Held ist da ...« Ich trug meine neue Uniform, hatte meinen Orden, die Ehrenmedaille dritten Grades, angesteckt, war aber weder Fisch noch Fleisch mit meinem rußverschmierten Gesicht und der Kohlenschippe in der Hand. Renmei bog sich vor Lachen. Sie hörte gar nicht wieder auf. Ich war verstört. Mir war zum Lachen und Weinen zumute. Was war nur los mit ihr? Spielten bei ihr die Nerven verrückt? Mutter schrie wieder über den Hof: »Nun macht schon, dass ihr sie endlich ins Haus bringt!« Ich sagte mit einem ironischen Unterton: »Gnädigste, bitte ins Hochzeitszimmer einzutreten!« Renmei erwiderte: »Drinnen ist es stickig, draußen ist die Luft angenehm frisch.« Die Kinder klatschten wieder in die Hände und stampften mit den Füßen: »Nun geh rein, das wird fein!« Ich ging ins Haus zurück und holte eine Kelle voll Bonbons, rannte über den Hof zum Hoftor und streute sie mit Schwung auf die Gasse! Wie ein Bienenschwarm schwirrten die Kinder zum Tor und balgten sich in den Schlammpfützen um die Bonbons. Ich packte Renmei am Handgelenk und zog sie mit ins Haus, doch die Tür war zu niedrig, sie stieß sich am Türrahmen die Stirn, dass es knallte: »Mensch! Hier rammt man sich ja den Schädel ein!« Die Tanten schüttelten sich vor Lachen. Klein war der Raum auch. Es drängten sich darin so viele Menschen, dass sie Hintern an Hintern standen. Die drei zuletzt Eingetroffenen zogen ihre triefend nassen Regenmäntel aus, aber es gab keinen Ort zum Aufhängen. Deswegen mussten die Mäntel an den Türrahmen gehängt werden. Der Boden war ohnehin schon feucht gewesen. Jetzt, da alle triefend und mit Schlammfüßen hereingekommen waren, war er eine einzige Schlammwüste. In dem kleinen Zimmerchen, das unser Hochzeitszimmer sein sollte, war auch der Kang nicht mal zwei Meter lang. Am Kopfende des Kangs lag aufeinander gestapelt die Aussteuer, die die Eltern Renmeis vorbeigebracht hatten. Vier neue Baumwollsteppdecken und zweimal neues Bettzeug, dazu zwei Wolldecken und zwei Kopfkissen. Der Stapel war so hoch, dass er fast an die mit Papier beklebte Zimmerdecke stieß. Kaum hatte Renmeis Hintern die Matte auf dem Kang berührt, schrie sie auch schon: »Aua, Mama! Das ist doch kein warmer Kang! Das ist eine Kochplatte!« Jetzt reichte es meiner Mutter. Sie pochte laut mit dem Krückstock auf den Boden: »Und wenn schon! Meinetwegen ist es eine Kochplatte, aber da setzt du dich jetzt drauf. Mal sehen, ob wir deinen Schinken gar geröstet kriegen.« Renmei lachte wieder schallend. Sie flüsterte mir zu: »Renner, deine Mutter hat einen seltsamen Humor. Wenn ich meinen Hintern hier röste, wird aus unserm Weltmeisterbaby nichts.« Ich war so wütend, dass ich jeden Augenblick bewusstlos hätte hinknallen können. Aber an einem solchen Glückstag macht ein Wutausbruch einen schlechten Eindruck. Also streckte ich die Hand aus und befühlte die Bastmatte auf dem Kang. Sie war wirklich kochend heiß. Weil wir so viele Gäste im Haus hatten – alle Tanten und Großtanten, Cousinen, Schwägerinnen waren ohne Ausnahme gekommen und blieben zum Essen –, kochte unter dem Dämpfer ununterbrochen Wasser. Dampfnudeln, Nudeln und alle möglichen Gerichte wurden zubereitet. Der Herd lief auf Hochtouren. Es stimmte, dass die Matte fast brutzelte. Ich zog eine Steppdecke aus dem Bettzeugturm heraus, faltete sie, schob sie an die Wand und sagte: »Gnädigste, bitte aufzusteigen und Platz zu nehmen!« Renmei keuchte vor Lachen: »Renner, du Spaßvogel. Was soll der Scheiß, mich immer mit Gnädigste anzureden? Sag doch Schwiegertochter, wie wir es hier auf dem Dorf gewohnt sind, oder sag einfach wie früher Renmei.« Ich sagte gar nichts mehr. Dass ich mir so eine durchgeknallte Braut aufgebürdet hatte! Jetzt musste ich die Suppe auslöffeln. Hörte sie denn nicht heraus, dass ich es ironisch meinte und meinem Unmut über sie damit Luft machte? »Okay, wird gemacht. Schwiegertochter Renmei, bitte auf den Kang!« Ich ließ mir von ihren beiden Cousinen erklären, wie das mit den Schuhen funktionierte, und zog ihr die Schuhe und die beiden völlig verschlammten Nylonsocken aus, um sie sodann auf den Kang zu heben. Dort stand sie sofort auf und stieß mit dem Kopf gegen die Decke. In diesem engen, niedrigen Raum sah sie noch größer aus. Sie hatte verschwindend schmale Wadenmuskeln an ihren Kranichbeinen, und ihre Füße waren auch nicht gerade klein. Sie konnten sich von der Größe her mit meinen messen. Sie tänzelte mit den nackten Füßen auf diesem keine zwei Quadratmeter großen Kang immer im Kreis herum, so dass sie ihn allein mit Beschlag belegte und nicht einmal die Brautjungfern noch drauf passten, obwohl es doch bei uns Brauch ist, dass sie neben der Braut sitzen müssen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich einen anderen Platz zu suchen. Die eine stand in der Zimmerecke, die andere saß auf der Kangkante. Als ob Renmei ihre Größe herausstreichen wollte, ging sie auf Zehenspitzen und drückte den Kopf gegen die Decke. Es schien ihr Spaß zu machen, auf dem Kang im Kreis zu trippeln, zu hopsen und dabei gegen die Zimmerdecke zu stoßen. Mutter steckte den Kopf zur Tür herein: »Schwiegertochter, wo willst du heut Nacht schlafen, wenn du den Kang zum Einstürzen bringst?« »Wenn er einstürzt, schlafen wir auf dem Fußboden«, gackerte Renmei. Gegen Abend kam auch meine Tante zum Essen. Sie war noch am Hoftor und hatte den Fuß noch nicht auf den Hof gesetzt, da rief sie schon laut: »Eure Tante ist da! Holt mich denn keiner zur Begrüßung ab?« Wir sprangen auf und rannten sofort zum Tor, um sie abzuholen. Mutter sagte: »Wir dachten schon, heute regnet es Hunde und Katzen und deswegen kommst du nicht mehr.« Sie hielt einen Tungöl-Regenschirm in der Hand und stand barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen, beide Füße im Schlamm. Die Schuhe hielt sie unter den Arm geklemmt. »Da kann es Messer regnen, aber zur Hochzeit meines zum Helden gekürten Neffen komme ich auf jeden Fall! Wie könnte ich da wegbleiben?« »Ich bin doch kein Held, Tante. Ich bin da als Feldkoch gewesen und habe nur das Essen zubereitet«, widersprach ich meiner Tante, »nicht mal den Schatten der Feinde habe ich zu Gesicht bekommen.« »Der Feldkoch ist genauso wichtig wie die übrigen Soldaten. Menschen sind Eisen, Reis ist Stahl. Wer sich beim Militär nicht sattessen kann, kann auch nicht unter Einsatz seines Lebens an vorderster Front kämpfen! Macht mir schnell was zu essen«, erklärte meine Tante. »Nach dem Essen muss ich sofort aufbrechen. Wenn die Brücke erst überschwemmt ist, komme ich nicht mehr über den Fluss zurück.« »Bleib ein paar Tage bei uns! Geh nicht gleich heute Abend!«, meinte Mutter. »Wir warten schon so lange darauf, dich mal wieder erzählen zu hören! Heute Abend machen wir’s uns gemütlich und du erzählst uns die neusten Geschichten, was meinst du?« Gugu aber schlug das Angebot aus: »Daraus wird nichts. Die PKKCV in unserem Kreis hat Sitzung.« »Renner, weißt du, dass deine Tante aufgestiegen ist? Sie hat jetzt den Rang eines Mitglieds des ständigen Ausschusses der PKKCV in unserem Kreis.« »Was soll denn das für ein Beamtenrang sein, bitte schön?«, fiel die Tante ein. »Du meinst wohl, so wie man längst vergorene Wolfsbeeren nur noch wegen der hübschen roten Farbe zum Garnieren einer Platte verwendet, so einen Rang nur fürs Auge.« Gugu verschwand erst einmal im Westzimmer. Es war vollgestopft mit Verwandten, ein heilloses Durcheinander. Alle, die dort saßen, machten sofort den Rücken krumm und rutschten runter vom Kang, sogar unter den Kang drängelten sie sich, um der Tante den Platz frei zu machen. Aber sie sagte: »Bleibt ihr wohl alle auf euren Plätzen, ich esse nur einen Happen und bin schon wieder weg.« Mutter wies meine Schwester an, der Tante schnell aufzutun. Gugu hob den Deckel vom Wok und griff sich eine der kleinen Hochzeitsdampfnudeln, wie sie bei uns von den Brautleuten für einen reichen Kindersegen gegessen werden. Sie ließ den weichen Kloß von einer Hand in die andere rollen, um sich die Hände nicht zu verbrennen, und pustete geräuschvoll, damit er schneller abkühlte. Dann riss sie ihn in der Mitte auf, steckte ein wenig gedämpftes, mit Reismehl paniertes Fleisch in die Kuhle, klappte die Dampfnudel wieder zu und biss herzhaft hinein. Sie nuschelte: »Lecker! Ihr braucht mir keinen Teller und keine Schale zu holen. So schmeckt es am allerbesten. Seit ich in meinem Beruf arbeite, habe ich mich ohnehin nie mehr zum Essen an einen Tisch gesetzt. Die paar Mal kann ich an einer Hand abzählen.« Kauend und mit der Hefenudel in der Hand sagte sie: »Nun zeigt mir mal euer Hochzeitszimmer!« Renmei fand den Kang immer noch zu heiß, deswegen hatte sie sich aufs Fensterbrett gesetzt. Es fiel noch genug Licht zum Fenster herein, um lesen zu können, und sie schaute sich eine Holzschnitt-Bildergeschichte an, wie wir sie damals als Propaganda- und Erziehungsbüchlein von der Partei bekommen hatten. Sie schüttete sich dabei aus vor Lachen. »Meine Tante ist da«, sagte ich. Mit einem geräuschvollen Satz kam Renmei von der Fensterbank herunter und nahm Gugu bei der Hand: »Tante! Ich muss dich unbedingt was fragen. Endlich bist du da!« »Was willst du mich fragen?« Renmei flüsterte: »Die Leute sagen, du hättest da so eine Arznei. Wenn man die schluckt, kann man Zwillinge bekommen?« Tante machte große Augen: »Wer sagt das?« »Wang Galle sagt das.« »Bloßes Gerede! Reine Gerüchteküche!« Tante hatte sich an der Dampfnudel verschluckt und musste husten. Ein schlimmer Anfall, sie wurde puterrot. Meine Schwester holte schnell einen Schluck Wasser. Gugu trank und klopfte sich die Brust, um dann ernst zu erklären: »Es geht gar nicht darum, ob ich so eine Arznei kenne oder nicht. Selbst wenn es so wäre, würde ich die bestimmt keinem verabreichen.« »Galle sagt, dass im Dorf der Chens jemand die von dir verschriebene Arznei eingenommen und dann ein Zwillingspärchen zur Welt gebracht hätte. Einen Buben und ein Mädchen, wie Phönix und Drache.« Gugu drückte meiner Schwester den Rest der Hefenudel in die Hand: »Es ist zum Auswachsen! Dieses Ungeheuer Galle! Wie viel Energie hat es mich gekostet, sie aus dem Bauch ihrer Mutter herauszuholen! Und jetzt streut sie böse Gerüchte über mich! Undankbares Kind! Die wird’s erleben, dass ich ihr eine Scharte in die Möse schneide!« Ich trat, als keiner hinsah, Renmei schnell gegens Schienbein und flüsterte ihr hinter Tantes Rücken zu: »Kein Wort mehr!« Zur Tante sagte ich: »Tante, reg dich bitte nicht auf!« Aber Renmei schrie sofort völlig überzogen: »Mama! Aua! Der hat mich getreten und mir mein Schienbein zertrümmert!« Mutter zischte wütend: »Die Beine von einem Hundevieh brechen nicht.« Renmei entgegnete sofort: »Schwiegermutter, das stimmt nicht! Der große braune Hund meines Onkels ist mit der Pfote in Oberlippes Tellereisen getreten und das ist ihm übel bekommen.« Seit Oberlippe aus dem Dienst ausgeschieden und als Ruheständler wieder in sein Heimatdorf gekommen war, hatte er das schmutzige Geschäft begonnen, Tieren nachzustellen. Er hatte sich ein Luftgewehr besorgt und schoss damit wild drauflos. Den ganzen Tag zielte er wahllos auf Vögel, alles, was ihm vor die Flinte kam, selbst Glücksvögel wie Elstern knallte er ab. Zum Fischen benutzte er ein engmaschiges Netz. Er drehte sich dabei im Kreis, sogar drei Zentimeter kleine, gerade geschlüpfte Fische erwischte er damit. Es war ein Treibnetz, eines, womit man die Fische ausrottet. Das Tellereisen hatte er sich auch zugelegt. Wir sagten dazu Eisenkatze, eine riesengroße, starke Klammer, die er im Wald und auf verwilderten Grabhügeln vergrub. Damit fing er Dachse und Marder. Der Hund von Renmeis Onkel war hineingetreten und hatte sich darin das Bein gebrochen. Sowie Tante Oberlippes Namen hörte, veränderten sich ihre Gesichtszüge. Mit zusammengebissenen Zähnen knurrte sie: »Diese Missgeburt. Den hätte doch längst der Blitz treffen müssen. Stattdessen lebt er wie die Made im Speck. Schlemmt und trinkt jeden Tag nach Herzenslust und ist fit wie ein kräftiger, muskulöser Stier. Daran sieht man, dass so ein richtig brutales Schwein sogar der Himmel fürchtet.« »Tante«, sagte Renmei, »auch wenn der Himmel ihn fürchtet, ich fürchte ihn nicht! Wenn du mit ihm verfeindet bist, werde ich dich rächen.« Jetzt freute sich die Tante und lachte schallend. Als sie mit Lachen fertig war, sagte sie zu Renmei: »Schwiegertochter, die ich durch meinen Neffen habe, ich sag dir jetzt mal die Wahrheit. Als mein Neffe mir zuerst sagte, dass er dich heiraten wolle, habe ich ihm meine Einwilligung nicht gegeben. Aber als ich hörte, dass du dich aus eigenem Antrieb von Oberlippes Sohn getrennt hast, hatte er meine Einwilligung sofort. Ich sagte ihm nur: ›Mach das, mein Junge, dieses Mädchen hat Charakter.‹ Einer, der es auf die Uni schafft, ist doch nichts Besonderes! Ich sag nur: ›Wir Wans werden unseren Enkel nicht nur auf irgendeine Uni schicken. Er wird auf eine Elite-Uni gehen! Nach Peking zur Peking University! Oder zur Tsinghua University! Oder nach England zur Cambridge University! Oder zur Oxford University! Und unser kleiner Wan wird einmal nicht nur den BA machen, sondern auch seinen Master und einen Doktor! Dann wird er Professor und Wissenschaftler! Richtig! Und er wird Weltmeister!‹« Renmei sagte: »Tante, dann gib mir doch bitte diese Zwillingsmedizin. Ich gebäre uns Wans dann noch einen Nachkommen mehr! Oberlippe wird sich vor Wut in den Boden rammen!« »Das ist ja nicht zu fassen! Alle sagen immer, du bist so direkt, ohne Umschweife. Na, das sehe ich anders! Da reden und reden wir, und am Ende hast du wieder nichts anderes vor, als mich wegen dieser Arznei zu löchern. Ihr jungen Leute sollt mir«, jetzt sprach die Tante mit ernster Stimme, »auf die Partei hören. Geht im Gleichschritt mit der Partei und hört auf zu tricksen und nach Hintertürchen zu suchen! Die Geburtenplanung ist grundlegende Staatspolitik, eine Angelegenheit von erstrangiger Bedeutung. Sie ist Chefsache. Der Parteisekretär übernimmt das Kommando persönlich und die ganze Partei befasst sich mit nichts anderem mehr. Wir beschreiten Modellwege zur Schwangerschaftsverhütung und Geburtenreduzierung. Wir stärken die Wissenschaft und die Erforschung besserer Verhütungs- und Sterilisationsmethoden. Wir verbessern die Standards der OP-Methoden bei Sterilisationen und Abtreibungen und erhöhen den Grad der Wirksamkeit der Sterilisationen. Massenkampagnen werden bei uns für die langfristige Umsetzung sorgen. Dass ein Ehepaar nur ein Kind haben darf, ist ein unverrückbarer politischer Beschluss. An dieser Politik wird sich die nächsten fünfzig Jahre nichts mehr ändern. Wenn wir unsere Bevölkerungsprobleme nicht in den Griff kriegen, hat unser China verloren. Renner, du bist Parteimitglied, bist Soldat der Revolution. Du musst auf jeden Fall mit gutem Beispiel vorangehen, denn dein Handeln hat Vorbildfunktion.« »Tante, gib mir diese Tablette doch heimlich. Wenn ich sie geschluckt habe, wird weder ein Mensch noch ein Geist jemals davon erfahren«, bettelte Renmei. »Mein liebes Kind, dir fehlt es wirklich an Umsicht! Muss ich dir noch einmal sagen, dass es diese Arznei nicht gibt? Und dass, selbst wenn es sie gäbe, ich sie dir niemals geben könnte? Schau, ich bin Parteimitglied, Mitglied des ständigen Ausschusses der PKKCV, ich bin Stellvertretende Vorsitzende des Leitungskollektivs zur Kommune-Geburtenplanung. Ich kann doch nicht den Anfang machen und dir zeigen, wie man gegen die Gesetze verstößt. Ich wurde zwar schon gedemütigt, aber das sage ich euch: Ein rotes Herz wechselt niemals seine Farbe. Im Leben gehört mein Leben der Partei, im Tode gehört mein Geist der Partei. In die Richtung, die die Partei mir weist, werde ich mit Nachdruck gehen. Renner, deiner Frau fehlt es an Umsicht! Sie hat keine Furcht, sich die Finger am Feuer zu verbrennen, denn sie kann zwischen weißer Asche und rotem Feuer nicht unterscheiden. Deswegen mach dir eins klar: Du darfst dir kein Vergehen erlauben.« Es gab Leute, die verpassten meiner Tante nun den Spitznamen Lebender Höllenfürst Yama. Aber sie empfand es als Ehrung. Wenn die werdenden Mütter, die dem Reproduktionssoll entsprechend schwanger geworden waren, bei ihr ihre Niederkunft hatten, war sie respektvoll, brannte Weihrauch ab, reinigte sich, brachte das gewollte Leben möglichst sanft auf die Welt. Aber bei den unplanmäßig schwanger Gewordenen ging sie brutal vor – ihr ging kein überzähliges Kind durchs Netz! Sie kriegte sie alle zu fassen. 3 Zwei Jahre nach meiner Hochzeit wurde meine Tochter am Fest des Herdgottes geboren, nach dem Mondkalender war es der 23. 12. Mein Cousin Wuguan transportierte uns mit dem Einachstrecker von der Kommunekrankenstation wieder nach Hause. Als wir uns auf den Weg machten, sagte mir meine Tante: »Ich habe deiner Frau gleich eine Spirale eingesetzt.« Renmei hob das Tuch hoch, das wir ihr um den Kopf geschlungen hatten, und fragte Gugu grollend: »Warum setzt du mir ohne mein Einverständnis eine Spirale ein?« Tante deckte sie mit dem Tuch wieder zu: »Schwiegertochter, behalte das Tuch schön um den Kopf, damit du dich nicht erkältest. Das Komitee zur Geburtenplanung hat den unumstößlichen Befehl erteilt, dass gleich nach der Geburt eines Kindes jeder Frau eine Spirale eingesetzt werden soll. Wenn du einen Bauern geheiratet hättest und das erste Kind ein Mädchen geworden wäre, könntest du dir nach acht Jahren die Spirale herausnehmen lassen und ein zweites Kind zur Welt bringen. Du hast aber meinen Neffen geheiratet. Er ist Armeeoffizier. Die Bestimmungen in der Truppe sind noch viel strenger als die auf Kreisebene. Bei einem überzähligen Kind muss man richtig Federn lassen. Sie schicken denjenigen sofort zurück aufs Land an seinen Heimatort, wo er wieder Feldarbeit verrichten muss. Deswegen ist für dich das Kinderkriegen in diesem Leben vorbei. Mach dir da keine Hoffnungen. Die Frau eines Soldaten zu sein, hat seinen Preis.« Renmei begann nun herzzerreißend zu weinen. Ich hielt das fest in einen Mantel eingepackte Kind auf dem Arm, sprang auf den Trecker und rief Wuguan zu: »Es kann losgehen!« Der Trecker spuckte schwarzen Qualm und ratterte über den holprigen Sandweg. Renmei lag eingerollt in eine Bettdecke im Wagen. Der Hänger hopste gefährlich, ihr Weinen brach ab, sprang wieder an, der Ton hüpfte wie der Karren hin und her. »Wer gibt ihnen das Recht, mir ohne mein Einverständnis, ohne mich zu fragen, eine Spirale einzusetzen ... Wer gibt ihnen das Recht, mir vorzuschreiben, dass ich nur ein einziges Kind bekommen darf? Wer gibt ihnen das Recht, mir zu verbieten, jemals wieder ein Kind ...« »Hör auf zu heulen«, sagte ich genervt. »Das ist die Politik unseres Staates!« Sie weinte noch heftiger und streckte den Kopf zur Bettdecke heraus. Leichenblass war ihr Gesicht, blau angelaufen waren die Lippen. Im Haar steckten ihr ein paar Strohhalme. »Von wegen Staatspolitik. Das ist die Bauernpolitik deiner Tante. Im Kreis Kiautschou handhaben sie das nicht so streng. Deine Tante will doch nur eigene Verdienste anhäufen und befördert werden. Kein Wunder, dass die Leute auf sie schimpfen ...« »Halt den Mund!«, fuhr ich sie an. »Falls du was zu sagen hast, dann mach das, wenn wir zu Hause sind. Hast du keine Angst, dass die Leute dich auslachen, wenn du den ganzen Weg über so brüllst?« Mit Wucht schlug sie die Bettdecke weg, setzte sich auf und starrte mich mit Riesenaugen an: »Wer wagt es, sich über mich lustig zu machen?« Auf dem Weg kamen uns ständig Fahrradfahrer entgegen und fuhren an uns vorbei. Steif blies ein eiskalter Nordwind. Weit und breit war alles mit Raureif überzogen, während eben die rote Sonne aufging. Der warme Atem aus den Mündern der Menschen erstarrte auf den Augenbrauen und auf den Wimpern sofort zu weißem Raureif. Renmeis trocken aufgesprungene Lippen, ihr wirres Haar und ihr starrer Blick erweichten mich. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen und tröstete sie: »Ist schon gut, keiner lacht über dich. Leg dich schnell wieder hin und deck dich zu. Mit einer Krankheit im Wochenbett ist nicht zu spaßen.« »Ich habe keine Angst, krank zu werden! Ich bin eine Föhre vom Gipfel des Taishan! Wenn ich eisiger Kälte widerstehe, gegen den Schneesturm kämpfe, scheint die Morgensonne in meiner Brust!« Ich lachte bitter: »Ich weiß, wozu du fähig bist. Du bist eine Heldin! Du willst doch noch ein zweites Kind? Wenn du deinen Körper erst ruiniert hast, wird daraus nichts werden.« Ihre Augen begannen sofort zu strahlen, und aufgeregt fragte sie mich: »Erlaubst du mir, dass ich noch ein Kind bekomme? Das hast nun aber du gesagt und nicht ich! Wuguan, du hast das auch gehört, nicht wahr? Du bist mein Zeuge!« »Okay! Ich bin dein Zeuge!«, brummelte Wuguan vorne. Renmei legte sich fügsam wieder hin, griff sich die Steppdecke, zog sie sich über den Kopf. Ich hörte sie unter der Bettdecke reden: »Renner, du wirst mich aber nicht anlügen, sondern dein Wort halten. Wenn du dein Wort nicht hältst, kämpf ich mit dir bis aufs Blut.« Als der Einachstrecker die Brücke am Dorfrand erreicht hatte, verstellten uns zwei Streithähne den Weg, die sich auf der Brücke gegenüberstanden und einander anbrüllten. Bei dem einen der beiden handelte es sich um meinen Grundschulklassenkameraden Yuan Backe, beim anderen um den Lehmskulpturenkünstler Hao Große Hand. Große Hand hielt Backe am Handgelenk fest, der wand sich, tobte und schrie: »Lass mich los! Lass mich los!« Obwohl er sich quälte, als ginge es um sein Leben, half alles nichts. Wuguan sprang vom Trecker und ging auf die beiden zu: »Gevattern, guten Tag! Was hat denn das zu bedeuten? Am frühen Morgen hier auf der Brücke so ein Kräftemessen anzufangen?« Yuan Backe rief gleich: »Gut, dass du kommst, Wuguan! Du musst schlichten! Onkel Hao schob seinen Karren und ging vor mir. Ich kam von hinten mit dem Rad und wollte an ihm vorbei. Er ging mit seinem Wagen auf der linken Seite, ich wollte auf der rechten Seite überholen, doch er wuchtete seinen Karren plötzlich nach rechts, genau als ich eben hinter ihm war. Glücklicherweise habe ich schnell reagiert und die Lenkstange sofort losgelassen, sonst wäre ich zusammen mit dem Rad hinab in den Fluss gestürzt. An so einem frostigen Tag wie heute wäre ich jetzt, wenn nicht tot, zumindest schwerbehindert. Aber Onkel Hao hält mich hier fest und behauptet, ich hätte seinen Karren angefahren und über die Brücke hinab in den Fluss gestoßen.« Hao Große Hand widersprach nicht, aber er ließ Backes Handgelenk auch nicht los. Ich sprang mit meiner Tochter im Arm vom Trecker. Kaum dass meine Füße den Boden berührten, fror ich bis auf die Knochen. An jenem Morgen war es wirklich klirrend kalt. Steif stakste ich die Brücke hoch. In deren Mitte lag ein ganzer Haufen Tonglückskinder, in Scherben zerbrochene und unversehrte durcheinander. Rechts von der Brücke lagen unten auf dem zugefrorenen Fluss das kaputte Fahrrad und eine kleine gelbe Fahne. Ich wusste, dass sie mit den drei Schriftzeichen 小半仙 für »Kleiner Heiler« bestickt war. Von klein auf hatte Yuan Backe sich mit dem I Ging, mit dem Fluss des Qi, mit Geistern, Taoismus und Göttern befasst. Nun war er erwachsen und kannte sich in der Tat gut aus. Er holte mit einem Magneten der Kuh den Nagel aus dem Magen heraus, wenn sie einen verschluckt hatte. Er konnte das Vieh kastrieren, kannte sich in Astrologie aus, mit dem Gesichtlesen, der Lehre des Li He, wahrsagte nach dem I Ging und den acht Triagrammen und verstand die Prinzipien des Fengshui. Die Leute neckten ihn, indem sie ihn den »Kleinen Heiler« nannten. Backe machte das Spiel mit – er machte es immer den anderen recht, wenn er dadurch einen Vorteil hatte. Also schnitt er eine gelbe Fahne zurecht und ließ sie mit »Kleiner Heiler« besticken. Die fertige Fahne wurde am Gepäckträger befestigt und flatterte beim Fahren laut im Wind. Auf dem Markt rammte er sie in die Erde und bot seine Dienste an. Er hatte großen Zulauf, sein Stand florierte. Ich blickte auf der linken Seite von der Brücke, dort lag unten auf dem Eis ein Schubkarren auf der Seite. Einer der beiden Griffe war abgebrochen. Die Weidenkörbe links und rechts der Radumkleidung waren zerrissen, zig Tonpüppchen lagen verstreut auf dem Eis, die meisten in Scherben. Es sah aus, als hätten nur wenige den Sturz überstanden. Große Hand war für seine seltsamen Launen bekannt, zugleich war er als Künstler eine von allen hochgeachtete Respektsperson. Denn in seinen geschickten, großen Händen entstanden aus einem Klumpen Lehm im Nu, während er sein Gegenüber genau betrachtete, scheinbar beseelte, genaueste Abbilder des Porträtierten. Selbst in den Jahren der Kulturrevolution hatte er nie aufgehört, Tonkinder zu formen. Wie sein Großvater, der ebenfalls Glückskinder aus Ton und Lehm knetete, und wie sein Vater, der dessen Werk fortführte, trug er die Familientradition weiter, und er knetete noch besser als sein Vater und Großvater. Er lebte seit jeher vom Erlös seiner verkauften Tonkinder. Bis heute. Genauer gesagt: Er ist kein Künstler, der Nippes produziert, um ihn gut zu verkaufen. Denn er hätte auch Tonhündchen, Tonäffchen, Tontiger modellieren können, Kunstgewerbe, das sich leicht herstellen und leicht verkaufen lässt. Etwas, das sich alle Kinder zum Spielen wünschen. Lehm- und Tonskulpturenkünstler machen doch gute Geschäfte mit den Kindern. Wenn diese die Figuren mögen, sind die Erwachsenen immer bereit, Geld dafür auszugeben. Aber Hao Große Hand modellierte nur Tonglückskinder. Das Anwesen seiner Familie hatte fünf Zimmer im Haupthaus und vier im Seitenhaus, auf dem Hof gab es noch einen geräumigen Schuppen, den er angebaut hatte. Alle Zimmer und der Schuppen waren mit Tonkindern vollgestellt, fertige, die schon bemalte Gesichter mit Augenbrauen und Augen hatten, und Rohlinge, die noch bemalt werden mussten. Sogar auf seinem Kang standen Tonkinder dicht an dicht, und er hatte gerade so viel Platz gelassen, wie er brauchte, um sich lang auszustrecken. Damals war er Anfang vierzig, ein großes, rotes Gesicht hatte er, und er band sein grau meliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sein Backenbart war auch grau meliert. Im Nachbarkreis gab es auch Tonkinderkünstler, aber deren Tonfiguren wurden in Förmchen gedrückt und gestürzt. Sie sahen alle gleich aus, nicht wie die von seiner Hand modellierten, die einzigartig sind. Wiederholungen sind bei ihm ausgeschlossen. Die Leute sagten immer, die gesamten Tonglückskinder aus Nordost-Gaomiland entstammen seiner Hand. Und jeder finde unter den Niwawa-Püppchen »sich selbst« wieder und es zeige ihn, wie er als Baby ausgesehen habe. Alle sagten, dass Große Hand jedes Mal so lange mit dem Verkauf auf dem Markt warte, bis er kein einziges Korn Reis mehr im Tontopf habe. Dann erst verkaufe er mit tränenfeuchten Augen seine Tonkinder, als verkaufte er sein eigen Fleisch und Blut. Dass nun so viele seiner Tonkinder auf dem vereisten Fluss und auf der Brücke in Scherben lagen, musste ihm das Herz brechen, nur verständlich, dass er Backes Handgelenk krampfhaft festhielt. Ich ging mit meiner Tochter auf dem Arm zu ihm. Ich trug Uniform, denn ich fühlte mich, weil ich inzwischen schon so viele Jahre beim Militär war, in Zivilkleidung furchtbar unwohl. Deshalb hatte ich sogar jetzt, obwohl ich doch Renmei zur Entbindung ins Krankenhaus begleitet hatte, meine Uniform angezogen. Man muss schon sagen, ein junger Offizier in Uniform mit einem Neugeborenen auf dem Arm kann viel bewegen! Ich sagte: »Onkel Hao, lass doch bitte Backes Hand los. Er hat es bestimmt nicht mit Absicht getan.« »Richtig! Onkel Hao, ich habe es wirklich nicht absichtlich getan.« Yuan Backe klang weinerlich. »Verschont mich bitte! Ich rufe einen Handwerker, der Euch den Schubkarrengriff und die Körbe wieder repariert. Für die zerbrochenen Kinder gebe ich Euch Geld.« »Tu es mir zuliebe«, sagte ich. »Tu es für meine kleine Tochter, tu es für meine Frau. Gib ihn bitte frei und lass uns mit dem Trecker durchfahren.« Renmei streckte den Kopf aus dem Wagen und rief mit durchdringender Stimme: »Onkel Hao! Bitte modelliere mir zwei Tonkinder, zwei Jungen, beide sollen sich aufs Haar gleichen.« Die Leute in Gaomi behaupteten Folgendes: Kauft man bei Hao Große Hand ein Glückskind, bindet ihm einen roten Bindfaden um den Hals und stellt es auf den Kang am Kopfende des Bettes ehrenvoll wie eine Buddhafigur auf, dann gleicht später das Neugeborene dem Tonkind aufs Haar. Aussuchen dürfe man sich die Tonkinder bei Hao Große Hand jedoch nicht. Nicht wie im Nachbarkreis, wo sie alle auf dem Boden ausgebreitet liegen, eins neben dem anderen, eine ganze Matte voll, und jeder sich das Passende auswählen kann. Seine Tonkinder dagegen blieben in den Tragkörben auf der Schubkarre, die Körbe waren immer mit einer kleinen Steppdecke zugedeckt. Wenn man eins von seinen Glückskindern kaufen wollte, schaute er einen scharf an, um sodann mit der Hand in den Korb zu fahren und eines herauszufischen. Dasjenige, das er hervorholte, musste man nehmen. Beschwerte man sich, dass die Figur nicht schön genug sei, tauschte er sie nicht etwa gegen eine andere ein, sondern lächelte nur bitter. Er hätte nie im Leben etwas erwidert, aber man meinte ihn dann sagen zu hören: »Wo gibt es denn Eltern, die ihre eigenen Kinder zu hässlich finden?« Deswegen war es üblich, dass man sich das von ihm erhaltene Tonkind genau anschaute und es mit der Zeit lieb gewann. Es war, als würde es nach und nach zum Leben erweckt, als besäße es eine eigene Identität. Über Geld wurde bei so einem Kauf nicht geredet und gefeilscht schon gar nicht. Hätte man ihm kein Geld gegeben, so hätte er bestimmt auch keins verlangt. Für das ihm bezahlte Geld bedankte er sich mit keinem Wort, so dass damals mit der Zeit alle annahmen, dass man mit einem bei ihm gekauften Tonkind ein wirkliches Kind bestellt hätte. Je länger man darüber spricht, desto mystischer erscheint die ganze Sache. Denn wem er ein Mädchen verkaufte, der ging und musste ein Mädchen bekommen, gab er einen Tonjungen, brachte man einen Jungen zur Welt. Und fischte er zwei aus seinem Korb, gebar man Zwillinge. Es war eine stille Übereinkunft, die, wenn sie ihre Zauberkraft behalten sollte, nicht zerredet werden durfte. Meine Frau war so eine, die nie Vernunft annehmen wollte. Nur so eine wagt es, Hao Große Hand zuzurufen, sie wolle zwei Jungen von ihm haben. Wir erfuhren diese mystische Geschichte über Hao Große Hand allerdings erst, als Renmei längst schwanger geworden war. Wir hätten kein Tonkind mehr kaufen können, denn der Zauber hätte nicht mehr gewirkt. Große Hand erwies mir eine große Ehre! Er ließ Yuan Backe los, der gleich sein Handgelenk rieb und mit Trauermiene zu klagen begann: »Ich dachte heute, als ich zur Tür heraustrat, gleich, was für ein Pechtag, denn eine Hündin hielt mir den Hintern hin und strullerte mir ihre Pfütze direkt vor die Nase. Es hat sich bestätigt. Ein richtiger Pechtag ist das!« Große Hand bückte sich, klaubte die verstreut am Boden liegenden Scherben der Tonkinder auf und steckte sie in die Brusttasche seiner Joppe. Er war zur Seite getreten, um uns den Weg frei zu machen. Den Bart weiß von Raureif, machte er ein bitterernstes Gesicht. »Was habt ihr bekommen, Junge oder Mädchen?«, fragte uns Backe. »Ein Mädchen!« »Nicht tragisch, das Nächste wird ein Junge!« »Es gibt kein Nächstes.« »Mach dir keinen Kopf! Wenn’s so weit ist«, Backe zwinkerte mir verschwörerisch zu, »sag mir Bescheid. Ich werd dir das Kind schon schaukeln.« 4 Am Neujahrstag im Jahr des Hundes wurde meine Tochter neun Tage alt. Bei uns ist es Brauch, den neunten Lebenstag prächtig zu feiern und alle Freunde und Verwandten einzuladen. Tags zuvor sagten wir Yuan Backe und Wuguan Bescheid, damit sie uns halfen, Tische und Hocker, Teekannen, Teeschalen, Reisschalen und Stäbchen bei den Nachbarn zusammenzuleihen. Grob überschlagen würden wir fünfzig Leute sein. In den beiden Seitengebäuden links und rechts unseres Haupthauses würden wir die Männer bewirten. Auf Mutters Kang im Westzimmer würden wir einen Tisch stellen und dort die Frauen bewirten. Die Gerichte stellte ich selber zusammen und trug sie in eine Liste ein. Es sollte für jeden Tisch acht Teller mit kalten Vorspeisen, acht heiß zu servierende Gerichte auf Platten und zum Abschluss eine Suppe geben. Nachdem Backe die Liste durchgegangen war, gab er lachend zu bedenken: »Kumpel, so in diesem Stil ist das völlig unmöglich. Was du dir einlädst, ist eine Horde Bauern. Bauern futtern wie die Scheunendrescher. Mit dem bisschen Essen stopfen die sich gerade mal die Zahnzwischenräume. Hör auf mich! Lass den Firlefanz mit den vielen Gerichten und servier lieber Fleisch und Schnaps satt. Wenn das Fleisch und der Schnaps aufgetischt sind, rufst du zu Tisch. Ein gelungenes Festessen für Bauersleute funktioniert so und nicht anders. Bei einem feinen Essen, wie du dir das vorstellst, greifen sich die Bauern mit den Stäbchen einen Happen und schon ist alles weggeputzt. Hungrig und mit trockener Kehle warten die dann, was da kommen mag. Sollen die mit leerem Magen dasitzen? Wenn es so weit kommt, hast du dein Gesicht verloren.« Ich gab zu, dass Backe Recht hatte, und ließ Wuguan auf dem Markt fünfundzwanzig Kilo durchwachsenes Schweinefleisch kaufen und zehn fette Bratpoularden, solche vier Kilogramm schweren Masthühner, wie wir sie hier mästen. Ich selber bestellte bei der Tofumeierei Wang Huan zwanzig Kilo Tofu und ließ Backe noch zehn große Köpfe Chinakohl, fünf Kilo Reisnudeln und zehn Liter Schnaps einkaufen. Meine Schwiegereltern schickten zweihundert Hühnereier. Mein Schwiegervater kam vorbei, inspizierte, was ich vorbereitet hatte, und sagte zufrieden: »Das hast du gut gemacht, Schwiegersohn! Deine Familie ist immer dafür ausgelacht worden, dass ihr alle so geizig seid! Dass du dieses Mal großzügig bist und sich alle pappsatt essen werden, zeigt, dass du den Ruf deiner Familie ändern willst. Leute, die Großes leisten, brauchen Schneid!« Als bereits die Hälfte der Gäste eingetroffen war, merkten wir, dass wir vergessen hatten, Zigaretten zu kaufen. Ich bat Wuguan, schnell Abhilfe zu schaffen. Er rannte zum Genossenschaftsladen, um welche zu besorgen. Nase und Galle hatten ihr Kind mitgebracht. Als sie zur Tür hereinkamen, trafen sie auf Wuguan. Der zeigte fröhlich mit dem Finger auf das Geschenk, das Nase in der Hand hielt: »Hättest du doch nicht kaufen müssen!« Chen Nase hatte es in den letzten Jahren zu Reichtum gebracht. Er war im Dorf berühmt als einer, der jede Menge Geld auf der hohen Kante hat. Zuerst war er immer nach Shenzhen gefahren, hatte dort große Mengen digitaler Armbanduhren eingekauft – in den Siebzigern kam von Casio die erste digitale Armbanduhr auf den Markt – und sie an die Jugend verhökert, die verrückt danach war, mit der Mode zu gehen. Dann war er nach Jinan gefahren, wo er bei einem Bekannten, der Beziehungen zu einer Zigarettenfabrik hatte, zum Großhandelspreis Zigaretten einkaufte, die Wang Galle auf dem Markt weiterverkaufte. Ich habe sie auf dem Markt mit ihrem Bauchladen gesehen, einem zum Zigarettenverkaufen genial hergerichteten Kasten, den sie vor der Brust trug. Er sah geschlossen wie eine Truhe, geöffnet wie eine kleine Konsole aus und hatte nach oben zu öffnende Läden, in denen die Zigarettenpäckchen lagen. Unter dem Bauchladen war Galle mit einer auf Figur geschnittenen, blauweiß gemusterten Steppjacke bekleidet. Auf dem Rücken trug sie ihren bis obenhin fest in einen Babyponcho eingepackten, wohlgenährten Säugling, von dem nur Nasenspitze und Augen hervorlugten. Ob die Leute sie kannten oder nicht, jeder warf ihr einen neugierigen Blick zu. Die Leute aus dem Ort wussten, dass sie Nases Frau war und die Mutter des wohlgenährten Säuglings auf ihrem Rücken. Fremde aber hielten sie für die große Schwester des kleinen Säuglings Ohr, die Zigaretten verkaufen musste, ein armes, aber hübsches Kind. Eigentlich kauften die Leute bei ihr nur, weil sie sie bemitleideten. Chen Nase war in eine eng anliegende, schweinslederne Jacke gekleidet, darunter trug er einen aus dickem Garn gestrickten Rollkragenpullover. Er hatte eine rote Gesichtsfarbe und ein Kinn, das zwar rasiert war, aber vor lauter Bartstoppeln immer noch schwarz aussah; dazu eine große Nase, graue Augen in tiefen Augenhöhlen und gelocktes Haar. Wuguan sagte: »Der Großverdiener kommt.« »Also ehrlich, das bin ich nicht, ich bin nur ein kleiner Händler!« Yuan Backe darauf: »това рищ! Du weißt dich auf Chinesisch auszudrücken!« Nase wedelte mit der Papiertragetasche, die er in der Hand hielt: »Schon wenn ich dich von Weitem seh, kriege ich es mit der Angst zu tun.« »Was ist da drin? Zigaretten?«, fragte Backe. »Die Gäste werden schon unruhig, weil sie rauchen wollen.« Nase holte ein Päckchen aus der Tüte und warf es Backe zu. Der fing es auf, riss das Packpapier ab, und es kamen vier Stangen Zigaretten, Marke Großer Hahn, zum Vorschein. »Na, du haust ja ordentlich auf den Putz! Bist wohl gut im Geschäft, dass du so freigebig bist. Danke!«, erwiderte Backe. »Backe mit seiner großen Klappe ...«, sagte Galle mit gedämpfter Stimme. »Du schaffst es mit deinem Gerede, dass sogar die Toten noch beginnen, Disco zu tanzen.« »O je, Schwägerin! Entschuldige meine Unhöflichkeit! Hast wohl den Nase heute noch nicht an dich rangelassen, damit er dich mal richtig in den Arm nehmen kann?« »Ich stopf dir gleich dein Schandmaul!« Galle fuchtelte wutentbrannt mit ihrer kleinen Hand. »Mama, auf den Arm ...« Aha. Es war gar nicht Galles Hand gewesen, die da zu fuchteln begonnen hatte, sondern die ihres Kindes, der kleinen Ohr, die schon fast ihre Größe hatte und lamentierte, weil sie auf den Arm wollte. »Chen Ohr!« Ich beugte mich zu ihr herab: »Onkel nimmt dich jetzt auf den Arm!« Kaum hatte ich sie hochgenommen, schrie sie wie am Spieß. Chen Nase ließ sich sein Kind reichen und klopfte ihm den Po: »Ohr, weine nicht! Du warst es doch, die den Onkel Volksbefreiungsarmeesoldat sehen wollte!« Ohr streckte ihre Hand nach Galle aus. »Das Kind fremdelt«, sagte Nase und gab Ohr an Galle weiter, »dabei hat es gerade noch Radau gemacht, weil es den Onkel von der Volksbefreiungsarmee besuchen wollte.« »Galle, komm mal!«, schrie Renmei und pochte gegen die geschnitzten Fensterläden. »Komm schnell!« Galle verschwand mit Chen Ohr auf dem Arm zu Renmei. Wie ein Hund, der sich mit seinem übergroßen Spielzeug im Maul davonmacht, ein bisschen zum Lachen, ein bisschen Achtung gebietend. Sie machte so kleine, schnelle Schritte, dass sie wie ein flitzendes Tier in einem Comicstreifen aussah. »So was Hübsches! Die Kleine sieht ja aus wie eine Babypuppe!«, sagte ich. »Ist doch auch ein russisch-chinesischer Mischling! Keine Frage, dass sie hübsch ist!«, erklärte Backe mit vielsagendem Blick: »Nase, du bist ausdauernd! Wie ich so höre, gönnst du deiner Frau keine einzige Nacht Pause?« Chen Nase erwiderte nur: »Halt den Rand, Backe!« Yuan Backe parierte sofort: »Geh vorsichtig mit ihr um. Du willst doch noch einen Sohn von ihr!« Nase trat Backe gegen das Schienbein: »Ich sage doch, halt dein Drecksmaul!« Backe lachte: »Ich hör ja schon auf! Aber ich beneide euch beide! Da seid ihr jahrelang verheiratet und du hast immer noch jede Nacht deine Frau im Arm, knutschst und knuddelst sie. Da sieht man mal: Eine Liebesheirat ist doch was anderes als eine arrangierte.« Nase meinte: »Jede Familie hat ihre eigenen Nöte und Sorgen! Einen Scheißdreck verstehst du!« Ich klopfte auf Nases Bauchansatz: »Den Generalsbauch hast du auch schon! Dir geht’s gut!« Nase meinte: »Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass ich mal so ein Leben führen würde.« »Das haben wir dem Vorsitzenden Hua Guofeng zu verdanken«, sagte Backe. »Ich denke, wir haben es dem Vorsitzenden Mao zu danken. Wenn der alte Herr nicht aus eigenem Antrieb gestorben wäre, würde alles wie früher laufen«, erwiderte Nase. Jetzt trafen wieder neue Gäste ein. Sie standen im Hof beieinander und hörten uns zu. Die zuerst angekommenen, die sich schon im Haus niedergelassen hatten, kamen wieder heraus, als sie merkten, dass draußen mehr los war. Mein kleiner Cousin mütterlicherseits, Jinxiu, drängelte sich zu Nase durch und sagte, zu ihm aufblickend: »Großer Bruder Chen, bei uns im Dorf erzählen sie sagenhafte Geschichten über dich.« Nase fischte ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche, schnippte meinem kleinen Cousin eine zu und zündete sich selbst auch eine an. Dann schob er beide Hände in die schräg geschnittenen Taschen seiner Lederjacke und – was für ein cooler Typ! – sagte lässig: »Lass hören! Was erzählen die über mich?« »Die sagen alle, du hättest nur zehn Yuan RMB bei dir gehabt, als du mit dem Flugzeug nach Shenzhen geflogen bist.« Mein kleiner Cousin kratzte sich am Hals. »Und du seist einfach hinter einer sowjetischen Delegation her spaziert. Sehr großspurig seist du gegangen. Das Flugplatzpersonal und die Stewardessen hätten angenommen, du gehörtest zu dieser Delegation, und hätten sich alle gleichzeitig vor dir verneigt und dir zugerufen: Хорошо! Хорошо! Gut! Gut! In Shenzhen angekommen, seist du der russischen Delegation in ein luxuriöses Hotel gefolgt, wo du drei Tage und Nächte lang bestens gegessen und getrunken hättest und man dir einen Haufen Geschenke gemacht habe. Die geschenkten Sachen hättest du auf der Straße verkauft. Zwanzig Digitaluhren hättest du dafür bekommen. Die hättest du hier wieder verkauft und so Geld gemacht. Das hättest du einige Mal hintereinander getan. So seist du zu deinem Wohlstand gekommen.« Nase strich sich über seine große Nase: »Und was weiter?« »Die Leute sagen, als du nach Jinan gekommen und dort durch die Straßen gebummelt seist, hättest du einen Alten getroffen, der weinend auf der großen Straße gestanden habe. Den hättest du gefragt: ›Großvater, was weinst du?‹ Der Alte habe gesagt: ›Ich bin nur ein Weilchen vor die Tür gegangen, finde aber nun den Weg nach Hause nicht mehr.‹ Du hättest den Alten nach Hause gebracht. Der Sohn des Alten sei der Vertriebsleiter der Zigarettenfabrik von Jinan gewesen und habe, als er sah, dass du ein gutes Herz besitzt, mit dir Freundschaft geschlossen. Deswegen besäßest du jetzt die Möglichkeit, zum Großhandelspreis Zigaretten einzukaufen.« Nase lachte laut: »Kleiner, das sind doch Geschichten wie aus einem Roman! Ich erzähl dir, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Ich bin wirklich ein paar Mal mit dem Flugzeug geflogen. Aber immer mit Flugschein, und den habe ich mir gekauft. Und was die Zigarettenfabrik in Jinan angeht, kenne ich da wirklich ein paar Leute. Aber die Zigaretten, die sie mir verkaufen, sind so geringfügig billiger als der übliche Preis am Markt, dass ich so gut wie nichts an einem Päckchen verdiene.« »Ist ja auch egal, wie du’s machst. Jedenfalls hast du es drauf und bist ein echter Könner!«, sagte mein kleiner Cousin mit Inbrunst. »Mein Vater sagt, ich soll dich bitten, bei dir in die Lehre gehen zu dürfen. Damit du mein Meister wirst.« »Kleiner, der wirkliche Könner steht hier.« Chen Nase zeigte mit dem Finger auf Yuan Backe. »Er versteht sein Handwerk. Er beherrscht es, in den Sternen und Erdadern zu lesen, er kennt die Geschichte der letzten fünfhundert Jahre, und alle Ereignisse der kommenden fünfhundert Jahre kennt er auch, zumindest zur Hälfte. Ihn solltest du dir zum Meister wählen!« »Der große Bruder Backe ist auch ein Könner«, sagte mein kleiner Cousin. »Er hat bei uns in Xiazhuang auf dem Markt einen Stand, wo er den Leuten nach dem I Ging wahrsagt, er wird dort ›Kleiner Heiler‹ genannt. Als die alte Henne meiner Tante weggelaufen war, zählte er an seinen zehn Fingern etwas ab und sagte dann den Lehrsatz her: ›Die Ente längs des Wassers läuft, das Huhn längs der Wiese läuft. Schaut im Nest nach.‹ Und tatsächlich fanden wir unsere Henne im Nest wieder.« Nase warf ein: »Als ob er nur wahrsagen würde! Er hat noch viel mehr Kenntnisse und Fähigkeiten. Wenn er dich nur eine davon lehrt, hast du in diesem Leben ausgesorgt und kannst davon locker deinen Lebensunterhalt bestreiten.« Jinxiu sagte: »Ich bitte dich: Sei mein Meister!«, und machte einen Kotau. »Aber nicht doch. So viel Ehre gebührt mir nicht. Mit diesen Kenntnissen kann ich mich doch draußen gar nicht sehen lassen! Ich gehöre zu den Quacksalbern, die irgendwie ihr Geld verdienen müssen. Ich bin kein Fachmann. Du solltest dich an deinem großen Bruder orientieren. Du solltest in die Armee eintreten und Offizier werden, oder du machst die Aufnahmeprüfungen und gehst zur Uni. Nur wenn du dem breiten, strahlenden Weg folgst, wirst du wirklich Großes erreichen und kannst erstklassig werden.« Yuan Backe zeigte auf sich und auf Chen Nase: »Wir beide gehen keiner würdigen, gut angesehenen Arbeit nach. Wir hatten keine Wahl, deswegen tun wir, was wir tun. Du dagegen bist ein junger Spund. Mach was anderes aus deinem Leben als wir!« Mein kleiner Cousin aber beharrte: »Ihr seid die wahren Könner! Denn ihr habt richtig was drauf! In die Armee eintreten, auf die Universität gehen ist kein richtiges Können.« »Ist gut, Kleiner! Ich merk schon, du hast was Konkretes vor und lässt dir nicht reinreden. Ist gut so. Wenn die Zeit reif ist, arbeiten wir zusammen!« Ich fragte Wuguan: »Wo ist Wang Leber? Warum ist der nicht mitgekommen?« Wuguan sagte: »Ach der, der ist bestimmt zur Krankenstation und steht dort Spalier.« »Der ist wie vom Teufel besessen! Den bringen keine zehn Pferde davon ab«, meinte Nase. Backe erzählte geheimnisvoll: »Bei ihm zu Haus stimmt das Fengshui nicht. Das Haupttor befindet sich an der falschen Stelle, der Abort ist auch falsch gelegen. Ich habe schon vor vielen Jahren zu deinem Schwiegervater gesagt, er soll dringend seinen Hauseingang verlegen, und der Abort muss woanders hin. Und dass bei ihm zu Haus eine Geisteskrankheit auftreten wird, wenn er es nicht ernst nimmt. Dein Schwiegervater meinte, ich spräche einen Fluch über ihn aus, ergriff die Peitsche und wollte mir ein paar Hiebe überziehen. Und nun? Jetzt bewahrheitet sich, was ich damals gesagt habe! Schaut ihn an, wie er alle naselang, gebückt und am Stock, zur Krankenstation geht, dort stänkert und dickfellig allen im Weg ist. Wenn das keine Geisteskrankheit ist, was dann? Und erst Wang Leber! Ein Bauer durch und durch! Aber leistet sich bourgeoise Gedanken. Bildet sich ein, einer wie er könne sich in die mitesserübersäte Shizi verlieben. Und geht so darin auf, dass er wie ein Gespenst durch die Gegend huscht und völlig geistesabwesend ist. Das ist doch verrückt!« Ich sagte nur: »Nun los, meine treuen Freunde! Wir wollen zu Tisch! Dem frechen Backe hören wir nicht mehr zu.« Backe redete weiter: »Der Hof unseres Kommunebüros ist wegen seines schlechten Fengshuis genauso gefährdet. Seit Urzeiten sind bei uns in China die Haupttore der Amtssitze in den Präfekturen so gelegen, dass sie sich in Richtung Süden öffnen. Aber das Haupttor unserer Kommuneverwaltung geht nach Norden auf. Und dem Tor gegenüber befindet sich unser Schlachthof. Den ganzen Tag geht dort der Stahl blinkend hinein und kommt rot triefend wieder heraus. Bei diesem Gemetzel und Blutvergießen wird der Hauch des Todes auch bei uns Kommunegenossen Einzug halten. Ich bin hin zu unserer Amtsstube und habe mich erkundigt. Die hätten mich um ein Haar eingelocht, weil ich angeblich feudalistischen Aberglauben verbreiten würde. Und nun? Unser Parteisekretär Qin Tai Shan hat eine halbseitige Lähmung, sein kleiner Bruder Qin Shom ist unser Dorftrottel. Der neue Parteisekretär Qiu mit seinen zehn Mann hatte auf seiner Inspektionsreise in den Süden von Gaomi einen Verkehrsunfall. Mehrere Tote und Schwerverletzte gab es dabei zu beklagen. Es hat sie alle hinweggerafft, wie das Auslöschen einer Armee ... Das Fengshui lenkt die großen Zusammenhänge. Mit Härte ist ihm nicht beizukommen. Denn würden wir mit Härte reagieren, wenn wir es mit dem Kaiser zu tun bekämen? Bestimmt nicht! Und nebenbei, auch der Kaiser braucht ein gutes Fengshui.« »Zu Tisch«, sagte ich wieder und knuffte Backe in die Seite. »Magister, das Fengshui ist wichtig, aber Essen und Schnaps sind genauso wichtig!« Yuan Backe erwiderte nur: »Wenn die Kommuneverwaltung ihr Eingangstor nicht umbaut, wird es weiter zu Geisteskrankheiten kommen, und es wird ein Unglück geben. Wer’s nicht glaubt, kann abwarten und zusehen, was kommt.« 5 Wang Leber war in unerwiderter Liebe für Shizi entbrannt und stellte die verrücktesten Dinge an, die ihn im ganzen Dorf zum Gespött machten. Er war Thema Nummer Eins unseres Dorftratsches. Ich verspottete ihn nicht, denn ich konnte es ihm nachfühlen. Ich achtete ihn hoch, denn ich fand, dass diesem Genie in Sachen Liebe das gute Schicksal bisher verwehrt geblieben war. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er war streng monogam, denn er liebte nur die eine, wahre ..., ein gefühlsstarker Romantiker, der, wäre das Glück ihm hold gewesen, ewig gültige Liebeslieder geschrieben und gesungen hätte. Als wir noch Kinder waren, noch nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau wussten, keimte seine erste Liebe auf. Damals verliebte er sich in Shizi. Ich erinnere mich wie heute an seinen vor vielen Jahren ausgesprochenen Stoßseufzer: »Kleiner Löwe ist aber hübsch!« Objektiv betrachtet ist Kleiner Löwe überhaupt nicht hübsch, man könnte sogar sagen, sie sieht nicht mal annehmbar aus. Meine Tante hat sie mir antragen wollen. Ich habe sie ausgeschlagen, mit der Ausrede, dass sie doch Wang Lebers Traumfrau sei und ich sie deswegen nicht wolle. Um ehrlich zu sein: Ich fand sie nicht hübsch genug. Für Leber jedoch war sie die schönste Frau auf Erden. Es gibt einen Ausdruck, der es genau trifft: Vor Liebe blind. Nachdem er den ersten Liebesbrief an sie in den Kasten geworfen hatte, war er so ergriffen, dass er mich zum Flussufer schleifte und mich den ganzen Weg über mit seinen Gefühlen vollquatschte. Es war der Sommer 1970, wir hatten gerade unseren Abschluss an der Landwirtschaftlichen Mittelschule gemacht. Es gab Hochwasser, das Wasser brodelte, Getreidestroh, Tierkadaver trieben flussabwärts, darüber flog eine einsame Möwe dahin. Am Ufer, wo das Wasser ruhiger floss, saß Renmeis Vater beim Angeln. Unser Mitschüler Li Hand, der Sohn unserer Lehrerin, hockte neben ihm und sah ihm zu. »Soll ich es Li Hand auch sagen?« »Der ist doch noch klein. Er versteht das nicht.« Wir kletterten auf die alte Weide, die auf halber Höhe an der Böschung des Deichs wuchs, und setzten uns auf einen Ast, der über das Wasser ragte. Die Zweige des Astes hingen ins Wasser und rührten immerfort viele kleine Wellenschnüre auf. »Was gibt’s denn? Nun sag schon!« »Du musst mir zuerst schwören, dass du das Geheimnis niemandem weitersagst.« »Gut. Ich schwöre: Wenn ich Wang Lebers Geheimnis ausplaudere, will ich in den Fluss fallen und ertrinken.« »Ich habe ... heute ... den Brief, den ich ihr geschrieben habe, eingeworfen«, sagte er mit kreideweißem Gesicht und bibbernden Lippen. »Welchen Brief an wen? Was ist das überhaupt für ein feierlich ernster Ton? Hast du an den Vorsitzenden Mao geschrieben, oder was?« »Wo denkst du hin? Was habe ich mit dem Vorsitzenden Mao zu schaffen? Ich habe ihr geschrieben. Ihr!« »Ihr? Wen meinst du?« Ich wurde ungeduldig. »Du hast geschworen, dass du nie und nimmer mein Geheimnis preisgibst.« »Nie und nimmer.« »Wozu in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah!« »Hör auf, mich auf die Folter zu spannen!« »Es ist ...«, Lebers Augen hatten seltsam zu leuchten begonnen. Wie von einem fernen Stern sprach er zu mir: »... meine Shizi ...« »Warum schreibst du ihr? Willst du sie heiraten?« »Wie kannst du nur so berechnend denken?«, erklärte Wang Leber voll Inbrunst. »Kleiner Löwe, meine Allerliebste! Dir will ich meine Jugend, meine ganze Lebenskraft in heißer Liebe zu Füßen legen. Meine Geliebte! Meine engste Vertraute! Nimm mir bitte nicht übel, dass ich wohl hundert Mal deinen geschriebenen Namen küsste ...« Ich bekam eine Gänsehaut, mir lief es kalt den Rücken herunter. Wang Leber rezitierte augenscheinlich seinen Liebesbrief. Er hielt mit beiden Armen den Baumstamm umfangen, Tränen glitzerten in seinen Augen, als er sein Gesicht gegen die raue Rinde presste. »Seit ich dich bei Renner zu Hause zum ersten Mal sah, hast du mich nicht mehr losgelassen. Von jenem Augenblick an bis jetzt und bis in alle Ewigkeit schlägt mein Herz nur für dich. Wenn du mein Herz willst, gebe ich es dir. Selbst wenn du es essen wolltest, risse ich es mir ohne Zögern aus dem Leibe. So verliebt bin ich in deine geröteten Wangen und die quirlige Nasenspitze, deine samtweichen Lippen, dein wuscheliges Haar und deine strahlenden Augen. Ich bin vernarrt in deine Stimme, deinen Geruch, dein Lächeln. Und wenn du lächelst, will mir schwindlig werden, verschwimmt mir alles vor Augen. Dann will ich dir zu Füßen knien, deine Beine umfassen und dein Lächeln anschauen.« Der Koch Wang riss die Angel schwungvoll hoch und mit einem Ruck nach hinten. Von der blitzenden Schnur spritzten die Wassertropfen wie Perlen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Die teeschalengroße, sandfarbene kleine Weichschildkröte am Angelhaken knallte heftig auf die Uferböschung. Durch den Aufprall war sie benommen. Niedlich und erbärmlich zugleich sah sie aus, wie sie auf dem Rücken lag, ihren weißen Bauch zeigte und alle viere gen Himmel streckte. Li Hand rief fröhlich: »Eine Schildkröte!« »Liebste, ich bin nur ein Bauernsohn, habe eine schlechte Herkunft. Du bist Frauenärztin, ernährst dich von gekauftem Getreide. Das gesellschaftliche Ansehen von uns beiden ist sehr unterschiedlich. Vielleicht würdigst du mich keines Blickes. Vielleicht ertönt nur ein abschätziges Lachen aus deinem hübschen kleinen Mund, wenn du meinen Brief zu Ende gelesen hast. Und dann zerreißt du ihn. Oder du liest ihn gar nicht erst und wirfst ihn sofort in den Papierkorb. Aber ich möchte dir, Liebste, meine Allerallerliebste, sagen: Wenn du meine Liebe erhörst, werde ich wie der wilde Tiger sein, dem Flügel gewachsen sind, wie das edle Ross, das seinen Sattel gefunden hat: Ich werde unbändige Kräfte besitzen. Wie wenn man eine Spritze Hühnerblut bekommt, werde ich vor Energie strotzen. Dann werde ich auch Brot und Milch haben! Ich werde mit deiner Unterstützung auch zu einem werden, der Lebensmittel im Laden einkauft. Ich werde meinen gesellschaftlichen Status ändern, wenn ich nur mit dir zusammen sein kann.« »Heh! Was macht ihr beide da auf dem Baum? Lest ihr euch Romane vor?« Li Hand hatte mich entdeckt und fragte in lautem Ton. »... Liebste, wenn du mich nicht erhörst, werde ich mich nicht zurückziehen, werde nicht aufgeben. Ich werde dir folgen. Still. Wohin du auch gehst. Ich werde am Boden knien und deine Fußspuren küssen. Ich werde an deinem Fenster stehen und auf den Lichtschein im Zimmer schauen; wenn das Licht angeknipst wird, werde ich da sein, bis es gelöscht ist. Ich werde wie eine Kerze für dich brennen. Bis ich heruntergebrannt bin. Du meine Liebste! Wenn ich für dich an Bluthusten sterbe und du mir gnädig bist, an mein Grab kommst und nach mir schaust, so will ich’s zufrieden sein. Wenn du für mich eine Träne vergießt, sterbe ich ohne Reue. Denn deine Tränen, du meine einzig Liebste, sind die wunderbare Medizin, die mich von den Toten wiederauferstehen und ins Leben zurückkehren lässt.« Die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand allmählich. Seine liebestollen Rezitationen rührten mich. Ich hatte nicht erwartet, dass seine große Verliebtheit in Shizi aus ihm einen Trunkenen, Tollen machen würde, nicht erwartet, dass er eine so blumige Sprache schreiben konnte, nicht erwartet, dass dieser Liebesbrief in eine tränenreiche Klage münden würde. Im selben Augenblick spürte ich, dass Wang Leber mir den Weg zeigte, dass er mir die Tür von der Kinderzeit in die Teenagerzeit weit aufstieß. Obwohl ich damals von der Liebe nichts wusste, war ich von diesem hellen Strahlen so gefangengenommen, dass ich ihm todesmutig entgegenstürzte, wie eine Motte, die ins lichterloh brennende Feuer fliegt. »Wenn du sie so sehr liebst, liebt sie dich bestimmt auch.« »Glaubst du wirklich?« Ganz fest drückte er meine Hand und seine Augen begannen wieder so magisch zu strahlen: »Glaubst du wirklich, dass sie mich lieben wird?« Ich gab ihm einen festen Händedruck: »Auf jeden Fall! Und wenn es nicht klappt, dann sage ich meiner Tante Bescheid, damit sie vermittelt. Kleiner Löwe hört immer auf meine Tante.« »Nein, das will ich nicht! Ich will mir nicht von anderen dabei helfen lassen. Gewaltsam gepflückte Melonen sind nicht süß. Ich möchte ihr Herz mit Ausdauer und Beharrlichkeit erobern.« Li Hand schaute zu uns nach oben in den Baum: »Was treibt ihr da für einen Schabernack?« Der Koch Wang griff einen Batzen Matsche und bewarf uns damit: »Hört auf, da herumzukrakeelen! Ihr verscheucht mir die Fische!« Flussaufwärts kam ein rotblau gestrichenes, mit einem Dieselmotor betriebenes Patrouillenboot aus Stahlblech auf uns zugefahren, der Außenborder ratterte. Alle befiel eine heftige Unruhe. Reißend stürzten die Wassermassen flussabwärts, während das Boot langsam gegen die Strömung fuhr. Am Bug schlugen schäumend die Wellen hoch und teilten sich wie Feldraine zu beiden Seiten des Schiffkörpers in zwei Wellensäume, die auseinanderdrifteten und allmählich wieder zusammenliefen. Aus dem hellblauen Nebel, der über dem Fluss schwebte, stieg ein Geruch von verbranntem Diesel auf und verteilte sich bis zu unseren Nasen. Wohl zwanzig graue Möwen folgten dem kleinen Boot. Es handelte sich um das Patrouillenboot des Kommunekomitees zur Geburtenplanung. Meine Tante Gugu benutzte das Boot als Fortbewegungsmittel. Klar, dass auch ihre Assistentin Kleiner Löwe mitfuhr. Der Kreis hatte das Boot zur Verfügung gestellt, weil man verhindern wollte, dass, wenn die Brücke während der Hochwassersaison überschwemmt war, am anderen Ufer Ordnungsverstöße ungeahndet blieben. Denn wer wusste, was dann in Sachen unerlaubte Schwangerschaften dort passieren würde? Um während der Hochwasserzeit an der Front der Geburtenplanung die knallrote Fahne hochzuhalten, damit es in unserer Kommune nicht zu überzähligen Kindern jenseits der Plansolls kam, dafür war dieses Boot unterwegs. Auf dem Boot gab es eine winzige Kajüte, in der man sich auf zwei Reihen mit Skyleder bezogener Sitzbänke niederlassen konnte. Am Heck befand sich ein mit Diesel betriebener 12-PS-Außenbordmotor, am Bug waren zwei Hochfrequenzlautsprecher befestigt, aus denen eine Mao-Hymne schallte. Es war eine Volksweise aus Hunan, eine liebliche, angenehme Melodie. Der Bug schwenkte um, und das Boot fuhr auf unser Dorf zu. Jemand hatte die Musik abgestellt. In der plötzlichen Stille stach das Rattern des Dieselmotors richtig ins Ohr. Jetzt ertönte auch Gugus heisere Stimme: »Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao, heißt uns zu beherzigen, dass die Menschheit sich bescheiden soll und nur noch planvoll wachsen darf ...« Als Gugus Boot in Sichtweite kam, verstummte Wang Leber augenblicklich. Ich sah, wie sein Körper zitterte, wie er mit halb geöffnetem Mund, mit tränenfeuchten Augen auf das Boot starrte. Als es die Flussmitte überquerte und Schräglage bekam, stieß er einen Schrei aus. Er fuhr zusammen, als wolle er in den Fluss springen. Das Boot kam nun in schnellem Tempo mit gleichmäßig tuckerndem Motor auf uns zu gefahren. Meine Tante und Kleiner Löwe kamen! Bootsführer war der uns allen vertraute Qin Strom. Sein großer Bruder war nach der Kulturrevolution rehabilitiert worden und nun wieder Parteisekretär. Als Funktionär fühlte er sich durch seinen kleinen Bruder kompromittiert, wenn dieser auf dem Markt bettelte. Daran änderten auch dessen feine Umgangsformen nichts. Er versuchte, mit ihm zu verhandeln. Qin Strom stellte eine ungewöhnliche Bedingung: »Besorg mir eine Arbeit in der Abteilung für Frauenmedizin der Kommunekrankenstation!« »Du bist ein Mann. Wie willst du da auf der gynäkologischen Station arbeiten?« »Es gibt doch viele männliche Frauenärzte!« »Du verstehst aber nichts von Medizin!« »Warum muss ich Mediziner sein, um dort zu arbeiten?« »Nun gut!« So wurde er zum Berufsbootsführer des Stationsboots der Abteilung für Geburtenplanung und arbeitete von da an mit meiner Tante zusammen. Wenn gefahren werden musste, fuhr er, wenn nicht gefahren wurde, saß er im Boot und döste. Er trug sein Haar immer noch in der Mitte gescheitelt wie die Studenten der Bewegung des Vierten Mai, die man aus dem Fernsehen kennt. Auch im Hochsommer trug er seine dicke Schüleruniform aus Gabardine, in der Brusttasche steckten immer noch seine beiden Stifte – der Füller und der Zweifarben-Kuli –, aber seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. Er war sonnengebräunt. Mit beiden Händen hielt er das Steuerrad und manövrierte das Boot nahe an die Uferböschung auf den alten Weidenbaum zu. Er drosselte den Motor, dafür schallten die Hochfrequenzlautsprecher in so trommelfellerschütternder Lautstärke, dass uns die Ohren summten. Links neben der schiefnackigen alten Weide war auf Geheiß der Kommune vorübergehend eine Anlegestelle für das Patrouillenboot errichtet worden. Vier mächtige Baumstämme hatte man in den Grund des Flusses getrieben, mit Draht Querhölzer daran festgemacht und darauf Bretter für den Bootssteg gelegt. Qin Strom machte das Boot fest und stellte sich vorn am Bug auf. Das Motorengeräusch erstarb, der Krach aus den Lautsprechern auch. Wir konnten nun wieder das Kreischen der Möwen und die klatschenden Wellen hören. Gugu kam als erste aus der Kajüte. Als das Boot schwankte, verlor sie das Gleichgewicht, aber Qin Strom streckte ihr sofort eine Hand entgegen, um sie zu stützen. Sie wehrte ihn jedoch ab und sprang mit einem Satz auf den Steg. Trotz ihrer Wohlstandsspeckrollen hatte sie nichts von ihrem Elan verloren. Ich bemerkte einen blendend weißen Mullverband, den sie um die Stirn trug. Als zweite verließ Kleiner Löwe die Kajüte. Kleinwüchsig und pummelig, wie sie war, sah sie mit dem großen Arzttornister auf dem Rücken winzig aus. Sie war wesentlich jünger als meine Tante, aber behäbiger. Ausgerechnet ihretwegen klammerte Wang Leber sich jetzt mit leichenblassem Gesicht und tränenvollen Augen an den Stamm der alten Weide. Die dritte Person, die aus der Bootskajüte hervorkam, war Huang Qiuya. In den paar Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, hatte sie einen krummen Rücken, krumme Beine und eine noch höhere Stirn bekommen. Sie bewegte sich nur noch langsam. Schwankend stand sie im Boot, mit beiden Armen rudernd, als könnte sie jeden Augenblick umfallen. Offensichtlich wollte sie auch an Land, nur schienen die Beine ihr nicht zu gehorchen. Den entscheidenden Schritt aus dem Boot hinaus auf den Bootssteg schaffte sie nicht. Qin Strom schaute ihr ungerührt zu, er half ihr nicht. Als sie sich bückte und wie ein Gorilla mit beiden Händen die Kante des Bootsstegs packte, rief ihr Gugu in scharfem Befehlston zu: »Huang Qiuya, du bleibst an Bord.« Meine Tante blickte nicht zurück, während sie anordnete: »Aufpassen, dass sie sich nicht davonmacht!« Das hatte wohl beiden, Qin Strom und Huang Qiuya, gegolten. Qin Strom hatte sich sofort gebückt und im Boot nachgeschaut. Aus dem Innern des Bootes hörte ich das Schluchzen einer Frau. Meine Tante ging mit Riesenschritten nach rechts an der Uferböschung entlang. Kleiner Löwe folgte ihr rennend, anders konnte sie nicht Schritt halten. Ich bemerkte, dass der Mullverband an Gugus Stirn Blutflecken aufwies und dass sie ein angespanntes Gesicht und einen harten Blick hatte. Ihr Gesicht zeigte unerschütterliche Entschlossenheit. Leber hatte meine Tante natürlich gar nicht wahrgenommen, weil er nur Augen für Shizi hatte. Seine Zähne klapperten furchtbar, seine Lippen bewegten sich unentwegt, er schien irgendetwas vor sich herzubeten. Ich bedauerte ihn, doch noch mehr beeindruckte er mich. Damals verstand ich nicht, dass ein Mann, wenn er sich in eine Frau verliebt, in ein komplettes Gefühlschaos geraten kann. Erst nachträglich erfuhren wir, dass ein Kerl aus dem zanksüchtigen Dorf Dongfeng, der sich schon vor der Befreiung 1949 wie ein Bandit aufgeführt hatte, der drei Töchter besaß und dessen Frau mit dem vierten Kind schwanger war, meiner Tante mit einem Knüppel den Kopf blutig geschlagen hatte. Zhang Faust hieß er, hatte ein Paar Kulleraugen wie ein Rind, einen erstklassigen Familienhintergrund und war im ganzen Dorf bekannt als ein Kraftprotz, dessen Zorn man nicht ungestraft erregte. In Dongfeng war bei fast allen Frauen im gebärfähigen Alter, die zwei Kinder geboren hatten und bei denen eines ein Junge geworden war, die Sterilisation bereits durchgeführt worden. Diejenigen, die zwei Mädchen bekommen hatten, durften mit der Sterilisation noch warten, unter der Bedingung, dass sie sich eine Spirale einsetzen ließen. Meine Tante wollte sie nicht zwingen, erwartete aber, dass sie Rücksicht auf ihr Dorf nahmen. Wer aber schon drei Kinder hatte, der musste sich sterilisieren lassen, auch wenn es nur Mädchen waren. Die einzige Frau im Dorf, die nicht zur Sterilisation erschienen war, die keine Spirale trug und die dann auch noch schwanger geworden war, war Fausts Frau. Meine Tante ignorierte den heftigen Regen und fuhr mit dem Patrouillenboot bis nach Dongfeng, um sie dazu zu bringen, in die Krankenstation mitzukommen, um dort einen Abort einleiten zu lassen. Während sie auf dem Weg dorthin war, telefonierte der Kommuneparteisekretär Qin Shan mit Dongfengs Parteizellensekretär, Zhang Goldzahn, und gab den ausdrücklichen Befehl, alle Kräfte zu mobilisieren, um die Ehefrau Fausts in die Kommune zu bringen, damit der Abort eingeleitet würde. Tante erzählte, dass Faust sie mit einem dornigen Aralienknüppel in der Hand und mit rotglühenden Augen laut brüllend am Hoftor erwartet habe. Zhang Goldzahn und die Dorfmilizionäre hätten ihn eingekreist, aber nur in angemessener Entfernung, denn es habe sich keiner in seine Nähe getraut. Seine drei Töchter hätten am Tor auf Knien, mit schniefenden Nasen und in Tränen aufgelöst gefleht, fast wie eingeübt habe es geklungen: »Ihr lieben großherzigen Großonkel und Großtanten, ihr lieben großherzigen Großväter und Großmütter, ihr lieben großherzigen großen Brüder und Schwestern! Bitte erbarmt euch unserer Mutter! Bitte fasst euch ein Herz! Unsere Mutter ist herzkrank, sie hat ein rheumatisches Fieber. Wenn sie eine Abtreibung machen muss, wird sie daran sterben. Wenn unsere Mutter tot ist, sind wir Halbwaisen und haben keine Mutter mehr!« Aber sie, Gugu, habe nur entgegnet: »Regisseur Fausts miese Tricks, Mitleid zu erregen, wirken gut. Ich sehe, wie die ringsum zuschauenden Weiber schon flennen!« Natürlich seien auch viele sauer gewesen und hätten sich beschwert. Die, die seit dem zweiten Kind eine Spirale tragen mussten, die, die nach dem dritten Kind sterilisiert worden waren, seien wütend über die vierte Schwangerschaft von Fausts Frau gewesen und hätten diese Ungerechtigkeit nicht hinnehmen wollen. Sie sei der Meinung, auch das Wasser in einer Schale müsse immer waagerecht bleiben. Ließe sie Faust das vierte Kind, würden ihr die anderen Weiber bei lebendigem Leibe die Haut abziehen! Wenn Faust allein seinen Willen bekäme, ginge die rote Fahne zwar nur einmal und nur kurz zu Boden, dieser Fehler wöge leicht. Aber wenn die Geburtenplanung dadurch insgesamt keine Fortschritte mache, bekäme sie schwerwiegende Probleme. Deswegen habe sie ihrer Gehilfin und Huang Qiuya einen Wink gegeben und sei auf Faust zugegangen. Ihre kleine Schülerin habe Mut und Vernunft bewiesen und unerschütterlich zu ihr gestanden. Als Faust vorgestürzt sei, habe Kleiner Löwe seine Knüppelschläge mit ihrem eigenen Körper abwehren wollen, aber sie habe sie schnell hinter sich geschoben. Die bourgeoise Intellektuelle Huang Qiuya habe sich wie immer, wenn alles auf Messers Schneide stand, rausgehalten. Sie selbst sei mit großen Schritten auf Faust zugegangen. Die Ausdrücke, mit denen er sie beschimpft habe, seien so hässlich gewesen, dass sie sie vor uns besser nicht wiederholen wolle, sie würden nur unsere Ohren und ihren Mund beschmutzen. Ihr Herz sei an diesem Tag eisenhart gewesen. An Sicherheit oder an Gefahr für den Einzelnen zu denken, sei für sie nicht in Betracht gekommen. Sie habe Faust zugebrüllt: »Nur zu mit deinen Schmähreden! Deine ehrenrührigen Beleidigungen Nutte, läufige Hündin, mordender Unterweltfürst schlucke ich, aber deine Frau wird mit mir kommen müssen.« »Mit wohin?«, habe Faust geschrien und sie zurück: »Zur Kommunekrankenstation«. Meine Tante blickte in Fausts grimmiges Gesicht und kam ihm dabei Schritt für Schritt näher. Die drei Mädchen warfen sich ihr laut schluchzend vor die Füße, stießen dabei aber ebenfalls zotige Beschimpfungen aus. Die kleinen ergriffen je einen ihrer Füße, das große stieß ihr den Kopf in den Bauch. Gugu wehrte sich nach Kräften, aber die drei hingen wie Blutegel an ihr. Als sie einen beißenden Schmerz am Knie spürte, war ihr klar, dass eines der Mädchen sie gebissen hatte. Wieder rammte das ältere den Kopf in Gugus Bauch, bis diese strauchelte und hintenüber auf den Rücken fiel. Kleiner Löwe packte das ältere Mädchen am Nacken und stieß es zur Seite, aber es rappelte sich sofort auf, stürzte sich auf die am Boden liegende Gugu und bearbeitete deren Bauch mit seinem Schädel. Dabei war wohl Shizis Schlüsselbund dem Mädchen an die Nase geraten. Die Nase brach, das Blut floss in Strömen. Als das Mädchen sich ins Gesicht fasste, nahm die Tragödie ihren Lauf. Denn Faust, nun doppelt in Rage, stürzte vor und prügelte auf Shizi ein, während Gugu sich pfeilschnell dazwischen warf und mit der Stirn einen Knüppelschlag abwehrte, der ihrer Gehilfin gegolten hatte. Dabei ging sie erneut zu Boden. Kleiner Löwe schrie gellend: »Was steht ihr da wie die Salzsäulen?« Zhang Goldzahn war sofort mit seinen Milizionären zur Stelle, die Faust auf den Boden drückten und ihm die Arme auf dem Rücken fesselten. Die weiblichen Dorfkader hielten die drei sich wehrenden Mädchen fest. Kleiner Löwe und Huang Quiya öffneten den Arzttornister und verbanden Tantes Platzwunde. Sie verbrauchten einige Rollen Verbandsmull, denn das Blut quoll immer wieder hindurch, so wurde der Verband dicker und dicker. Gugu war schwindlig geworden, ihr summten die Ohren, Sternchen tanzten vor ihren Augen und sie hatte Rotsehen. Alle Gesichter wurden hahnenkammrot, sogar die Bäume und Sträucher sahen aus wie zum Himmel züngelnde Flammen. Qin Strom kam vom Ufer herbei, um zu erfahren, was los war. Als er die Tante erblickte, erstarrte er. Im nächsten Moment stieß er einen gellenden Schrei aus und spuckte. Alle kamen, um ihn zu stützen, aber er stürzte nur wie ein Trunkener vorwärts, hob den mit Tantes Blut beschmierten Knüppel auf und holte damit in Richtung von Fausts Schädel aus. »Halt!«, brüllte meine Tante, zwang sich aufzustehen und maßregelte Qin Strom: »Warum bleibst du nicht am Anleger beim Boot, sondern kommst hierher? Du machst uns nur Umstände!« Qin Strom fühlte sich ertappt, schmiss sofort den Knüppel hin und trollte sich. Tante wehrte ihre Gehilfin ab, die sie stützen wollte, und ging zu Faust hinüber. Während sie ihn mit festem Blick fixierte, hörte man weithin Qin Stroms lautes Weinen. Die Tante würdigte ihn keines Blickes. Fausts Mund entfuhren immer noch üble Beschimpfungen, aber sein Blick ließ jetzt eine ängstliche Vorsicht erkennen. Tante fuhr den Milizionär an, der ihn am Schlafittchen hatte und am Arm festhielt: »Lass ihn los!« Er zögerte. Meine Tante wiederholte: »Lass ihn los! Gib ihm den Knüppel!« Ein Milizionär reichte den Knüppel weiter und warf ihn zu Faust hinüber. Mit einem eiskalten Lachen sagte meine Tante: »Heb den Knüppel auf!« Faust murmelte: »Wer sich an meinen Nachkommen vergreifen will, dem werde ich den Garaus machen!« »Nun ja, wenn du noch Nachkommen bekämst ...«, gab Tante zu bedenken und zeigte auf ihren Kopf: »Schlag zu! Hau drauf!« Gugu sprang zwei Schritte auf ihn zu und rief gellend: »Heute setzt Wan Herz ihr Leben aufs Spiel! Merk dir, was deine Großtante dir sagt! Nicht mal die Japsen, die mich mit dem Bajonett in die Enge trieben, hab ich gefürchtet. Dich fürchte ich schon gar nicht!« Zhang Goldzahn trat vor und verpasste Faust eine Backpfeife: »Dass du dich mal schnell bei Leiterin Wan entschuldigst!« »Ich brauche seine Entschuldigung nicht! Die Politik der Geburtenplanung ist ein großangelegtes Staatsvorhaben. So wahr ich Wan Herz heiße, wenn ich jetzt dafür mein Leben gebe, ist es das wert!« Kleiner Löwe bat Zhang Goldzahn: »Ruf schnell die Polizei, damit sie jemanden herschicken!« Goldzahn trat Faust: »Knie dich hin, Mensch! Gib deine Vergehen zu und sag ihr, dass du ihr den Schaden wiedergutmachst.« »Nicht nötig, nur keine Umstände. Dieser Stockschlag kann dich drei Jahre hinter Gitter bringen! Aber ich habe Verständnis für deine Lage und will dich nicht anzeigen. Zweierlei Möglichkeiten hast du: Die eine, du befiehlst deiner Frau, mir brav auf die Krankenstation zu folgen und eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Ich werde es persönlich tun und für ihre Sicherheit sorgen! Die andere, wir gehen gemeinsam zur Polizei und die verfahren dort mit dir strikt nach dem Gesetz. Am besten folgt mir deine Frau jetzt ohne Widerrede. Wenn nicht, dann ...«, Tante zeigte auf Zhang Goldzahn mit seinen Milizionären, »... könnt ihr sie mir rüberschaffen.« Faust kniete heulend, beide Hände vor dem Gesicht, am Boden: »Lieber Himmel, seit drei Generationen trägt in unserer Familie ein einziger Sohn unseren Familiennamen weiter. Bitte lass ihn jetzt nicht mit mir aussterben! Himmel, öffne deine Pforten! Verhüte dieses Unglück!« Zur gleichen Zeit war auch seine Frau laut weinend über den Hof herbeigekommen. Die Haare voller Stroh, denn sie hatte sich im Heuhaufen versteckt gehalten: »Leiterin Wan, verschone ihn, ich geh mit dir.« Tante und Kleiner Löwe verschwanden rechts den Flussdeich entlang. Sie schienen auf dem Weg zum Brigadekaderbüro zu sein, wohl, um sich Hilfe und Rat bei den Kadern zu holen. Währenddessen kroch die Frau – Fausts Ehefrau – aus der Kajüte und sprang über Bord in den Fluss. Qin Strom hechtete sofort hinterher, aber er konnte nicht schwimmen und ging unter. Mit letzter Kraft bekam er den Kopf über Wasser, aber nur, um gleich wieder unterzugehen. Huang Qiuya kreischte in höchsten Tönen: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Wir sahen von unserem Baum aus, wie die Tante und Kleiner Löwe sofort umkehrten und über den Deich zum Fluss zurückrannten. Wang Leber machte nun ebenfalls einen Hechtsprung ins Wasser, elegant wie ein Fisch. Wir waren am Fluss großgeworden und hatten schwimmen und laufen gleichzeitig gelernt. Der knorrige Weidenbaum hatte uns immer als Sprungbrett gedient, als wäre er nur zu diesem Zwecke gewachsen. Ich hoffte so sehr, dass Kleiner Löwe Lebers eleganten Kopfsprung gesehen hatte. Ich sprang gleich nach ihm ins Wasser. Li Hand folgte vom Ufer aus. Wir wollten erst einmal die Schwangere retten, aber sie war nirgends zu sehen. Qin Strom, der arme Wurm, wippte vor mir im Fluss auf und ab, wie ein Schmalzkuchen im siedenden Öl. Koch Wang schrie aus Leibeskräften: »Ihr müsst ihn am Schopf zu fassen kriegen! Lasst ihn nicht mit den Händen an euch ran!« Wang Leber schwamm hinter ihn, streckte die Hand aus und packte seinen Schopf. »Was für Haar! Superhaare! Wie eine Pferdemähne!«, schwärmte er uns später vor, nachdem alles vorüber war. Leber konnte von uns Jungen am besten schwimmen. Er schaffte es, von einem zum anderen Ufer zu schwimmen, ohne dass die Klamotten, die er über den Kopf hielt, auch nur einen Tropfen Wasser abbekamen. Und nun hatte er die Chance bekommen, seiner angebeteten Traumfrau seine Schwimmkünste zu zeigen! Li Hand und ich eskortierten ihn, einer zu seiner Linken, der andere zu seiner Rechten, bis er Qin Strom glücklich aus dem Wasser ans Ufer gezogen hatte. Schon waren Tante und Kleiner Löwe herbeigerannt. Meine Tante grollte: »Wie kommt der Blödkopf dazu, in den Fluss zu springen?« Qin Strom krümmte sich bäuchlings am Ufer und erbrach sich in den Fluss. Huang Qiuya weinte: »Als Fausts Frau sich in den Fluss warf, sprang er hinterher, um sie zu retten.« Gugu wurde nun richtig böse, ihr Blick schweifte suchend über den Fluss: »Wo ist sie?« »Sie hat sich ins Wasser gestürzt und war nicht mehr zu sehen.« »Habe ich dir nicht befohlen, dass du sie gut bewachen sollst? Ich kann dir eins sagen«, Gugu sprang wütend an Bord, »du bist so gut wie tot. Denn du wirst es zu verantworten haben! Wir legen ab! Starte sofort den Motor!« Kleiner Löwe mühte sich mit Händen und Füßen ab, kriegte den Motor aber nicht ans Laufen. Gugu brüllte: »Qin Strom! Du sollst sofort den Motor starten!« Schwankend und zitternd erhob er sich, beugte sich aber gleich wieder vornüber, um Wasser zu erbrechen, und ging in die Knie. »Renner! Leber! Kommt schnell! Helft mir Menschenleben retten!« Die Tante schrie aus Leibeskräften: »Ich belohne euch reichlich!« Wir ließen den Blick übers Wasser schweifen und suchten mit den Augen gründlich die Oberfläche ab. Endlose Weiten schmutzig brodelnden Wassers, auf dem Schaumhaufen, Schilf und Wasserpflanzen trieben. Da zeigte Li Hand auf das stille Wasser am Uferrand. Dort schaukelte eine Melonenschale langsam vorwärts: »Schau, dort!« Die Melonenschale trieb mit der Strömung und hob sich ab und zu über die Wasseroberfläche, wobei sie den Blick auf den Hals und das wirre Haar einer Frau freigab. Gugu, die es sich an der Bordwand bequem gemacht hatte, pfiff durch die Zähne und begann zu lachen. »Die, die wir vor dem Ertrinken retten wollten, haben wir gefunden! Keine Eile!« »Kleiner Löwe, kannst du dich über Wasser halten?« Die schüttelte den Kopf. »Um berufsmäßig für die Geburtenplanung im Dienst zu sein, genügt es nicht, dass man Prügel einstecken kann, man muss auch noch schwimmen können«, lachte die Tante und zeigte mit dem Finger auf die im Wasser schaukelnde Wassermelonenschale. »Sie hat sich die Tricks gemerkt, mit denen unsere Guerilla damals die Japsen überwältigt hat!« Qin Strom machte den Rücken krumm und kletterte nun an Bord. Er triefte, sein in der Mitte gescheiteltes Haar klebte am Kopf, seine Lippen waren dunkelblau, und er war kreidebleich. »Fahr los!«, wies ihn meine Tante an. Qin Strom betätigte die Starterkurbel und legte sie dann wieder zur Seite. Ihm war wohl schwindlig geworden. Er schwankte, würgte und erbrach Schaum. Wir machten für ihn das Tau am Steg los. Tante rief uns zu: »Kommt an Bord!« Ich konnte Leber die Ergriffenheit nachfühlen, mit der er an Bord auf Tuchfühlung mit Shizi saß. Ich beobachtete, wie seine Hände, die er auf den Knien abgelegt hatte, nervös zitterten. Weil sein Hemd ihm nass auf der Haut klebte, sah ich deutlich sein aufgeregt pochendes Herz, wie das eines Wildkaninchens, das man in einen Käfig gesperrt hat und das sich gegen die Gitterstäbe drückt. Er saß stocksteif und wagte nicht, sich zu rühren. Die füllige Shizi hatte keinen Schimmer. Sie hatte nur Augen für die auf dem Wasser schaukelnde Melonenschale. Qin Strom lenkte den Bug des Bootes vom Ufer weg und fuhr im ruhigen Wasser parallel zur Uferböschung weiter. Der Außenborder tuckerte gemütlich. Li Hand stand neben ihm und schaute ihm zu. Wie sein Lehrjunge sah er aus. »Fahr langsam, noch langsamer! Ja!«, wies Gugu ihn an, als uns nur noch fünf Meter von der Wassermelonenschale trennten. Er drosselte den Motor so weit, dass er kurz vor dem Absaufen war. Ich sah den unter der Wassermelonenschale versteckten Schädel der Schwangeren deutlich. »Wahrlich eine gute Schwimmerin, dass sie das im fünften Monat noch so vortrefflich kann.« Meine Tante befahl, die Lautsprecherdurchsage in der Kajüte anzustellen. Kleiner Löwe erhob sich sofort und verschwand unter Deck. Der Platz neben Leber wurde frei. Gähnend leer war es neben ihm geworden. Sein Gesicht wirkte bekümmert und verloren. Woran er wohl gerade dachte? Ob Kleiner Löwe seinen überschwänglichen Liebesbrief wohl schon bekommen hatte? Meine Gedanken schweiften noch ab, als die Lautsprecher losdröhnten. Obwohl ich wusste, dass die Ansage jeden Augenblick losgehen würde, blieb mir fast das Herz stehen. Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao heißt uns zu beherzigen, dass das Bevölkerungswachstum in jedem Fall kontrolliert und beschränkt werden muss. Als die Lautsprecher zu dröhnen begannen, hatte die Schwangere die Melonenschale über ihrem Kopf gelüftet und lugte aus dem trüben Wasser heraus. Sie schaute panisch nach links und rechts, um dann mit einer vehementen Bewegung unterzutauchen. Gugu wies Qin Strom an, den Motor noch weiter zu drosseln, und grinste: »Wollen mal sehen, wie gut diese Frau aus Dongfeng schwimmen kann!« Kleiner Löwe krabbelte aus der Kajüte, drängte sich vorn an den Bug und hielt besorgt Ausschau. Ihr pummeliges Figürchen und Leber lehnten nun wieder aneinander. Ich spürte, wie ich neidisch wurde. Wie eng presste sich dieser dürre Spargel da an die dralle, mollige Shizi! Ich stellte mir vor, wie Leber ihr warmes, weiches Fleisch spürte, wie er mit ihr ... Mein Herz klopfte wie wild, als ich mir das vorstellte. Wie ich mich für meine schmutzigen Phantasien schämte! Pfui! Ich blickte schnell woanders hin und ließ meine Augen keine Sekunde mehr auf ihren Körpern verweilen. Die Hände vergrub ich in meinen Hosentaschen und ich kniff mir in die Oberschenkel, dass es wehtat. »Sie ist aufgetaucht! Sie streckt den Kopf aus dem Wasser!«, schrie Kleiner Löwe aufgeregt. Die Schwangere war in ungefähr fünfzig Metern Entfernung vor unserem Boot aufgetaucht. Noch während ihr Körper aus dem Wasser hochkam, blickte sie um sich. Dann schwamm sie in Windeseile mit ausladenden Bewegungen flussabwärts. Gugu gab Qin Strom einen Wink. Der Dieselmotor heulte auf, mit erhöhter Geschwindigkeit fuhr das Boot zügig auf die Schwangere zu. Meine Tante kramte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, öffnete die Packung, holte sich eine Zigarette heraus und steckte sie in den Mund. Dann fischte sie ein Feuerzeug hervor, drehte am Reibrad, bis die Flamme brannte, und steckte sie sich mit blinzelnden Augen an, um dann geräuschvoll weißen Qualm zu paffen. Es kam Wind über dem Fluss auf, schmutzige Wellen wogten. »Wetten, dass du’s nicht schaffst, einem 12-PS-Motorboot davonzuschwimmen? Wir werden ja sehen!« Die Hochfrequenzlautsprecher übertrugen neue Volkslieder aus Hunan zum Lobe des Vorsitzenden Mao. In neun Flussbiegungen fließt der Liuyang fünfzig Kilometer weit, bis er in den Xiang mündet. Und wer stammt vom Liuyang? Unser Führer ... Tante schnippte die Kippe in den Fluss. Eine Möwe erwischte sie im Sturzflug und schwang sich damit wieder in den Himmel hinauf. Aus den Lautsprechern ertönte ein Krächzen, die Schallplatte war zu Ende. Kleiner Löwe blickte zu Tante hinüber, die sagte: »Es reicht.« Dann brüllte sie los: »Geng Xiulian, schwimmst du bis ins Ostchinesische Meer, oder was?« Die Frau antwortete nicht, sie schwamm unter Aufbietung all ihrer Kräfte weiter, aber sie war schon langsamer geworden. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du jetzt brav an Bord kommen musst, damit wir mit dir zur Krankenstation fahren und die OP machen können.« »Starrköpfigkeit wird dir nicht helfen! Wir können dir auch«, rief Kleiner Löwe wutschnaubend, »bis ins Ostchinesische Meer hinterherfahren.« Die Frau begann nun laut zu weinen, ihre Schwimmbewegungen wurden noch langsamer. Zug um Zug. »Na, was haben wir denn da? Machst du schlapp?«, lachte Kleiner Löwe sie aus: »Schwimm weiter, wenn du kannst! Eisvögel beherrschen das Stoßtauchen und Frösche klatschen, platsch, ins Wasser ...« Jetzt versank die Frau, und in der Luft roch es nach Blut. Tante warf einen Blick auf die Wasseroberfläche und schrie: »Ach du Scheiße! Mach schon, überhol sie!«, kommandierte sie. Dann befahl sie uns: »Springt ins Wasser! Schnappt sie euch!« Wang Leber sprang ins Wasser, Li Hand und ich sprangen hinter ihm her. Qin Strom drehte den Bug schräg und fuhr seitlich an der Frau vorbei. Leber und ich näherten uns ihr, ich streckte eine Hand aus, packte ihren linken Arm und zog ihn hoch, aber ihr rechter Arm kam wie der Fangarm einer Krake, umschlang mich und zog mich in die Tiefe. Ich schrie, schluckte Wasser, geriet in Panik. Es war Leber, der ihr Haar zu fassen bekam, zu einem Strang drehte und hochzerrte, so dass Li Hand ihre Schultern mit Schwung nach oben ziehen konnte, bis sie an die Wasseroberfläche kam. Mir wurde schwarz vor Augen, ich bekam einen Hustenanfall. Das Boot war vor uns. Qin Strom hatte den Motor gedrosselt, ich stieß mit der Schulter gegen das Boot, der Körper der Frau auch. Tante und die anderen an Bord streckten uns die Hände entgegen, ergriffen den Haarschopf der Frau, zerrten an ihren Armen, wir drückten von unten gegen ihren Hintern, pressten ihre Beine hoch. Es war grauenvoll, aber mit vereinten Kräften hatten wir sie schließlich ins Boot geschafft. Wir alle hatten das Blut an ihren Beinen gesehen. »Kommt nicht an Bord! Ihr schwimmt besser selbst ans Ufer.« Dann befahl Gugu Qin Strom brandeilig: »Schnell, wende das Boot, schnell!« Obwohl sie alles taten und die besten medizinischen Mittel anwandten, war Geng Xiulian tot und wurde nicht wieder lebendig. 6 Die Truppenleitung zeigte mir ein Expresstelegramm, in dem zu lesen war, dass meine Frau Renmei mit dem zweiten Kind schwanger sei. Mein Vorgesetzter wies mich in strengem Ton an: »Du bist Parteimitglied! Kader obendrein! Du hast bereits den Nachweis ausgestellt bekommen, dass du bei einem Kind bleibst, du erhältst monatlich eine Sonderzulage auf deinen Sold, weil du nur ein Kind hast. Warum hast du es zugelassen, dass deine Frau ein zweites Mal schwanger geworden ist?« Ich war wie vor den Kopf geschlagen und wusste nichts zu erwidern. Mein Vorgesetzter erteilte mir die Anweisung: »Fahr sofort nach Haus und setz die Abtreibung durch!« Mein plötzliches Erscheinen versetzte meine Familie in Erstaunen. Mein zweijähriges Töchterchen hatte sich hinter meiner Mutter versteckt und schaute mich ängstlich an. »Wo kommst du so plötzlich her?«, fragte Mutter besorgt. »Bin auf Dienstreise und schau nur mal auf einen Sprung vorbei.« »Yanyan, das ist dein Papa, ruf ihn schnell beim Namen! Sei brav!« Meine Mutter schob Yanyan zu mir hin: »Bist du nicht da, redet sie von nichts anderem als von dir. Aber wenn ihr Papa wirklich kommt, hat sie Angst. Na, so was!« Ich streckte die Hand nach ihr aus und ergriff ihren Arm, wollte sie hochnehmen, aber sie weinte sofort laut. Mutter seufzte schwer: »Tagein, tagaus sind wir bedrückt und fürchten, entdeckt zu werden, tun alles, um es geheim zu halten. Und nun ist das Geheimnis doch gelüftet worden.« »Was ist hier eigentlich los?« Ich war völlig entnervt. »Renmei hat doch immer eine Spirale getragen.« Meine Mutter sagte: »Sie hat es mir erst verraten, als es schon passiert war. Bevor du das letzte Mal auf Heimatbesuch hier warst, hat sie sich die Spirale von Backe entfernen lassen.« »Von diesem Bastard Backe!«, entfuhr es mir böse. »Weiß der denn nicht, dass er sich strafbar macht?« »Komm bloß nicht auf die Idee, ihn anzuzeigen! Renmei hat ihn immer wieder angebettelt, und er willigte erst ein, nachdem sie Galle zu ihm geschickt hatte, die ihn herzlich um diesen Freundschaftsdienst bat.« »Viel zu gefährlich. Denk mal dran, Backe ist ein Sauschneider, und er erdreistet sich, Menschen die Spirale zu entfernen. Wenn da was passiert, was macht er dann?« »Zu ihm gehen viele, hat mir Renmei erzählt. Und er ist sehr tüchtig«, flüsterte mir meine Mutter zu. »Er nimmt einen Metallhaken und fischt nur ein paar Mal. So einfach kann er eine Spirale herausziehen.« »Was für eine Schamlosigkeit!«, erwiderte ich. »Wo denkst du hin?« Meine Mutter hatte meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Galle ist mitgegangen. Als Backe die Spirale entfernt hat, hat er einen Mundschutz, eine Sonnenbrille und Gummihandschuhe getragen, und den Haken hat er zuvor mit Alkohol gereinigt und im Feuer glühend gemacht, um sicherzugehen, dass er keimfrei war. Renmei sagt, sie habe nicht mal die Hose ausziehen müssen, nur die Naht im Schritt ein Stück aufgetrennt.« »Das meine ich nicht.« »Renner, du weißt doch, dein Bruder hat einen Sohn, nur du hast keinen. Aber es ist mein Herzenswunsch, dass ihr beide einen habt«, sagte Mutter traurig. »Lass sie doch das Kind bekommen.« »Ich will ihr das Kind nicht verbieten. Aber wer garantiert denn, dass es ein Junge wird?« »Ich finde, es sieht nach einem Jungen aus, und«, sagte meine Mutter, »ich habe Yanyan gefragt, ob das Baby im Bauch ihrer Mama ein Schwesterchen oder ein Brüderchen ist. Und sie hat gesagt: Ein Brüderchen! Du weißt doch: Kindermund tut Wahrheit kund! Und wenn’s wieder ein Mädchen ist, hat Yanyan, wenn sie einmal groß ist, eine Stütze und ist nicht allein auf der Welt. Nur ein einziges Mädchen! Überleg mal, wenn ihr nun ein Unglück zustieße. Wer weiß, was das Schicksal uns bringt? Ich bin alt geworden. Wenn ich nun plötzlich nicht mehr bin? Wir Menschen können nichts wissen! Ich mache mir Gedanken, mein Sohn! Damit du glücklich wirst!« »Mutter, in der Truppe kommt eine Disziplinarstrafe auf mich zu. Beim zweiten Kind wird man aus der Partei ausgeschlossen, man verliert den Arbeitsplatz. Die schicken mich wieder nach Hause, und ich muss Feldarbeit machen. Ich habe so viele Jahre dafür gekämpft, endlich nicht mehr Bauer sein zu müssen und von hier weg zu können. Das alles aufgeben? Nur um ein Kind zu bekommen? Ist es das wert?« Mutter erwiderte: »Du meinst, Parteimitgliedschaft und Arbeitsplatz seien mehr wert als ein Kind? Was willst du in einer Welt ohne Menschen? Ohne die lebenden Menschen nützt dir auch die beste Position nichts. Da kannst du auf dem Stuhl neben dem Vorsitzenden Mao sitzen, aber wozu?« »Der Vorsitzende Mao ist doch längst tot«, sagte ich. »Du glaubst, das wüsste ich nicht? Als wenn ich das nicht wüsste! Das war doch nur ein Beispiel.« Wir hörten das Knarren des Hoftors. Yanyan rief sofort mit hohem Stimmchen: »Mama, Mama, mein Papa ist wieder da.« Ich sah meiner Tochter zu, wie sie auf ihren wackeligen kleinen Beinchen auf Renmei zurannte. Ich sah, dass Renmei meine graue Joppe trug, die ich immer angehabt hatte, bevor ich ins Militär eintrat, und ich sah, dass ihr Bauch sich schon wölbte. Sie hatte in der Armbeuge ein in roten Stoff eingeschlagenes Bündel, daraus lugten bunte Stoffzipfel hervor. Sie bückte sich, um unser Töchterchen auf den Arm zu nehmen, und lächelte aufgesetzt, als sie betont freundlich sagte: »Renner, welche Überraschung! Warum bist du zurück?« »Warum hätte ich denn nicht kommen sollen? Wo du doch so was Schönes angestellt hast!«, sagte ich kühl. Ihr von Pigmentflecken übersätes Gesicht wurde weiß, dann puterrot. Sie schrie sofort: »Was hast du denn an mir auszusetzen? Tagsüber gehe ich arbeiten, abends komme ich nach Haus und kümmere mich um das Kind. Ich habe dir keine Schande gemacht und mir nichts zu Schulden kommen lassen.« »Du bist auch noch so verlogen und streitest es ab? Warum hast du dir hinter meinem Rücken von Backe die Spirale entfernen lassen? Warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Verräter! Maulwurf! Kollaborateur!« Renmei setzte das Kind ab und verschwand wutschnaubend im Haus. Sie stolperte dabei über einen kleinen Schemel, nach dem sie so heftig trat, dass er im hohen Bogen wegflog. »Welche Kanaille hat sich am Himmel versündigt und es dir gesagt?« Unsere Tochter war laut weinend auf den Hof hinausgerannt. Mutter saß am Herd und weinte. »Streite nicht mit mir, beschimpf mich nicht, sondern komm einfach brav mit zur Krankenstation und lass das wegmachen. Dann passiert auch nichts weiter.« »Davon träumst du!« Schreiend griff Renmei einen Spiegel und schmiss ihn zu Boden. »Es ist mein Kind, es ist in meinem Bauch! Wer wagt, ihm ein Haar zu krümmen, über dessen Türschwelle werde ich mich erhängen! Renner, lass uns nicht mehr Kader sein und auch nicht mehr dieser Partei angehören. Lass uns zu Hause bleiben, unser Feld bestellen. Das ist doch gut! Die Zeit der Volkskommunen ist vorüber, das Land ist in Parzellen aufgeteilt und jeder ist Privatwirtschaftler. Korn gibt es so reichlich, dass wir es gar nicht aufessen können, und frei sind wir auch. Ich finde, du solltest wieder nach Hause kommen.« »Unmöglich, kommt nicht in Frage!« Renmei schien aus unserem Heim Kleinholz machen zu wollen, krachend fielen Schränke und Tische um. »Es ist nicht meine Privatsache, es verletzt die Ehre unserer gesamten Einheit.« Renmei kam mit einem großen Bündel auf den Hof. Ich hielt sie fest: »Wo willst du hin?« »Das geht dich einen Dreck an!« Ich hielt ihr Bündel fest, ließ sie nicht weg, aber sie zog aus ihrer Brusttasche flink eine Schere hervor, die sie auf ihren Bauch richtete. Mit blutunterlaufenen Augen kreischte sie: »Du sollst mich loslassen!« »Renner!« Das war der schrille Schrei meiner Mutter. Ich kannte natürlich Renmeis hitziges Temperament. »Schon gut, dann geh meinetwegen. Wenn du mir heute entkommst, morgen wirst du mir nicht entkommen. Es wird so oder so weggemacht.« Sie griff ihre Sachen und ging eilig davon. Unsere Tochter rannte mit weit ausgebreiteten Armen hinter ihr her, stolperte, fiel hin. Renmei kümmerte sich nicht um sie. Blickte sich nicht einmal um. Ich rannte los, hob meine Tochter auf den Arm, aber sie bäumte sich auf, trommelte gegen meine Brust, weinte und wollte zu ihrer Mama. Widerstreitende Gefühle bestürmten mich plötzlich, so dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Mutter kam gebückt, auf den Krückstock gestützt, auf den Hof: »Lass sie das Kind bekommen, mein Junge! Sonst haben wir nichts Gutes mehr zu erwarten.« 7 Abends weinte meine Tochter, wollte ihre Mama suchen. Was wir auch unternahmen, sie ließ sich nicht beruhigen. Mutter sagte: »Du gehst jetzt zu Yanyans anderer Oma nachfragen.« Ich ging mit Yanyan auf dem Arm zu meinen Schwiegereltern und klopfte dort an die Haustür. Mein Schwiegervater öffnete die Tür nur einen Spaltbreit: »Wan Renner, ich habe dir meine Tochter zur Frau gegeben, sie ist damit Mitglied deiner Familie geworden. Wen suchst du hier? Wenn meiner Tochter etwas geschieht, sind wir Erzfeinde bis an mein Lebensende.« Ich ging weiter zu Chen Nase. Ein großes Schloss hing am Hoftor, im Hof herrschte pechschwarze Nacht. Dann ging ich zu Wang Bein, ich klopfte Ewigkeiten am Tor. Drinnen bellte ein kleiner Hund wie verrückt. Dann ging Licht an, das Tor wurde aufgemacht, aber Wang Bein verstellte mir mit einem Knüppel in der Hand den Weg und ranzte mich wutentbrannt an: »Zu wem willst du?« »Onkel, ich bin’s.« »Ich weiß schon, dass du es bist. Zu wem willst du?« »Ist Leber da?« »Er ist tot!« Damit warf Wang Bein das Tor ins Schloss. Natürlich war Leber nicht tot. Mir fiel ein, dass Mutter bei meinem letzten Familienbesuch über Leber schwatzte, dass ihn sein Vater aus dem Haus gejagt habe. Und dass er sich jetzt draußen herumtrieb, man ihn zuweilen im Dorf Nudeln essen sehe, aber keiner wüsste, wo er wohnte. Meine Tochter hatte sich müde geweint und war in meinem Arm eingeschlafen. Ich lief mit ihr unsere Dorfstraße entlang, derweil mir meine bedrückte Stimmung zu schaffen machte. Erst seit vorletztem Jahr hatten wir bei uns im Dorf Strom aus dem Netz, und jetzt hatte man neben den Hochfrequenzlautsprechern, die an dem hohen Betonmast hinter der Dorfparteizentrale befestigt waren, zusätzlich eine Straßenlaterne aufgehängt. Unter der Leuchte hatte man einen mit blauem Filz bezogenen Billardtisch aufgestellt. Ein paar Jugendliche standen darum herum und spielten, wobei sie sich gegenseitig laut anfeuerten. Ein vielleicht fünfjähriger Junge saß in der Nähe des Billardtischs auf einem Hocker. Seine Hände hantierten mit einem kleinen Spielzeugschifferklavier, dem er einfache Töne entlockte. Ich sah ihm an, dass es sich um Yuan Backes Sohn handelte. Gegenüber blickte ich auf Backes großes erneuertes Hoftor. Ich zögerte kurz und beschloss, Backe zu besuchen. Wenn ich nur daran dachte, dass er Renmei die Spirale herausgenommen hatte! Wie unangenehm! Peinlich, eklig. Mir wurde ganz anders. Hätte das ein examinierter Mediziner gemacht, na, dann hätte ich ja nichts gesagt. Aber Backe ... dieser Affenarsch. Mein Kommen überraschte ihn sichtlich. Erholte er sich doch gerade, allein mit sich selbst, beim Schnaps auf seinem Kang. Auf dem Nachttisch standen Tellerchen mit Erdnüssen, Dosensardellen und Rührei. Barfuß kam er vom Kang herunter und begrüßte mich, ich solle mich zu ihm gesellen und mit ihm trinken. Seiner Frau rief er zu, sie solle noch ein paar Gerichte auftragen. Auch er hatte eine Klassenkameradin geheiratet. Wir hatten sie immer Sesamstange gerufen. Diesen Spitznamen hatte sie ihrer Weißfleckenkrankheit zu verdanken. »Bei dir flutscht das Geschäft wohl richtig! Wie die Made im Speck«, sagte ich und setzte mich auf den Schemel vor seinen Kang. Sesamstange hatte mir gleich meine Tochter abgenommen und sie auf dem Kang schlafen gelegt. Ich hatte mich zuerst gesträubt, sie ihr aber dann doch gegeben. Jetzt hatte sie den Wok gespült und Feuer gemacht, denn sie wollte uns frischen Degenfisch braten, der gut zum Schnaps schmeckt. Ich verbot es ihr energisch. Aber der Fisch brutzelte bereits im Wok, und es duftete köstlich. Yuan Backe drängte mich, die Schuhe auszuziehen und richtig auf den Kang hinaufzukommen, aber ich wollte nicht, entschuldigte mich, dass ich doch nur ein Weilchen bliebe und es umständlich sei, die Schuhe auszuziehen. Er gab nicht auf und wollte mich unbedingt auf seinem Kang haben. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich setzte mich auf die Kante und ließ die Beine baumeln. Dann füllte er mein Glas und stellte es vor mir ab. »Kamerad, dein Besuch macht uns Ehre! In welchem Rang dienst du inzwischen? Bist du Oberstleutnant und Bataillonskommandeur oder schon Oberst und Regimentskommandeur?« »Blödsinn! Ich arbeite für eine klitzekleine Kompanie!« Ich führte das Glas zum Mund und trank den Schnaps in einem Zug. »Und mit der Kompanie ist es sowieso aus und vorbei, weil ich vom Dienst suspendiert werde und heim muss, um wieder als Bauer zu arbeiten.« »Was höre ich da?« Er leerte sein Glas auch auf ex: »Du bist unter uns Mitschülern immer der mit den blendendsten Zukunftsaussichten gewesen. Obwohl Xiao Unterlippe und Li Hand beide die Uni besuchen – Oberlippe, dieser gescheckte Hund, hat tagaus tagein auf der Straße herumposaunt, dass sein Sohn inzwischen einen Posten im Staatsrat habe –, bist du immer noch der Erfolgreichste von uns allen. Unterlippe hat eine schmale Stirn, breite Backen, dabei spitze Ohren und das typische Aussehen eines Amtsdieners im Mandarinat. Hand hat ein fein geschnittenes Gesicht mit hübschen Brauen und Augen, ist aber kein Glückskind, während du Kranichbeine und Mandelaugen besitzt! Wäre da nicht dieses »Tränenmal« unter dem rechten Auge, hättest du das typische Aussehen eines Herrschers. Wenn du dir diesen kleinen Leberfleck mit den ungünstigen Vorzeichen weglasern lassen würdest, könntest du vielleicht nicht gerade Minister oder General, doch immerhin noch Lehrer oder Brigadekommandant werden.« »Halt den Mund, Mann! Wenn du Leuten auf dem Markt so einen Bären aufbindest, meinetwegen. Aber mich musst du damit nicht vollquatschen.« »Es ist Li Hes Lehre des Gesichtlesens, die uns diese Einblicke eröffnet, die Wissenschaft von den Physiognomien ist das große Vermächtnis unserer Ahnen.« »Hör auf mir einen vom Pferd zu erzählen! Ich bin hergekommen, weil ich mit dir abrechnen will. Du Sack hast mich ins Unglück gestürzt.« »Was?«, erwiderte Yuan Backe. »Ich habe doch nichts getan, was dir Schaden zufügt!« »Wer hat dir erlaubt, Renmei heimlich die Spirale zu entfernen?« Ich flüsterte: »Jetzt ist’s aus. Jemand hat der Truppe ein Telegramm geschickt. Die haben mich angewiesen, nach Hause zu fahren und Renmei eine Abtreibung machen zu lassen. Wenn ich mich weigere, dann schließen sie mich aus der Partei aus und streichen mir meine Arbeitsstelle. Renmei ist mir davongerannt. Erklär mir mal, wie ich mich jetzt verhalten soll?« »Wo hast du denn das aufgeschnappt?« Backe verdrehte die Augen und breitete beide geöffneten Hände aus: »Ich soll Renmei ihre Spirale entfernt haben? Ich bin Wahrsager, sage nach dem I Ging die Zukunft voraus, kann das Qi beeinflussen, bestimme Glücks- und Unglückstage und führe Fengshui-Beratungen durch. Darin bin ich Spezialist. Wie komme ich als Mann dazu, Frauen ihre Spirale rauszunehmen? Pfui Teufel! Dass du nichts dabei findest, solche Unglück heraufbeschwörenden Dinge überhaupt zu sagen! Wenn ich es nur höre, spüre ich schon das Unglück hereinbrechen.« »Hör auf, den Affen zu machen!«, sagte ich nur. »Hier weiß doch jeder von den Fähigkeiten des Kleinen Heilers. Spezialist bis du im I Ging und im Fengshui, aber nebenberuflich bist du nicht nur Sauschneider, sondern entfernst den Frauen auch noch ihre Spirale. Ich werde dich nicht anzeigen, aber meine Meinung will ich dir sagen. Als du ihr die Spirale entferntest, hättest du mir ja wohl einen Wink geben können.« »Du beschuldigst den Falschen! Eine himmelschreiende Anklage gegen einen Unschuldigen ist das! Bring sie ruhig her, die Renmei. Wir bringen dir den Beweis, dass ich es nicht gewesen bin.« »Sie ist weggelaufen. Ich wüsste nicht, wo ich sie suchen sollte. Außerdem würde sie es niemals zugeben, denn sie würde dich nicht verraten.« »Du bist echt ein Scheißkerl, Renner, dir ist doch klar, dass du nicht zum gemeinen Volk gehörst. Du bist Offizier und übernimmst Verantwortung, du kennst die Konsequenzen für das, was du sagst. Beharrst du auf der Behauptung, ich hätte deiner Frau die Spirale rausgenommen? Wen ziehst du als Zeugen hinzu? Du ruinierst damit meinen Ruf, machst mich rasend, zwingst mich dazu, dich anzuzeigen.« »Ich gebe ja zu, wenn ich die Sache genau betrachte, kann ich dir die Schuld nicht in die Schuhe schieben. Ich möchte von dir einen Rat. Möchte wissen, wie ich reagieren soll. Deswegen bin ich zu dir gekommen. Da die Karre nun mal in den Dreck gefahren ist ... was mache ich jetzt?« Backe schloss die Augen, kniff sich in einige Akupunkturpunkte an seinen Händen, damit das Qi gut floss, und summte ein Tantra. Dann riss er die Augen wieder auf. »Werter Freund, auf dich wartet großes Glück! Woher das Glück kommt? Der Fötus im Leib deiner Gattin ist die Wiedergeburt eines berühmten Adligen aus der Qing-Dynastie. Weil es das göttliche Geheimnis berühren würde, kann ich dir den Namen des Vornehmen nicht nennen. Anstelle seines Namens nenne ich dir vier Sätze, die du bitte in deinem Gedächtnis bewahrst: Das Kind ist von Geburt an körperlich genial. Überragend begabt und befähigt schließt es seine Ausbildung ab. Bei Prüfungen steht es immer als Erstplatzierter auf den öffentlichen Listen. In purpurner Staatsrobe mit dem Jadegürtel des hohen Beamten wird ihm Ruhm und Respekt zuteil!« »Lüg weiter«, sagte ich zwar – aber während mein Mund sprach, spürte ich, wie mir eine nicht zu benennende Freude direkt aus dem Herzen sprudelte. Wie schön das wäre, wenn ich tatsächlich einen so wunderbaren Sohn bekommen könnte ... Yuan Backe erkannte natürlich sofort, dass er mir mit seinem Pfeil mitten ins Herz getroffen hatte. Verhalten lächelnd sagte er: »Kumpel, das ist der Wille des Himmels. Dem darf man nicht zuwiderhandeln.« »Aber wenn ich Renmei das Kind gebären lasse, bin ich erledigt«, sagte ich kopfschüttelnd. »Es gibt ein altes Wort: Im Vertrauen auf den Himmel gibt es immer einen Ausweg.« »Nun sag schon!« »Du gibst ein Telegramm auf, darin teilst du deinem Vorgesetzten mit, dass Renmei gar nicht schwanger ist, sondern dass nur Leute, die dir übel wollen, böse Gerüchte gestreut haben.« »Das soll nun der einmalige Trick sein, der alle meine Probleme zum Verschwinden bringt?«, lachte ich abschätzig. »Das ist, wie ein loderndes Feuer hinter Papier zu verstecken. Was mache ich denn bitteschön, wenn ich für mein Kind eine Meldebescheinigung brauche? Soll es denn nicht zur Schule gehen?« »Freund, warum denkst du in so langen Zeiträumen? Wenn es geboren ist, können wir das als Sieg verbuchen. Bei uns wird alles sehr streng gehandhabt, aber in den benachbarten Kreisen gibt es unzählige schwarz geborene Kinder. Jetzt ist doch sowieso jeder Privatwirtschaftler. Zu Essen gibt’s genug. Dann ziehen wir das Kind doch erst mal groß! Ob mit oder ohne Meldebescheinigung, die Staatbürgerschaft werden sie diesen Kindern doch wohl nicht aberkennen wollen? Bürger der Volksrepublik China sind sie also allemal.« »Und wenn’s rauskommt? Ist es mit meiner beruflichen Zukunft dann nicht aus und vorbei?« »Daran lässt sich nichts ändern, genauso wenig wie man beim Zuckerrohr nicht zwei saftige Spitzen haben kann.« »Verdammte Scheißweiber! Denen gehört der Arsch versohlt!« Ich leerte mein Glas wieder auf ex, drehte mich um und rutschte vom Kang. »Immer verpassen die Weiber meinem Leben die Pechsträhne!« »Das würde ich so nicht sagen, Kumpel. Ich hatte euch mal ein Horoskop erstellt. Renmeis Schicksal ist das einer ihren Mann unterstützenden Frau. Dein Erfolg beruht auch auf ihrer Hilfe.« »Dass ich nicht lache!« Ich grinste kühl. »Du meinst wohl das Schicksal einer ihren Mann ins Verderben stürzenden Frau?« »Nehmen wir mal den ungünstigsten Ausgang an: Dann bringt Renmei euren Sohn zur Welt, du verlierst deinen Arbeitsplatz und wirst wieder Bauer, der zu Hause sein Feld bestellt. Was ist daran so schlimm? Aber zwanzig Jahre später macht dein Sohn Karriere und du bist ein Großvater, der es sich gut gehen lassen kann. Wo ist da der Unterschied?« »Hätte sie sich zuvor mit mir beraten, wäre es halb so wild. Aber so mit mir umzuspringen? Da platzt mir der Kragen.« »Renner, aber du musst eins anerkennen«, erwiderte Backe, »das Kind, das Renmei unter ihrem Herzen trägt, ist dein Nachwuchs, von dir gezeugt! Ob du es nun wegmachen lässt oder behältst, musst allein du entscheiden.« »Da hast du völlig recht, Kumpel. Aber ich möchte dich daran erinnern: Die Wände haben hier Ohren! Du solltest vorsichtiger sein!« Ich ließ mir von Sesamstange meine tief schlafende Tochter reichen und spazierte zum Tor hinaus. Als ich mich umdrehte, um mich von ihr zu verabschieden, flüsterte sie mir zu: »Lass sie das Kind bekommen, Renner! Wenn’s soweit ist, dann helfe ich euch dabei, ein verschwiegenes, entferntes Plätzchen zu finden, wo sie es in Ruhe gebären kann.« Sie stand noch am Tor, als ein Militärjeep vor Yuan Backes Haus hielt. Zwei Polizisten sprangen heraus, die sich resolut Zutritt verschaffen wollten. Sesamstange streckte die Hand vor, um ihnen diesen zu verwehren. Aber die Polizisten drückten sie zu Seite und waren auch schon im Haus verschwunden. Man hörte Krachen und harte Schläge, dazwischen Yuan Backe laut aufschreien. Minuten später wurde er, die Füße nur halb in den Schuhen und in Handschellen, zwischen zwei Polizisten aus dem Haus heraus auf den Hof abgeführt. »Wer gibt euch das Recht, mich einfach festzunehmen? Mit welchem Recht?« Backe gab keine Ruhe, während sie ihm den Kopf aufs Kinn drückten. »Hör auf zu plärren«, sagte der eine der beiden barsch, »du weißt doch besser als wir, warum wir dich abführen.« Yuan Backe rief mir zu: »Renner, du musst mich auf Kaution rausholen. Ich habe nichts Illegales getan.« Im gleichen Moment sprang aus dem Wageninneren eine riesenhafte, gewichtige Frau heraus. »Tante?« Meine Tante nahm den Mundschutz ab und sagte kalt: »Morgen kommst du zu mir auf die Krankenstation.« 8 »Tante, meinst du nicht, dass wir sie das Kind doch bekommen lassen sollten?«, sagte ich tieftraurig. »Ich will die Parteimitgliedschaft nicht mehr, meine Stellung will ich auch nicht mehr.« Meine Tante schlug mit der Hand auf den Tisch, dass er zitterte und das Wasser aus dem Glas vor mir herausschwappte. »Aus dir mit deiner Einstellung kann ja nichts werden, Renner! Überleg mal«, sagte meine Tante, »das ist nicht nur deine Privatsache! Unsere Volkskommune hatte während der letzten drei Jahre kein einziges überzähliges Kind. Das Plansoll wurde nicht überschritten. Willst du uns unsere beispielhafte Leistung kaputtmachen?« »Aber sie will sich umbringen!« Ich begann mich zu winden. »Wenn so etwas passiert, was machen wir dann?« Meine Tante sagte nur eiskalt: »Weißt du, wie unsere hiesigen Regeln dazu lauten? Willst du Gift trinken, nehmen wir dir die Flasche nicht weg! Willst du dich aufhängen, reichen wir dir den Strick! So ein Vorgehen wäre barbarisch! Wollen wir die Barbarei? Bei euch in der Truppe braucht das keiner, in der Stadt auch nicht. Im Ausland noch weniger. Die ausländischen Frauen denken ohnehin nur an ihr persönliches Vergnügen und an den eigenen Genuss. Da zahlt der Staat noch, wenn sie Kinder bekommen, und sie tun’s trotzdem nicht. Bei uns auf dem Land dagegen, wo wir es mit unseren chinesischen Bauern zu tun haben, reden wir uns den Mund fusselig, erklären – noch mal und noch mal – vernünftig die Politik, laufen uns die Schuhsohlen ab. Aber auf uns hören tut keiner! Sag mir, was da zu tun ist! Wir müssen den Bevölkerungszuwachs in den Griff kriegen! Müssen uns an die staatlichen Vorschriften halten! Müssen die Anweisungen unserer Vorgesetzten durchsetzen und das von ihnen verlangte Soll erreichen. Wenn du es besser weißt, sag mir, was ich tun soll! Alle, die an der Durchsetzung der Geburtenplanung arbeiten, ertragen es, dass die Leute am Tag hinter ihrem Rücken über sie pöbeln, sie zur Rechenschaft ziehen, ihnen Schwierigkeiten bereiten und sie nachts, wenn sie im Dunkeln unterwegs sind, mit Backsteinen bewerfen. Selbst ein Fünfjähriger hat mir mit dem Hammer auf die Wade geschlagen.« Tante rollte ihr Hosenbein hoch und zeigte mir den blauen Bluterguss. »Siehst du? Das ist von einem Hieb mit dem Hammer, den mir so ein schieläugiger, kleiner Hundsfott aus Dongfeng beigebracht hat. Ich denke, du erinnerst dich gut an die Sache, die damals mit Fausts Frau passierte?« Ich nickte, denn ich erinnerte mich gut an das Unglück auf unserem Hochwasser führenden, brodelnden Fluss. Es war jetzt zehn Jahre her. »Sie selbst war in den Fluss gesprungen. Wir waren es, die sie aus dem Fluss herausfischten. Aber Faust und mit ihm alle Dörfler behaupten, dass wir Xiulian in den Fluss geschubst und ertränkt hätten. Sie schrieben sogar gemeinschaftlich einen Brief, setzten mit Blut gestempelte Fingerabdrücke darunter, reichten Beschwerde ein. Bis zum Staatsrat hoch ging die Sache. Und als es rauskam, sah man keine andere Möglichkeit, als Huang Qiuya zum Sündenbock zu machen.« Tante zündete sich eine Zigarette an und tat einen tiefen Lungenzug. Der weiße Qualm verhüllte ihr bekümmertes Gesicht. Sie war alt geworden. Zwei tiefe Falten führten von beiden Mundwinkeln hinunter zum Kinn, ihre Augen waren trübe und hatten große Tränensäcke. »Wir taten alles Menschenmögliche, um Xiulian zu retten und verausgabten uns dabei völlig. Ich nahm mir, um sie zu retten, sogar noch selbst einen halben Liter Blut ab. Sie hatte von Geburt an einen Herzfehler. Da war nichts zu machen, und wir ersetzten Faust den Verlust mit tausend Yuan. Damals war das eine Menge Geld. Faust ließ es dabei jedoch nicht bewenden. Er packte den Leichnam seiner Frau auf den Handwagen und ging damit, zusammen mit seinen drei Töchtern, in Hanftrauerkleidung zum Kreisparteikomitee und machte dort Krach. Er traf tatsächlich den verantwortlichen Kader auf Provinzebene an, der zur Inspektion unserer Geburtenplanung zu uns ins Dorf entsandt worden war. Die Kreispolizei kam mit einem Jeep bei uns vorbei und schaffte mich zusammen mit Kleiner Löwe und Huang Qiuya aufs Revier. Die Polizisten behandelten uns wie Straftäter, kommandierten uns frech mit den rüdesten Schimpfwörtern herum und stießen uns brutal vorwärts und ins Auto. Der leitende Kreiskader wollte mit mir sprechen, aber ich drehte mich weg, sagte, ich spräche nur mit dem leitenden Provinzkader, und stürmte zum Zimmer des Provinzbeamten. Der saß auf dem Sofa und las Zeitung. Ich blicke nur zu ihm hinüber. Das ist doch Yang Lin! Ach, Yang Ling war stellvertretender Provinzgouverneur geworden, machte sich ein feines Leben und pflegte sich. Ich war sofort auf hundertachtzig. Wie ein Maschinengewehr feuerte ich Schimpfsalven, ließ meiner Wut freien Lauf. ›Ihr da oben gebt eure verdammten Anordnungen, und wir an der Basis laufen uns die Füße wund und reden uns den Mund fusselig. Ihr wollt, dass wir alles leise, mit zivilisierten Methoden erklären, Politik vermitteln, Massenpropaganda machen und Überzeugungsarbeit leisten ... und ihr? Steht locker da und redet! Davon tut das Kreuz ja nicht weh, nein, nein ... und das Kinderkriegen ist auch nicht eure Sache! Dass die Möse dabei weh tut, stellt ihr euch nicht mal vor! Kommt an die Basis und tut mal unsere Arbeit! Wir machen uns körperlich kaputt, mit Todesverachtung rackern wir uns ab. Stecken Schikanen und Prügel ein. Fleischfetzen fliegen! Blut spritzt! Und passiert was, unterstützt uns dann unser vorgesetzter Kader? Hält er uns mal den Rücken frei? O nein, der ist immer auf der Seite der hinterlistigen kleinen Leute! Das ist bitter!‹« Meine Tante war eine in jeder Hinsicht stolze Person. »Renner, andere Leute hätten vor diesem hohen Kader nicht zu sprechen gewagt. Nicht so deine Tante! Du weißt, ich kümmere mich um solchen Dünnschiss nicht. Ich kann vor hohen Tieren sogar besser reden. Mit gut reden können hat es aber auch nichts zu tun. Der Grund für meinen Redefluss war allein, dass sich bei mir zu viel Verbitterung angestaut hatte. Ich redete und weinte durcheinander. Dazwischen zeigte ich ihm meine Narbe an der Stirn. ›Hat sich Faust, als er mir mit seinem Knüppel den Kopf blutig schlug, strafbar gemacht oder nicht? Wir sind in den Fluss gesprungen und haben sie gerettet. Ich habe einen halben Liter Blut für sie gespendet. Ist das nicht der Beweis äußerster Großmut?‹, sagte ich zu Yang Lin. ›Dann schick mich doch in ein Arbeitslager zur Umerziehung. Sperr mich in ein Gefängnis. Ich will hier sowieso nicht mehr arbeiten!‹ Yang Lin hatte bei meinem Bericht bitterlich zu weinen begonnen. Er stand auf und goss mir ein Glas Wasser ein, ging zur Toilette und brachte mir von dort einen warmen Waschlappen mit. Dann sagte er: ›Es stimmt, dass die Arbeit an der Basis unvergleichlich schwieriger ist. Nicht von ungefähr spricht der Vorsitzende Mao: Dringend erforderlich ist, den Bauern Bildung und Erziehung zu bringen. Genossin Wan, ich verstehe, du hast schwere Entwürdigungen hinnehmen müssen. Die Kreiskader können dich auch verstehen. Wir schätzen dich sehr.‹ Er setzte sich zu mir, lehnte sich an mich und fragte mich, ob ich nicht mit ihm kommen und auf Provinzebene arbeiten wolle? Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Aber vor meinen Augen erschienen die Kampf- und Kritiksitzung und seine abscheulichen Worte. Sofort erstarrte ich innerlich. Deswegen sagte ich entschieden: ›Nein, ich kann hier nicht weg. Ohne mich funktioniert die Arbeit hier nicht.‹ Bedauernd schüttelte er den Kopf: ›Na dann wechsle zum Kreiskrankenhaus!‹ Ich sagte wieder: ›Nein, ich gehe nirgendwo anders hin.‹ Aber ich hätte wohl doch mit ihm gehen sollen. Einfach alles stehen und liegen lassen und abhauen. Aus den Augen, aus dem Sinn! Sollen die ihre Kinder doch kriegen. Arsch auf und raus damit! Mir doch egal, ob’s zwei oder drei Milliarden sind. Kann mir doch sagen, wenn der Himmel einstürzt, stützen ihn lange Latten wie der Vorsitzende Mao, mich juckt’s nicht! Warum sollte es auch? Deine Tante zieht ihr ganzes Leben immer nur deswegen den Kürzeren, weil sie zu gehorsam ist, zu revolutionär, zu parteitreu, zu gründlich und zu gewissenhaft.« »Aber es ist nicht zu spät, wenn dir jetzt die Einsicht kommt!«, wandte ich ein. »Pfui Teufel!« Tante kochte schon wieder: »Was sind das für Worte? Zur Einsicht kommen! Da erzähle ich dir, der du zur Familie gehörst, mal zwei, drei Sachen, die mich geärgert haben, jammere ein bisschen, und gleich ... Ich sag dir mal eins, ich bin und bleibe eine bedingungslos parteitreue Kommunistin! Sogar während der Kulturrevolution habe ich dem Kommunismus nicht abgeschworen! Dann werde ich’s jetzt ja wohl auch nicht tun! Die Politik der Geburtenplanung muss sein. Wenn wir alle nach Lust und Laune Kinder kriegen lassen, sind es in einem Jahr dreißig Millionen mehr, in zehn Jahren dreihundert Millionen, und nach noch mal fünfzig Jahren haben die Chinesen unseren Globus plattgemacht. Deshalb muss uns jedes Mittel recht sein, wenn es darum geht, die Geburtenrate zu senken. Nebenbei ist das Chinas Geschenk an die Menschheit.« Ich sagte: »Tante, mir sind die Zusammenhänge klar, aber jetzt zählt nur, dass Renmei fortgelaufen ist ...« »Ein weglaufender Mönch kommt früher oder später wieder zum Tempel zurück«, erwiderte meine Tante, »wohin soll sie schon gelaufen sein? Die hat sich bei deinem Schwiegervater versteckt.« »Renmei ist etwas jähzornig, sie hat sich nicht unter Kontrolle. Ich befürchte, dass sie sich etwas antut.« »Mach dir mal keine Sorgen«, entgegnete meine Tante, keinen Zweifel zulassend. »Ich habe seit Jahrzehnten mit dieser Sorte Frauen zu tun. Ich weiß, wie die ticken. Bei so hysterischen Weibern, die immer gleich sensibel wimmern und bei jedem Bisschen mit Selbstmord drohen, passiert sowieso nichts. Sei beruhigt. Die möchte ihr Leben bestimmt behalten. Schwierig wird es nur bei denen, die nichts sagen, die nur wispern. Da muss man befürchten, dass sie sich aufhängen, im Brunnen ertränken oder Gift trinken. Bald fünfzehn Jahre mache ich Geburtenplanung. Bei denen, die sich umgebracht haben, waren andere Gründe vorrangig. Sei beruhigt, darauf kannst du dich verlassen.« »Dann sag mir mal, was ich tun soll?«, sagte ich gequält. »Und wenn sie nun von Natur aus nicht in der Lage dazu ist? Sie kann das nicht! Soll ich sie etwa wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank fesseln? Sie gefesselt zum Krankenhaus schaffen?« »Wenn es nicht anders geht, dann eben mit Gewalt! Besonders bei deiner Frau, denn du bist mein Neffe! Deshalb muss ich mit ihr besonders streng verfahren. Wie soll ich mein Handeln vor anderen vertreten, wenn ich sie laufen lasse? Wenn ich dann einschreite, werden sie mir mit dem Hinweis auf Renmei den Mund verbieten.« »Unter diesen Umständen muss ich dir wohl Folge leisten! Sollen denn Leute von der Truppe kommen, die das in die Hand nehmen?« »Ich habe deiner Einheit längst ein Telegramm geschickt.« »War das erste Telegramm auch von dir?« »Ja«, sagte sie nur. »Wenn du es schon früher gewusst hast, warum hast du dann nichts unternommen?« »Ich befand mich zwei Monate lang auf Sitzungen in der Kreisstadt. Als ich zurück war, erfuhr ich davon. Diesem Hurensohn Backe«, meine Tante kochte wieder, »habe ich diese Schwierigkeiten zu verdanken. Glücklicherweise hat ihn jemand verpfiffen, ansonsten hätten wir jetzt noch mehr Probleme.« »Wird man ihn verurteilen? Kommt er ins Gefängnis?« »Wenn’s nach mir geht, wird er erschossen!« Tante schnaubte vor Wut. »Er hat wohl nicht nur Renmei die Spirale entfernt?« »Wir haben die Sache komplett aufgeklärt. Deine Frau, Wang Qis Frau aus Wangjia, Xiao Jinnius Frau von der Sippe der Suns aus Sunjiazhuang und Chen Nases Frau Wang Galle, die von allen mit ihrer Schwangerschaft am weitesten ist – sie alle waren bei ihm. Und es gibt noch an die zwanzig Schwangere, die nicht zum Kreis Gaomi gehören und mit seiner Hilfe schwanger wurden. Die kriegen wir leider nicht zu fassen. Jetzt kommt erst mal deine Frau unters Messer, dann machen wir bei den übrigen reinen Tisch. Soll sich bloß keiner einbilden, dass er mir entkommt.« »Und wenn die in andere Provinzen fliehen?« Tante ließ ihr eisiges Lachen hören: »Meinst du, da draußen gibt’s keine Geburtenplaner? Buddha ist überall! Da kann der Affe Sun Wukong noch so hoch springen, er bleibt in der Hand Buddhas.« Ich sagte: »Tante, ich bin Offizier der Volksbefreiungsarmee, Renmei muss dann wohl abtreiben. Aber Wang Galle und Chen Nase sind Bauern. Bei beiden ist das erste Kind ein Mädchen. Unsere Politik erlaubt doch, dass sie ein zweites Kind haben dürfen. Für Galle ist es nicht einfach, schwanger zu werden ...« Tante unterbrach mich spitz mit einem gehässigen Lachen: »Da hast du vor deiner eigenen Türe noch nicht gekehrt und beginnst schon für andere die Lanze zu schwingen! Die Politik sieht ein zweites Kind nur vor, wenn acht Jahre zwischen dem ersten und dem zweiten liegen. Wie alt ist die kleine Ohr?« »Aber das ist doch nur ein paar Jahre zu früh?«, wandte ich ein. »Da machst du es dir entschieden zu einfach! Nur ein paar Jahre früher ... Und wenn alle nur ein paar Jahre früher ihr zweites bekommen? So ein Vorgehen darf man gar nicht erst vorschlagen! Das produziert Chaos. Kümmere dich nicht um die Angelegenheiten anderer! Fang erst mal bei dir selbst an!« 9 Gugu kam an der Spitze einer gut besetzten Spezialeinheit von Geburtenplanern in unser Dorf. Sie war Truppführerin, der stellvertretende Truppführer kam von der bewaffneten Volkswehr unserer Kommune. Zur Einheit gehörten Kleiner Löwe und sechs muskulöse Volksmilizionäre. Sie verfügten über einen Lieferwagen, auf dem ein Hochfrequenzlautsprecher montiert war, und einen Kettentrecker mit einem starken Dieselmotor. Ich hatte, noch bevor Tante mit ihrem Trupp bei uns im Dorf angekommen war, noch mal am Tor meines Schwiegervaters geklopft, er hatte sich erbarmt und mich hereingelassen. »Du hast auch bei der Armee gedient«, sagte ich, »und du weißt, dass jedem militärischen Befehl sofort nachzukommen ist. Sich Befehlen zu widersetzen, ist nicht möglich.« Mein Schwiegervater rauchte und sagte: »Warum schwängerst du sie, wenn dir doch klar ist, dass sie das zweite Kind nicht gestatten? Wenn die Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten ist, kann man das Kind nicht mehr abtreiben! Wenn sie nun dabei stirbt? Ich habe nur die eine Tochter!« »Die Sache habe ich mir nicht vorzuwerfen. Also grolle mir nicht!« »Wem, wenn nicht dir, sollte ich sonst grollen?« »Wenn du jemandem Vorwürfe machen willst, mach sie Yuan Backe. Die Polizei hat ihn bereits festgenommen.« »Red keinen Scheiß, ich sag dir eins: Wenn meiner Tochter was zustößt, mache ich dir, so alt wie ich bin, unter Einsatz meines Lebens den Garaus!« »Meine Tante sagt, es passiert nichts. Sie sagt, auch bei Schwangeren, die im siebten Monat waren, haben sie Abtreibungen gemacht.« »Deine Tante ist kein Mensch, die ist ein Todesdämon!«, fiel meine Schwiegermutter ein. »Wie viele Menschenleben die in den letzten Jahren schon ausgelöscht hat! An ihren Händen klebt Blut! Ist sie erst unter der Erde, wird Höllenfürst Yama sie mit tausend Messerschnitten häuten!« »Was redest du da, Frau?«, schimpfte mein Schwiegervater. »Halt dich raus, wenn wir hier unter Männern Dinge besprechen, die nur Männer was angehen!« »Wie? Dinge, die nur Männer was angehen? Da wollt ihr mein Herzblut, meine einzige Tochter, dem Tod ausliefern, sie ans Höllentor fahren, und ihr wagt es zu behaupten, das sei Männersache?«, fuhr meine Schwiegermutter ihn an. »Mutter, ich will doch keinen Streit mit dir! Ruf bitte Renmei für einen Augenblick heraus. Ich will ihr was sagen!« »Du kommst hierher, weil du zu Renmei willst? Sie ist die Schwiegertochter deiner Familie. Sie wohnt bei euch! Oder hast du ihr längst etwas Furchtbares angetan? Dann kriegst du es mit uns zu tun! Wir werden unsere Tochter zurückverlangen!« Also rief ich selbst laut ins Haus hinein: »Renmei, hör bitte, ich habe gestern mit der Tante verhandelt. Ich habe ihr gesagt, ich wolle die Parteimitgliedschaft nicht mehr, meine Position auch nicht mehr, sondern lieber wieder nach Hause und Bauer sein, damit du das Kind bekommen kannst. Aber die Tante sagt, das kommt nicht in Frage. Backes Fall hat bereits die Provinzregierung auf den Plan gerufen. Der Kreis hat der Tante die Anweisung erteilt, dass alle, die unerlaubt schwanger geworden sind, abtreiben müssen ...« »Das machen wir nicht! Wo leben wir eigentlich?« Schwiegermutter holte eine Waschschüssel mit Schmutzwasser und schüttete sie mir mit Schwung ins Gesicht. »Du, hol deine Tante, diese fickerige, stinkende Möse her! Ich mach sie fertig! Und wenn wir beide dabei draufgehen. Auch gut! Die Neiderin kann nicht leiden, wenn andere Kinder kriegen, weil sie selber keine hat!« Als ich wüst zugerichtet, am ganzen Körper triefend vom Schmutzwasser, abziehen musste, parkte der Lieferwagen der neu formierten Spezialeinheit der Geburtenplaner schon vor dem Haus meiner Schwiegereltern. Alles, was bei uns im Dorf Beine zum Laufen hat, war gekommen. Auch Xiao Oberlippe mit seiner halbseitigen Lähmung und seinem davon schiefen Gesicht kam, auf den Krückstock gestützt, angehumpelt. Aus den Lautsprechern ertönten stark emotionale Parolen: Die Geburtenplanung ist von erstrangiger Bedeutung! Sie ist der Schlüssel für die Zukunft unseres Staates und eröffnet unserem Volk Zukunftschancen ... Um den Aufbau der vier modernen, starken Länder langfristig zu gewährleisten, muss die Bevölkerungszahl begrenzt werden. Die Qualität der Bevölkerung soll steigen ... Die Gesetzesbrecher, die unerlaubt schwanger geworden sind, sollen sich keine falschen Hoffnungen machen und wissen, dass es vergeblich ist, sich durchzuschwindeln ... Denn die Volksmassen haben strahlende Augen und blütenweiße Augäpfel. Ob ihr euch in dunklen Löchern unter der Erde versteckt oder im tiefen Wald verkriecht, hört auf, zu glauben, dass das euch retten könnte. Ihr werdet uns nicht entkommen ... Wer die Mitglieder der Arbeitsgruppe zur Geburtenplanung verunglimpft, sie tätlich angreift, den wird man auf frischer Tat fassen und festnehmen und wie einen Konterrevolutionär aburteilen ... Wer die Geburtenplaner hintergeht und ihre Arbeit durchkreuzt, wird die harten Strafen der Partei und des Staates erdulden ... Meine Tante stand vorn, der Vizetruppführer der Kommunevolkswehr und Kleiner Löwe hatten sich schützend hinter ihr aufgestellt. Das Tor zum Haus meines Schwiegervaters war fest verschlossen. Zu beiden Seiten des Tores hing ein Couplet: So wie Flüsse und Berge seit Jahrtausenden von Anmut sind, soll unser Vaterland zehntausend Jahre blühenden Frühling genießen. Die Tante drehte sich zu der Menge Schaulustiger um: »Ohne Geburtenplanung werden Berge und Flüsse ihre Farbe verlieren und unser Land wird untergehen! Dann werden wir die Jahrtausende alte Anmut vergebens suchen! Und den zehntausend Jahre blühenden Frühling wird man auch vergebens suchen!« Tante betätigte den Türklopfer und brüllte mit ihrer heiser rauchigen Stimme: »Renmei, du hast dich im Kartoffelkeller neben dem Schweinestall verkrochen. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das nicht weiß?! Deine Sache hat schon das Kreisparteiamt auf den Plan gerufen, die Armee ist auch aufmerksam geworden. Du bist ein typisches Negativbeispiel. Du hast jetzt die Wahl: Entweder du kommst brav hervor und folgst mir auf unsere Krankenstation, dort leiten wir operativ die Geburt ein. Und weil wir Rücksicht darauf nehmen, dass bei dir eine fortgeschrittene Schwangerschaft besteht, bieten wir dir sogar an, dich ins Kreiskrankenhaus zu begleiten, damit dort der allerbeste Arzt die Sache für dich erledigt. Oder aber, du bleibst starrköpfig. Dann planieren wir mit dem Trecker die Häuser deiner nächsten Nachbarn und machen danach dein Elternhaus dem Erdboden gleich. Alles, was hier bei euren Nachbarn an Schaden angerichtet wird, muss dein Vater ersetzen. Und auch dann entgehst du der Abtreibung deines Kindes nicht. Mit anderen wäre ich vielleicht nachsichtiger. Bei dir bin ich es nicht! Renmei, hast du verstanden, was ich gesagt habe? Wang Jinshan und Wang Xiuji, habt ihr verstanden, was ich gesagt habe?« Rüde und unhöflich brüllte meine Tante die bloßen Namen meiner Schwiegereltern. Kein Laut, nichts rührte sich hinter dem Hoftor meiner Schwiegereltern. Totenstille herrschte. Dann krähte ein junger Hahn schrill sein markdurchdringendes Kikeriki. Daran schlossen sich die von Weinen unterbrochenen Schmähungen meiner Schwiegermutter an: »Du Unmensch, du der Hölle entstiegene Bestie, herzlose Teufelin ... warte nur, bis du in der Hölle schmorst! Du sollst einen grausamen Tod haben ... Wenn du tot bist, gehörst du auf den Messerberg, in den Kessel mit siedendem Öl, die Haut sollen sie dir abziehen, die Augen herausreißen, dich mit Öl übergießen und auf dem Scheiterhaufen anzünden ...« Tante lachte ihr eisiges Lachen: »Fangt an!«, forderte sie den Vizetruppführer der Volkswehr auf. Der Vizetruppführer führte seine Milizionäre ins Feld, hinter sich her zogen sie ein dickes Stahlseil. Das banden sie zuerst am Stamm des alten Schnurbaums beim rechten Nachbarn fest. Xiao Oberlippe bahnte sich auf seinen Krückstock gestützt einen Weg durch die Menge bis nach vorn. Er grummelte: »... das ist unser Baum.« Er versuchte meine Tante mit seinem Krückstock zu schlagen. Als er ausholte, verlor er das Gleichgewicht. Tante lachte: »Ach, euer Baum? Tut mir leid für dich, dass du dir die falschen Nachbarn ausgesucht hast!« »Ihr seid Straßenräuber! Kriminelle! Ihr seid wohl Baojia-Vorsteher der Kuomintang!« Die Tante parierte: »Du beschimpfst uns als Kriminelle? Du bist schlimmer als die Kuomintang! Selbst die bezeichnet uns nur als kommunistische Banditen!« »Ich werde euch anzeigen! Mein Sohn arbeitet beim Staatsrat.« »Mach doch! Bis ganz nach oben am besten!« Xiao Oberlippe schleuderte den Krückstock fort und schlang beide Arme um den Baum. Er weinte: »Ihr dürft meinen Baum nicht rausreißen. Backe sagt, der Baum liegt auf der Lebensader unserer Familie. Nur wenn es dem Baum gutgeht, geht es unserer Familie gut.« Gugu grinste: »Hat Backe auch ausgerechnet, wann die Polizei dich abholt?« »Nur wenn ihr mich zuerst tötet«, schrie Oberlippe erbärmlich weinend. »Oberlippe! Wo ist dein wilder Schneid aus Zeiten der Kulturrevolution geblieben? Wie du damals ausgeteilt hast! Du warst nicht zimperlich!« Messerscharf war ihr Ton. »Und jetzt sabberst und heulst du wie ein altes Weib!« »Ich weiß schon, du willst dich an mir rächen. Du schiebst politische Gründe nur vor, benutzt deine Position, um es mir heimzuzahlen! Was kann mein Baum dazu, dass die Frau deines Neffen heimlich schwanger ist. Du darfst meinen Baum nicht ausreißen!« »Ich hol dir nicht nur den Baum weg, ich schleif ihn noch über dein Haustor, zieh ihn über dein Ziegeldach. Heul hier nicht nutzlos rum. Geh zu Wang Jinshan, damit der das regelt.« Gugu ließ sich von ihrer Gehilfin ein Megaphon reichen und begann hineinzusprechen: »Nachbarn zur Linken und zur Rechten von Wang Jinshans Haus, ich habe euch was zu sagen! Entsprechend außerordentlicher Regelungen beschließt das Komitee der kommunalen Geburtenplanung, die Häuser der direkten Nachbarn des Wang Jinshan, der sich strafbar macht, weil er eine illegal schwangere Tochter bei sich versteckt hält, Widerstand gegen die Staatsgewalt leistet und die Arbeiter im Komitee rüde beschimpft, einzureißen und zu planieren. Den Verlust, den ihr erleiden werdet, muss Wang euch ersetzen. Wenn ihr nicht möchtet, dass eure Häuser planiert werden, bringt ihn umgehend dazu, seine Tochter herauszugeben.« Die Nachbarn meines Schwiegervaters begannen zu streiten, dass die Fetzen flogen. Tante gab sodann dem Vizetruppführer der Volkswehr den Befehl: »Anweisung ausführen!« Der Motor des Kettentreckers heulte auf, dass die Erde unter unseren Füßen erzitterte. Das Kettenfahrzeug bewegte sich knurrend vorwärts, das Stahlseil wurde stramm gezogen und gab sirrende Laute von sich, während die Zweige und Äste des Schnurbaums zuckten und zitterten. Xiao Oberlippe kam halb kriechend, halb rollend vor das Haupttor meines Schwiegervaters. Wie rasend trommelte er dagegen und brüllte: »Wang Jinshan! Verdammt, ich fick deine Ahnen! Du stürzt deine Nachbarn ins Verderben. Zur Hölle sollst du fahren!« In seiner Not und Angst sprach der sonst Nuschelnde unerwartet deutlich. Das Tor meines Schwiegervaters blieb fest verschlossen, man hörte nur das zum Steinerweichen verzweifelte Weinen meiner Schwiegermutter im Hof. Tante gab dem Vizetruppführer mit der erhobenen Rechten ein Zeichen: »Los!« Der brüllte den Fahrer an: »Umlegen! Mit voller Kraft voraus!« Der Kettentrecker brummte markerschütternd auf, das Stahlseil spannte sich sirrend, wurde straffer und straffer. Es bohrte sich in die Rinde, schnitt hinein, dass Saft austrat. Der Trecker fuhr Stück für Stück weiter vorwärts. Aus dem Auspuff vorn auf dem Kühler pufften blaue, kreisrunde Qualmwolken wie Rauchzeichen empor. Der Fahrer fuhr und schaute dabei zurück. Er war mit einem blitzsauberen blauen Arbeitsanzug bekleidet, um den Hals trug er ein schneeweißes Schweißtuch, schräg auf dem Kopf eine Schiebermütze. Mit den oberen Schneidezähnen biss er sich auf die Unterlippe. Er hatte einen Oberlippenbart. Ein scharfsinniger Jüngling war das! Als der riesige Baum in die Schräge kippte, entfuhren ihm berstende, leidvolle Geräusche. Das Drahtseil, das sich tief in den Stamm eingegraben hatte, hatte ihm ein Stück Borke abgezogen, so dass man die weißen Holzfasern sehen konnte. »Verdammt, fick deine Mutter, Wang Jinshan! Komm da raus!« Xiao Oberlippe trommelte gegen das Tor, stieß mit den Knien und rammte den Kopf dagegen. Aber im Haus meines Schwiegervaters blieb es still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Sogar das Weinen der Schwiegermutter war verstummt. Der große Baum neigte sich immer mehr, rauschend senkte sich die üppig belaubte Krone. Xiao Oberlippe kam zu ihm gestolpert, stand an seiner Seite. »Mein Baum, unser Glücksbaum!« Die Wurzel des Baums bewegte sich, die Erde um ihn herum riss auf. Xiao Oberlippe rang mit sich, quälte sich wieder ans Tor meines Schwiegervaters: »Du Hurensohn, Wang Jinshan! Wir sind seit dreißig, vierzig Jahren gute Nachbarn, um ein Haar und wir wären verschwägert, und jetzt löschst du meine Familie aus ...« Die riesige Wurzel ragte aus der Erde, sie war von hellbrauner Farbe ... eine Riesenpython, die unter Ächzen aus der Erde gezogen wurde. Nebenwurzeln rissen, brachen, immer länger, immer länger ... immer mehr Riesenpythonschlangen, die so ans Tageslicht kamen. Als die Wurzel draußen war, fiel die Baumkrone wie ein Besen zu Boden. Die kleinen Zweige zerbrachen und wirbelten Sand vom Boden auf. Die herumstehenden Gaffer schnupperten, schnaubten, als sie den Duft der frischen Erde und des Baumsaftes rochen ... »Fick deine Mutter, Wang Jinshan, ich ramm jetzt meinen Schädel in deine Tür, bis ich tot bin, verdammt noch mal!« Man hörte nichts. Aber nicht, weil nichts zu hören war, sondern weil der ohrenbetäubende Motorenlärm des Kettentreckers alle anderen Geräusche zudeckte. Der Trecker hatte den großen Schnurbaum nun an die fünfzig Meter weit von Xiao Oberlippes Haus weggezogen. Wo er gestanden hatte, blieb ein Riesenloch im Boden, mit einem Wirrwarr unzähliger abgerissener Baumwurzeln. Eine Kinderschar suchte zwischen den Wurzeln nach Seidenraupenlarven. Gugus Stimme dröhnte durch das Megaphon: »Als nächstes reißen wir Oberlippes Haustor nieder.« Ein paar Milizionäre schafften Xiao Oberlippe vom Tor weg, zupften ihn am Philtrum und rieben seine Brust, damit er wieder zu Sinnen kam. Seelenruhig fuhr die Tante fort: »Passt auf, ihr Nachbarn von Wang Jinshan! Wenn ihr wieder nach Haus kommt, packt eure Wertsachen zusammen. Nach Oberlippes Haus kommen eure Häuser an die Reihe. Ich sehe ja ein, dass es euch nicht einleuchtet. Aber wenn wir das eigentliche Ziel vor Augen behalten, können wir dieses Vorgehen sinnfällig nachvollziehen. Was ist unser großes Ziel? Die Geburtenplanung! Den Bevölkerungszuwachs beschränken, das ist das Ziel. Ich fürchte mich nicht vor der Rolle des Bösewichts. Irgendwer muss es immer sein. Ich weiß, dass ihr euch wünscht, dass ich zur Hölle fahre, wenn ich einmal tot bin. Kommunisten glauben nicht an so einen Kram! Konsequente Atheisten kennen keine Furcht! Wenn es nun doch eine Hölle gibt? Na, wenn schon! Ich fürchte mich davor nicht! Ich fahre nicht zur Hölle! Warum sollte ich? Nehmt das Stahlseil ab und legt es um den Torbogen!« Die Nachbarn meines Schwiegervaters brausten zu seinem Haustor wie ein wild gewordener Bienenschwarm. Sie bearbeiteten es mit Fäusten und Fußtritten, schmissen Ziegelsteine über die Mauern in seinen Hof. Manche kamen auch und schleiften Maisstrohgarben hinter sich her, die sie unter seiner Traufe aufstellten, wobei sie mit lauter Stimme schrien: »Wang Jinshan, wenn du nicht rauskommst, zünden wir dein Haus an!« Das Tor öffnete sich schließlich. Aber es kam nicht mein Schwiegervater heraus, auch nicht meine Schwiegermutter. Meine Frau erschien im Tor. Mit wirren Haaren, am ganzen Leib dreckverkrustet, an einem Fuß einen Schuh, den anderen barfuß, war sie gerade aus dem Kartoffelkeller herausgekrabbelt. »Gugu, wenn ich jetzt nachgebe, lässt du sie dann in Ruhe?«, stammelte meine Frau und kam auf meine Tante zu. Die lachte erfreut: »Wusste ich doch, dass die Frau meines Neffen den tiefen Sinn der großen gerechten Sache begreift!« »Tante, ich bewundere dich. Wärst du ein Mann, würdest du als ein Feldherr ganze Armeen befehligen!« »Du gleichst mir aber«, erwiderte Gugu. »Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie gnadenlos und resolut du damals die Verlobung und den Ehevertrag mit der Familie Xiao wieder aufgelöst hast. Daran konnte ich erkennen, dass du eine echte Powerfrau bist.« »Renmei, ich habe dir deine Würde genommen«, sagte ich. »Renner, zeig mir mal deine Hand.« Ich hielt sie ihr vors Gesicht, ohne zu ahnen, was sie vorhatte. Sie packte mein Handgelenk und biss mit aller Gewalt hinein. Ich zog meine Hand nicht zurück. Ihre Zähne hatten zwei Reihen tiefer Spuren hinterlassen, aus denen dunkelrotes Blut hervorquoll. Sie spuckte angewidert aus und sagte grollend: »Du lässt mich bluten, ich dich auch.« Ich hielt ihr mein zweites Handgelenk hin. Aber sie wehrte ab: »Ich beiß da nicht hinein. Der strenge Geschmack ekelt mich an!« Wie ein altes Weib fing nun der aus seiner Bewusstlosigkeit wieder erwachte Xiao Oberlippe lauthals zu zetern an, während er gleichzeitig den Boden mit den Fäusten bearbeitete: »Renner und Renmei! Ihr müsst mir meinen Baum ersetzen! Meinen Baum sollt ihr mir ersetzen!« »Pfui Teufel! Einen Furz ersetze ich dir!«, entgegnete meine Frau ihm: »Dein Sohn hat mir die Titten begrapscht, und geküsst hat er mich auch! Der Baum muss als Schadenersatz für meine verlorene Jugend herhalten!« »Hey! Hey! Hey!« In einem Grüppchen Halbstarker tönte es laut, sie hauten sich krachend auf die Schenkel, weil meine Frau scharf wie ein wilder Feger gesprochen hatte. »Renmei!«, rief ich atemlos, aufgebracht. »Was ärgert dich?« Meine Frau stieg in den Fond des Wagens meiner Tante und streckte den Kopf zum Wagenfenster heraus: »War doch nur durch den Pullover.« 10 Yang, die Vorsitzende des Komitees zur Geburtenplanung in unserer Einheit, war aus Peking bei uns eingetroffen. Sie war die Tochter eines hohen, leitenden Militärs und hatte den Rang einer Generalmajorin. Ihr Name war mir ein Begriff, aber jetzt sollte ich ihr zum ersten Mal persönlich begegnen. Die Führungskader unserer Kommune richteten ein Festmahl für sie aus. Sie schlug vor, mich und Renmei zum Essen dazu zu bitten. Gugu suchte für diesen Anlass ein Paar ihrer Lederhalbschuhe heraus, die Renmei tragen sollte. Das Festmahl fand in einem vornehmen Separee in der Mensa unserer Kommuneverwaltung statt. »Renner, ich gehe besser nicht mit. Ich habe Angst, einer so hochrangigen Beamtin zu begegnen«, erklärte Renmei und fügte hinzu: »Außerdem ist es nichts Rühmenswertes, weshalb sie uns dabei haben möchte. Da können wir richtig Ärger bekommen, wenn sie alles wissen will.« »Wozu die Angst? Nun komm schon, der Beamtengrad kann noch so hoch sein, die kochen auch nur mit Wasser«, sagte Gugu lachend zu Renmei. Als wir zu Tisch traten, wollte die Vorsitzende Yang zwischen mir und Renmei sitzen. Sie drückte Renmei herzlich die Hand, während sie sprach: »Kleine Genossin Wang, ich möchte dir im Namen der Truppe unseren Dank aussprechen!« Renmei war bewegt: »Chefin, ich habe einen Fehler begangen, ich mache Ihnen nur Umstände.« Ich hatte solche Angst gehabt, dass Renmei etwas Ungehöriges sagen könnte. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sie so höflich und zurückhaltend antwortete. Gugu erklärte: »Meine Schwiegertochter, die ich durch meinen Neffen habe, hat einen hohen Bewusstseinsstand, denn sie schätzt es nicht, schwanger zu sein, und sie achtet ihre Schwangerschaft nicht. Aus eigenem Antrieb kam sie zu mir, um das Kind abtreiben zu lassen. Aber weil ihre Gesundheit es nicht zuließ, hat es sich so lange verzögert.« »Wan Herz, ich muss schon sagen! Jetzt muss ich dich kritisieren! Dein Neffe und die anderen Genossen verhalten sich völlig gedankenlos und überlassen fahrlässig alles dem Zufall«, erwiderte die Generalmajorin. Ich nickte nur immer zustimmend mit dem Kopf. Unser Kommuneparteisekretär erhob sich mit dem gefüllten Glas in der Hand: »Wir danken der Vorsitzenden Yang, dass sie zwischen ihren wichtigen Geschäften Zeit gefunden hat, zu uns zu kommen, um persönlich eine Prüfung vorzunehmen und uns Anweisungen zu erteilen.« »Ich kenne eure Gegend«, antwortete sie, »denn mein Vater kämpfte hier als Partisan. Während der Schlacht am Kiaolai-Fluss schlug er sein Kommandohauptquartier in eurem Dorf auf. Deswegen ist mir hier alles sehr vertraut.« »Meine Freude ist unbeschreiblich, Vorsitzende Yang, bitte richten Sie Ihrem alten Herrn Vater aus, dass wir uns nichts mehr wünschen, als ihn auf seiner nächsten Inspektionsreise hier bei uns empfangen zu dürfen.« Meine Tante erhob nun ihr Glas: »Vorsitzende Yang, ich trinke auf Sie!« Unser Kommuneparteisekretär fügte an: »Leiterin Wan ist die Tochter eines Märtyrers und Helden des Volkes. Schon in jungen Jahren beteiligte sie sich mit ihrem Vater an der Revolution.« Meine Tante ergänzte: »Vorsitzende Yang, es ist wohl Schicksal, dass wir beide uns heute treffen! Mein Vater, der leitende Chefarzt des Untergrund-Krankenhauses der Achten Route-Armee, war ein Schüler von Henry Norman Bethune und hat Ihren Herrn Vater, den Vizebefehlshaber Yang, einst wegen einer Beinverletzung operiert.« »Ach wirklich?« Die Vorsitzende Yang wurde aufgeregt. »Mein alter Herr hat vor kurzem begonnen, seine Memoiren zu schreiben. Er spricht darin immer wieder von einem Arzt namens Wan Liufu.« »Das war mein Vater«, sagte meine Tante. »Nach seinem Opfertod lebte ich mit meiner Mutter zusammen zwei Jahre lang in den befreiten Gebieten im Osten der Halbinsel Kiautschou. Dort hatte ich eine Spielkameradin, ein Mädchen, das Yang Herz hieß.« Die Vorsitzende Yang hielt die Hand meiner Tante umschlossen, vor Ergriffenheit schossen ihr heiße Tränen in die Augen: »Wan Herz! Bist du wirklich Wan Herz?« »Die zwei roten Herzen Wan Herz und Yang Herz ... das hat Kommandant Zhang gesagt, nicht wahr?«, fragte meine Tante. »Ja, das hat er gesagt.« Bei diesen Worten wischte sich die Vorsitzende Yang die Tränen aus den Augen. »Ich träume oft von dir. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ich dich hier wiedersehe.« Gugu sagte: »Ich hatte gleich so ein Gefühl, du kamst mir irgendwie bekannt vor!« Unser Kommuneparteisekretär erhob das Glas: »Kommt, lasst uns auf die Vorsitzenden Yang und Wan gemeinsam ein Glas Schnaps leeren!« Gugu gab mir mit den Augen einen Wink, den ich sofort richtig verstand. Ich führte Renmei an der Hand zur Vorsitzenden Yang und sprach: »Vorsitzende Yang, ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihnen wegen dieser Sache Umstände mache und Sie deswegen extra hierher zu uns die weite Reise machen.« »Entschuldigen Sie, Vorsitzende Yang«, ergänzte Renmei mit einer Verbeugung. »Renner hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Es ist alles mein Fehler gewesen. Ich habe in das Kondom mit einer Nadel ein Loch gestochen, ich habe ihn getäuscht ...« Die Vorsitzende horchte auf und musste dann laut lachen. Ich wurde puterrot, mein Gesicht brannte wie glühende Kohle, dabei stieß ich Renmei in die Seite: »Mensch, red keinen Unsinn!« Die Vorsitzende Yang nahm die Hand meiner Frau in die ihre und musterte Renmei von unten bis oben: »Kleine Genossin Wang, ich mag an dir, dass du so geradeheraus bist! Diesen Charakterzug hat deine Tante auch.« »Ich kann mich doch nicht mit meiner Tante vergleichen! Meine Tante ist für die kommunistische Partei wie ihr abgerichteter, treuer Hund, der sofort in die Richtung beißt, in die sein Herr schwenkt.« »Nun rede keinen Unsinn!« »Mach ich doch gar nicht! Das ist doch ganz offensichtlich! Tante, selbst wenn die dich heißen, den Messerberg im Fegefeuer zu besteigen, würdest du es ohne Zögern tun. Genauso wie du nicht zaudern würdest, für sie in das unterweltliche Feuermeer zu springen.« »Jetzt reicht’s aber! Genug der Worte über mich! Ich habe bisher noch lange nicht genug erreicht, ich muss mich weiter anstrengen.« »Kleine Genossin Wang«, wandte sich die Vorsitzende Yang wieder Renmei zu: »Wer von uns Frauen mag schon keine Kinder? Eins, zwei und auch drei, ja zehn Kinder zu bekommen, finden wir nicht zu viel. Die Partei und unser Staat lieben die Kinder. Schau dir den Vorsitzenden Mao und Premierminister Zhou Enlai an. Sie lächeln, sobald sie Kinder erblicken, übers ganze Gesicht. Ihre Kinderliebe kommt von Herzen. Warum machen wir denn immer nur Revolution? Am Ende doch deshalb, weil wir unseren Kindern ein glückliches Leben ermöglichen wollen. Unsere Kinder sind die Zukunft unseres Staates, sie sind der wahre Schatz unserer Republik! Aber wir haben Probleme bekommen. Wenn wir die Geburtenplanung nicht durchsetzen, werden unsere Kinder sehr wahrscheinlich nicht genug zu essen haben, nichts anzuziehen, keine Schule, keine Universität besuchen können. Deswegen muss die Geburtenplanung mit ihrer Unmenschlichkeit im Kleinen dazu beitragen, dass die Menschlichkeit im Großen entstehen kann. Du erträgst Schmerzen und Leid im Kleinen, bringst ein kleines Opfer, und das ist dein Beitrag und Geschenk an dein Vaterland!« »Vorsitzende Yang, ich werde auf Sie hören«, erwiderte Renmei, »noch heute Abend lasse ich es machen.« Sie wandte sich Gugu zu: »Tante, nimm mir auch gleich die Gebärmutter mit heraus. Dann ist es gut.« Die Vorsitzende horchte auf und musste lachen. Alle Anwesenden an der Tafel lachten mit. Die Vorsitzende Yang zeigte mit dem Finger auf mich: »Renner, welch entzückende Frau du hast! Das ist ja ganz erfrischend! Aber die Gebärmutter, die können wir nicht entfernen. Die müssen wir gut beschützen! Da bist du doch meiner Meinung, Leiterin Wan, nicht wahr?« »Eine Powerfrau ist meine Schwiegertochter, die ich da von meinem Neffen habe! Wenn sie ihre OP überstanden und sich wieder erholt hat, werde ich sie in unsere Arbeitsgruppe der Geburtenplanung versetzen! Parteisekretär Wu, begrüße sie vor ihrer Ernennung schon mal! Sie wird mit uns zusammenarbeiten«, verkündete meine Tante. »Aber natürlich!«, erwiderte der Kommuneparteisekretär. »Nur die Begabtesten versetzen wir in die Abteilung der Geburtenplaner! Wenn Genossin Wang Renmei mit ihrem persönlichen Beispiel die Leute überzeugt, wird sie ungeheuer viel bewegen.« »Renner«, fragte mich die Vorsitzende Yang, »wie ist deine Position zurzeit?« »Ich bekleide den Rang eines leitenden Offiziers und bin in der Kompanie verantwortlich für alles Gedruckte, für Stil und äußere Form.« »Wie lange leitest du die Kompanie schon?« »Seit dreieinhalb Jahren.« »Dann kannst du doch in Kürze zum Vize-Bataillonskommandeur ernannt werden«, meinte sie, »und wenn du das bist, folgt dir die kleine Genossin Wang nach Peking.« »Kann auch meine Tochter mit nach Peking ziehen?«, fragte Renmei mit vorsichtigem Stimmchen. »Aber selbstverständlich!«, antwortete die Vorsitzende Yang. »Ich habe aber gehört, dass es schwer ist, dem Mann nach Peking zu folgen, und dass man wegen einer Quote lange warten muss ...« »Kümmere du dich anständig um deine Arbeit, wenn du wieder nach Haus kommst. Lass mich nur machen, ich werde das schon besorgen.« »Das ist ja ganz toll! Wie wunderbar! Dann kann meine Tochter in Peking die Schule besuchen!« Renmei war an Händen und Füßen ganz zappelig geworden. »Meine Tochter wird Pekingerin!« Die Vorsitzende Yang musterte Renmei wieder und wies meine Tante an: »Bereite die Operation gründlich vor! Alles muss sicher und ohne Komplikationen verlaufen.« »Keine Sorge!«, sagte Gugu nur. 11 Bevor es in den Operationssaal ging, sah Renmei sich mein Handgelenk an. Schuldbewusst sagte sie: »Renner ich hätte dich wirklich nicht beißen dürfen ...« »Nicht so schlimm!« »Tut es noch weh?« »Nö, als hätte mich eine Mücke gestochen, mehr nicht.« »Du kannst mich zurückbeißen!« »Geht’s noch? Sei nicht kindisch!« »Renner«, sie ergriff meine Hand, »was ist mit Yanyan?« »Die ist zu Haus. Oma und Opa passen auf sie auf.« »Hat sie auch gegessen?« »Ja. Ich habe zwei Tüten Milchpulver besorgt und zwei große Pakete Butterkekse. Lotuswurzelspeise und Rousong-Fleisch habe ich auch gekauft. Mach dir keine Sorgen.« »Yanyan sieht mehr dir ähnlich. Sie hat Schlitzaugen, meine doppelte Lidfalte hat sie nicht geerbt.« »Stimmt. Wäre schöner, wenn sie dir ähneln würde, du siehst viel schöner aus als ich.« »Die Leute sagen immer, die Mädchen ähneln den Vätern und die Jungen ähneln den Müttern.« »Kann schon sein.« »Diesmal ist es ein Junge. Ich weiß es genau. Ungelogen ...« »Die heutigen Zeiten sind anders. Es ist gleichgültig, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« Ich sagte es absichtlich so leicht dahin. »Wenn ihr beide mir in zwei Jahren nach Peking folgt, suchen wir für unsere Tochter die allerbeste Schule aus. Wir werden sie gut fördern, damit sie sich zu einer herausragenden Persönlichkeit entwickeln kann. Eine gute Tochter ist viel besser als ein Sohn, der nichts allein zuwege bringt.« »Renner ...« »Was ist denn noch?« »Als Xiao Unterlippe mich angefasst hat, waren wirklich die Kleider dazwischen!« »Du bist mir ja eine«, lachte ich, »das hatte ich doch längst vergessen.« »Die dicke gefütterte Steppjacke war dazwischen. Darunter hatte ich einen Pullover an, unter dem Pullover ein Hemd und darunter ...« »Den Büstenhalter, stimmt’s?« »An jenem Tag trug ich ihn nicht, weil ich ihn gewaschen hatte, ich trug ein Unterhemd unter dem Hemd.« »Ist ja gut, ich will den Unsinn gar nicht hören.« »Dass er mich noch geküsst hat, war, weil es ihn plötzlich überkam. So sehr, dass er nicht mehr an sich halten konnte.« »Ich will das nicht mehr hören, mir reicht’s. Ein Kuss, und wenn schon. Hatte sich wohl verliebt.« »Ich habe mich nicht einfach so von ihm küssen lassen. Ich habe ihn dafür sofort in den Unterleib getreten. So dass er beide Hände draufhielt und in die Knie ging.« »Beim Himmel, Unterlippe, der Pechvogel«, lachte ich. »Und mich? Warum hast du mich nicht getreten, als ich dich geküsst habe?« »Er stinkt aus dem Mund! Anders als du, dein Mund schmeckt süß.« »Das erklärt, dass du mir von Geburt an als meine Frau bestimmt bist.« »Renner, ich bin dir wirklich sehr dankbar.« »Dankbar? Wofür?« »Ich weiß auch nicht.« »Jetzt hört ihr mal mit dem Geturtel auf. Später könnt ihr weiter reden.« Tante streckte den Kopf aus dem OP und winkte Renmei zu: »Dann komm mal rein.« »Renner!« Sie ergriff meine Hand. »Hab keine Angst«, sagte ich, »die Tante sagt doch, es ist nur ein kleiner Eingriff.« »Wenn wir wieder zu Hause sind, musst du mir ein Suppenhuhn kochen.« »Mache ich, ich koche dir zwei!« Bevor Renmei im OP verschwand, drehte sie sich nach mir um. Obenherum trug sie meine graue, kaputte Jacke. Ein Knopf war abgerissen. Man sah an der Stelle das Fadenende herabhängen. Untenherum trug sie eine blaue Hose. Die Hosenbeine waren voller Matsch, und an den Füßen trug sie Tantes alte, braune Lederschuhe. Ich musste schlucken, in der Nase hatte ich dieses stechende Gefühl, das man hat, wenn man weinen muss. Ich fühlte mich so leer. Ich saß auf der dreckigen, staubigen Holzbank auf dem Flur und hörte aus dem OP das metallene Klappern der Instrumente. Ich stellte mir die Instrumente vor und hatte sie so lebendig vor Augen, dass ich spürte, wie mir der helle Lichtstrahl des Metalls in die Augen stach und ich ihre eiskalte Temperatur auf der Haut fühlte. Aus dem Hinterhof der Krankenstation hörte man fröhliches Kinderlachen. Ich erhob mich und sah vorm Fenster einen drei, vier Jahre alten kleinen Jungen zwei zu Luftballons aufgeblasene Kondome hochhalten. Er rannte vorneweg, zwei Mädchen im selben Alter rannten ihm hinterher. Tante kam plötzlich aus dem OP gelaufen und rief mir in heller Aufregung zu: »Welche Blutgruppe hast du?« »Blutgruppe A.« »Und sie?« »Wie? Wen meinst du?« »Na wen wohl?« Sie grollte. »Deine Frau!« »Wahrscheinlich Null, aber vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht ...« »Verdammte Scheiße!« »Was ist mit ihr?« Ich sah das hellrote Blut an Tantes Arztkittel. Mein Hirn war wie leergefegt. Tante verschwand wieder im OP und schloss die Tür. Ich presste mein Gesicht auf den Türspalt, konnte aber nichts erkennen. Ich hörte auch Renmeis Stimme nicht. Nur das Schreien von Shizi, die das Kreiskrankenhaus anrief und den Rettungswagen bestellte. Ich stieß mit voller Kraft gegen die Tür, bis sie sich öffnete. Ich sah Renmei, sah Tante mit einem hochgekrempelten Ärmel und Shizi, die ihr mit einer Riesenspritze Blut aus diesem Arm abnahm, ich sah Renmeis Gesicht, weiß wie ein Blatt Papier ... »Renmei! Renmei, halte durch!« Eine Schwester schob mich hinaus. Ich wehrte mich: »Lass mich rein. Du verdammte Scheißkuh, lass mich rein!« Ein paar Männer in Arztkitteln kamen den Flur entlang gerannt. Ein Arzt mittleren Alters, streng nach Zigaretten und Desinfektionsmittel riechend, drückte mich wieder auf die Holzbank. Er reichte mir eine Zigarette, gab mir Feuer. »Nur keine Panik! Der Rettungswagen des Krankenhauses kommt sofort. Deine Tante hat ihr mehr als einen halben Liter von ihrem eigenen Blut übertragen – es sollte keine größeren Komplikationen geben.« Der Rettungswagen kam mit heulendem Martinshorn. Wie tausend Schlangen bohrte sich die Sirene in meinen Körper. Ein Mann im Arztkittel mit Arztkoffer. Ein Mann im Arztkittel mit Brille und Stethoskop. Noch mehr Männer in weißen Kitteln. Frauen in weißen Kitteln. Männer mit einer zusammenklappbaren Tragbahre. Männer, die im OP verschwanden. Andere, die auf dem Flur stehen blieben. Sie bewegten sich schnell und behende, doch ihre Gesichter zeigten keinerlei Regung. Keiner achtete auf mich. Nicht mal ein flüchtiger Blick streifte mich. Ich fühlte einen strengen Blutgeschmack im Hals. Die Männer im Arztkittel kamen gemächlich aus dem OP, einer nach dem anderen stiegen sie wieder in den Rettungswagen. Zuletzt packten sie auch die Tragbahre wieder ein. Ich drückte die Tür zum OP auf und sah ein weißes Laken, das Körper und Gesicht meiner Frau bedeckte. Meine Tante saß, am ganzen Leib voll mit Blut, deprimiert auf einem Klappstuhl. Kleiner Löwe und die anderen standen da wie die Salzsäulen. Meine Ohren hörten nichts mehr. Stille. Kein Ton. Dann waren da zwei Bienen, die laut zu summen begannen. »Tante«, sagte ich, »du hast doch behauptet, es sei alles in Ordnung.« Mit zusammengekniffenen Augen und krauser Nase hob sie den Kopf. Was für ein grässliches, grauenvolles Gesicht! Abrupt nieste sie geräuschvoll. 12 »Schwägerin, Bruder.« Tante stand im Hof und sprach mit steifer Stimme: »Ich komme, um meine Schuld einzugestehen und bitte um Bestrafung.« Renmeis Urne hatte man mitten im Raum auf einem eckigen Tisch aufgestellt. Vor der Urne stand eine weiße, mit Weizenkörnern gefüllte Schale. Im Weizen steckten drei Räucherstäbchen, über denen in Spiralen duftender Qualm aufstieg. Ich trug Uniform, an die Schulter hatte ich ein Stück schwarze Gaze geheftet. Ich saß mit meiner Tochter auf dem Arm neben dem Tisch. Sie trug Trauerkleidung ersten Grades und hatte einen weißen, aus Rupfen gefertigten Kapuzenumhang um. Unentwegt hob sie ihr Gesichtchen und fragte mich: »Papa, was ist denn da in dem Krug drin?« Ich fand keine Worte, um ihr zu antworten, die Tränen rannen mir nur immerfort herab und flossen über meine Bartstoppeln. »Papa, wo ist meine Mama? Wo ist meine Mama hin?« »Deine Mama ist nach Peking gefahren. In ein paar Tagen fahren wir auch nach Peking.« »Kommen Opa und Oma auch mit?« »Ja, alle fahren hin.« Vater und Mutter waren im Hof und sägten. Sie sägten ein Weidenbrett. Das Brett war an einer langen Bank festgebunden. Vater stand und Mutter saß, während sie auf und ab und hin und her sägten, ritsch, ratsch, ritsch, ratsch. Das Sägemehl sah man in der Sonne in alle Richtungen wegfliegen. Ich wusste, dass sie Weidenholz für Renmeis Sarg sägten. Obwohl in unserer Gegend bereits Feuerbestattungen vorgeschrieben waren, gab es keinen Ort, den man uns für die Aufbewahrung der Urne zugewiesen hätte. Also beerdigten die Leute ihre Urnen, wenn sie sie in Empfang genommen hatten, und türmten ein Grab darüber auf. Familien, die Geld hatten, ließen einen Sarg zimmern, in den sie die Asche einfüllten. Die Urne zertrümmerten sie. Familien, die arm waren, bestatteten die Urne. Ich sah meine Tante mit hängendem Kopf dastehen. Ich sah die von Trauer gezeichneten Gesichter meiner Eltern, sah sie mechanisch sägen. Ich sah die Leute, die mit meiner Tante gekommen waren, den Kommuneparteisekretär, Kleiner Löwe, drei weitere Kommunekader, die ein paar Pakete mit bunten Naschereien neben dem Brunnen abstellten. Neben den Paketen mit Naschwerk gab es noch ein triefendes Bündel, das einen strengen, salzigen Geruch verströmte. Ich wusste, es war ein Paket Klippfisch. Niemand hatte mit dem gerechnet, was geschehen war. Die Spezialisten vom Kreiskrankenhaus waren bereits dagewesen und hatten ein Sachverständigengutachten erstellt, aus dem hervorging, dass Leiterin Wan in allen Punkten vorschriftsmäßig vorgegangen sei. Dass auch nichts unterlassen worden sei. Dass auch alle Rettungsmaßnahmen richtig erfolgt seien. Dass Leiterin Wan noch dazu mehr als einen halben Liter ihres eigenen Blutes gespendet und Renmei übertragen habe. Das Geschehene bedauerten sie sehr. Es sei sehr schmerzlich ... »Hast du keine Augen im Kopf?«, platzte es wütend aus meinem Vater heraus. »Da habe ich einen Strich gezogen. Den siehst du doch wohl!«, fuhr er meine Mutter an. »Jetzt ist der Sägeschnitt fast zwei Zentimeter drüber. Das siehst du doch, du Transuse!« Mutter kam vom Boden hoch und verschwand laut weinend im Haus. Vater schmiss die Säge hin und beugte sich über den Wasserbottich, um sich ein paar Kellen Wasser zu schöpfen, die er sich über den Nacken goss. Das kühle Wasser plätscherte über sein Kinn, über seinen Hals, über die Brust und mischte sich mit dem Sägemehl. Dann trank er und schnappte sich die Säge, um alleine weiterzusägen. Der Kommuneparteisekretär und seine Kader verschwanden im Haus, um vor der Urne Renmeis drei tiefe Verbeugungen zu machen. Jeder der drei Kader legte einen braunen Briefumschlag auf die Anrichte neben dem Herd. Der Parteisekretär sprach zu meinem Vater: »Genosse Wan Fuß, wir wissen wohl, dass kein Geld der Welt diesen furchtbaren Verlust mildern kann, den deine Familie erlitten hat. Diese fünftausend Yuan sollen nur ausdrücken, dass wir Anteil an eurem Schmerz nehmen.« Ein anderer Kader, auch so ein Parteisekretär, sagte: »Vom Staat kommen dreitausend, die übrigen zweitausend haben die Kommuneleiter selber dazugelegt.« »Nehmt das Scheißgeld weg«, sagte ich, »wir brauchen das nicht.« »Wir können dein Leid nachvollziehen«, sagte der Parteisekretär bitter. »Was einmal gestorben ist, wird nicht wieder lebendig! Und die Lebenden sind auch noch zur Revolution in Permanenz verpflichtet. Vorsitzende Yang hat aus Peking angerufen. Sie hat ihrer Trauer für die kleine Wang Ausdruck verliehen, und sie bittet mich, den Hinterbliebenen der Verstorbenen ihr Beileid auszusprechen. Und sie hat dir deinen Urlaub um zwei Wochen verlängert, damit du das Begräbnis abwickeln und Vorkehrungen zu Hause treffen kannst. Erst dann kommst du zurück zur Truppe«, so sprach der Parteisekretär zu mir. Ich sagte nur: »Danke, ihr könnt gehen.« Er und seine Kader machten vor der Urne noch einen Diener und verließen gebückt das Haus. Ich sah ihren Beinen zu, sah ihren fetten oder spargeldürren Ärschen zu, und mir kamen wieder die Tränen. Durch die Gasse schallten das erbärmlich laute Weinen einer Frau und das grimmige Schimpfen eines Mannes. Ich wusste, meine Schwiegereltern waren auf dem Weg zu mir. Mein Schwiegervater kam mit einer Mistgabel in der Hand, wie wir sie zum Heuwenden auf der Tenne verwenden, und brüllte wie besessen: »Ihr Hurensöhne, Bastarde, ersetzt mir meine Tochter!« Die Schwiegermutter schwenkte mit den Armen und trippelte auf ihren kleinen Lilienfüßen, als wolle sie sich auf meine Tante stürzen. Aber sie stolperte und fiel. Sie blieb sitzen und trommelte mit den Händen auf den Boden: »Meine liebe, arme, arme Tochter! Wie konntest du so von uns gehen! Du stirbst und lässt uns allein zurück!« Der Parteisekretär kam auf sie zu: »Ehrwürdige Wangs, wir wollten uns gerade auf den Weg zu euch machen. Dieses Unglück, das da geschehen ist! Wir sind bestürzt und unsäglich traurig ...« Schwiegervater stieß die Mistgabel mit dem Stiel in den Boden und brüllte wie rasend: »Zeig dich, du Scheißkerl!« Ich ging mit meiner Tochter auf dem Arm zu ihm, sie presste sich an mich und hielt meinen Hals mit beiden Ärmchen fest umschlungen. Ihren Kopf versteckte sie in meiner Halsbeuge. »Vater«, ich stand vor ihm, »Vater, schlagt mich.« Mein Schwiegervater riss die Gabel in die Höhe und holte aus. Aber seine Hand stockte. Ich sah Tränen von seinem weißen Bart tropfen. Die Knie knickten ihm ein, er kniete am Boden. »Einen gesunden, blühend im Leben stehenden Menschen ...«, er schleuderte die Mistgabel weg und weinte laut schluchzend am Boden kniend, »... einen lebendigen, wunderbar lebendigen, gesunden Menschen bringt ihr zu Tode, ihr Vermaledeiten! Ihr schamlosen Sünder! Fürchtet ihr Pack die Strafe der Vorsehung nicht?« Meine Tante ging zu den beiden hin und stellte sich mit hängendem Kopf zwischen meinem Schwiegervater und meiner Schwiegermutter auf: »Schwager und Schwägerin, es ist nicht Renners Schuld. Mich müsst ihr beschuldigen.« Sie hob den Kopf und sprach weiter: »Beschuldigt mich, dass ich nicht geprüft habe, ob die Empfängnis verhütenden Spiralen den Frauen im gebärfähigen Alter auch richtig eingepasst wurden und an Ort und Stelle blieben. Schiebt mir die Schuld dafür zu, dass ich nicht daran gedacht habe, dass ein Hundesohn wie Yuan Backe sich die Technik aneignen könnte, den Frauen die Spiralen zu entfernen. Beschuldigt mich, dass ich Renmei nicht ins Kreiskrankenhaus geschickt habe, damit die Abtreibung dort gemacht wurde. Jetzt warte ich darauf, wie mein Vorgesetzter die Sache abwickelt.« Beim letzten Satz blickte sie zum Parteisekretär hinüber. »Fazit ist, so haben wir bereits festgestellt«, ergriff der das Wort, »dass Leiterin Wan keinen Fehler begangen hat. Ehrwürdige Wangs, wir werden eure Schadensersatzansprüche prüfen, aber so viel steht fest: Es ist ein unvorhergesehener Fehler aufgetreten, der auf den besonderen körperlichen Zustand eurer Tochter zurückzuführen ist. Auch wenn sie im Kreiskrankenhaus operiert worden wäre, es wäre auf das Gleiche hinausgelaufen. Und ich möchte an dieser Stelle noch einmal deutlich machen«, er erhob die Stimme vor den Anwesenden und den nun zahlreich aus der Gasse herbeiströmenden Dörflern, »die Geburtenplanung gehört zur grundlegenden Staatspolitik. Sie wird keinesfalls wegen eines unvorhergesehenen Unglücksfalls aufgegeben. Alle illegal schwangeren Frauen müssen sich aus eigenem Antrieb hier melden und eine Abtreibung vornehmen lassen. Wer die Ziele der Politik der Geburtenplanung durchkreuzt, wird schwerste Strafen zu erdulden haben.« »Dich bring ich auch um«, kreischte meine Schwiegermutter hysterisch und zog aus ihrem Hemdausschnitt eine Schere, die sie meiner Tante in den Schenkel rammte. Meine Tante drückte sofort ihre Hand auf die Wunde, aber das Blut spritzte zwischen ihren Fingern hindurch. Die wenigen Kommunekader, die zur Begleitung mitgekommen waren, stürzten sich sofort auf meine Schwiegermutter, rissen ihr die Schere aus der Hand und drückten sie brutal auf den Boden. Kleiner Löwe kniete bereits neben meiner Tante und legte ihr mit dem Verbandszeug aus dem Arztkoffer einen strammen Druckverband an. Der Parteisekretär rief: »Ruft schnell einen Unfallwagen!« »Nicht nötig!«, entgegnete Tante, »Schwägerin! Ich habe deiner Tochter mehr als einen halben Liter Blut gespendet. Jetzt hast du mir die Schere ins Bein gerammt. Wenn wir Blut mit Blut begleichen, sind wir jetzt quitt.« Bei jeder Bewegung quoll das Blut aus ihrem Verband. Wutentbrannt brüllte der Parteisekretär: »Wie kannst du altes Weib so etwas wagen! Wenn Leiterin Wan ernsthaft verletzt ist, kannst du die rechtlichen Konsequenzen tragen!« Schwiegermutter sah das blutüberströmte Bein meiner Tante und bekam es wohl mit der Angst. Sie bearbeitete den Boden wieder mit ihren Fäusten und heulte lautstark. »Hab mal keine Angst, Schwägerin. Auch wenn ich jetzt an Wundstarrkrampf sterbe, wirst du keine Konsequenzen tragen. Ich bin dir sogar dankbar! Der Scherenstich lässt mich meine Schuldgefühle leichter ertragen und gibt mir neuen Glauben.« Dann drehte sich meine Tante zur Menge der Schaulustigen: »Bestellt Chen Nase und Wang Galle, sie sollen freiwillig zu mir in die Krankenstation kommen. Tun sie das nicht«, die Tante schwenkte drohend ihre blutverschmierte Hand, »können sie meinetwegen ein Grab öffnen und sich im Sarg verstecken. Ich werde sie überall ausfindig machen und herschaffen.« 11 Bevor es in den Operationssaal ging, sah Renmei sich mein Handgelenk an. Schuldbewusst sagte sie: »Renner ich hätte dich wirklich nicht beißen dürfen ...« »Nicht so schlimm!« »Tut es noch weh?« »Nö, als hätte mich eine Mücke gestochen, mehr nicht.« »Du kannst mich zurückbeißen!« »Geht’s noch? Sei nicht kindisch!« »Renner«, sie ergriff meine Hand, »was ist mit Yanyan?« »Die ist zu Haus. Oma und Opa passen auf sie auf.« »Hat sie auch gegessen?« »Ja. Ich habe zwei Tüten Milchpulver besorgt und zwei große Pakete Butterkekse. Lotuswurzelspeise und Rousong-Fleisch habe ich auch gekauft. Mach dir keine Sorgen.« »Yanyan sieht mehr dir ähnlich. Sie hat Schlitzaugen, meine doppelte Lidfalte hat sie nicht geerbt.« »Stimmt. Wäre schöner, wenn sie dir ähneln würde, du siehst viel schöner aus als ich.« »Die Leute sagen immer, die Mädchen ähneln den Vätern und die Jungen ähneln den Müttern.« »Kann schon sein.« »Diesmal ist es ein Junge. Ich weiß es genau. Ungelogen ...« »Die heutigen Zeiten sind anders. Es ist gleichgültig, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« Ich sagte es absichtlich so leicht dahin. »Wenn ihr beide mir in zwei Jahren nach Peking folgt, suchen wir für unsere Tochter die allerbeste Schule aus. Wir werden sie gut fördern, damit sie sich zu einer herausragenden Persönlichkeit entwickeln kann. Eine gute Tochter ist viel besser als ein Sohn, der nichts allein zuwege bringt.« »Renner ...« »Was ist denn noch?« »Als Xiao Unterlippe mich angefasst hat, waren wirklich die Kleider dazwischen!« »Du bist mir ja eine«, lachte ich, »das hatte ich doch längst vergessen.« »Die dicke gefütterte Steppjacke war dazwischen. Darunter hatte ich einen Pullover an, unter dem Pullover ein Hemd und darunter ...« »Den Büstenhalter, stimmt’s?« »An jenem Tag trug ich ihn nicht, weil ich ihn gewaschen hatte, ich trug ein Unterhemd unter dem Hemd.« »Ist ja gut, ich will den Unsinn gar nicht hören.« »Dass er mich noch geküsst hat, war, weil es ihn plötzlich überkam. So sehr, dass er nicht mehr an sich halten konnte.« »Ich will das nicht mehr hören, mir reicht’s. Ein Kuss, und wenn schon. Hatte sich wohl verliebt.« »Ich habe mich nicht einfach so von ihm küssen lassen. Ich habe ihn dafür sofort in den Unterleib getreten. So dass er beide Hände draufhielt und in die Knie ging.« »Beim Himmel, Unterlippe, der Pechvogel«, lachte ich. »Und mich? Warum hast du mich nicht getreten, als ich dich geküsst habe?« »Er stinkt aus dem Mund! Anders als du, dein Mund schmeckt süß.« »Das erklärt, dass du mir von Geburt an als meine Frau bestimmt bist.« »Renner, ich bin dir wirklich sehr dankbar.« »Dankbar? Wofür?« »Ich weiß auch nicht.« »Jetzt hört ihr mal mit dem Geturtel auf. Später könnt ihr weiter reden.« Tante streckte den Kopf aus dem OP und winkte Renmei zu: »Dann komm mal rein.« »Renner!« Sie ergriff meine Hand. »Hab keine Angst«, sagte ich, »die Tante sagt doch, es ist nur ein kleiner Eingriff.« »Wenn wir wieder zu Hause sind, musst du mir ein Suppenhuhn kochen.« »Mache ich, ich koche dir zwei!« Bevor Renmei im OP verschwand, drehte sie sich nach mir um. Obenherum trug sie meine graue, kaputte Jacke. Ein Knopf war abgerissen. Man sah an der Stelle das Fadenende herabhängen. Untenherum trug sie eine blaue Hose. Die Hosenbeine waren voller Matsch, und an den Füßen trug sie Tantes alte, braune Lederschuhe. Ich musste schlucken, in der Nase hatte ich dieses stechende Gefühl, das man hat, wenn man weinen muss. Ich fühlte mich so leer. Ich saß auf der dreckigen, staubigen Holzbank auf dem Flur und hörte aus dem OP das metallene Klappern der Instrumente. Ich stellte mir die Instrumente vor und hatte sie so lebendig vor Augen, dass ich spürte, wie mir der helle Lichtstrahl des Metalls in die Augen stach und ich ihre eiskalte Temperatur auf der Haut fühlte. Aus dem Hinterhof der Krankenstation hörte man fröhliches Kinderlachen. Ich erhob mich und sah vorm Fenster einen drei, vier Jahre alten kleinen Jungen zwei zu Luftballons aufgeblasene Kondome hochhalten. Er rannte vorneweg, zwei Mädchen im selben Alter rannten ihm hinterher. Tante kam plötzlich aus dem OP gelaufen und rief mir in heller Aufregung zu: »Welche Blutgruppe hast du?« »Blutgruppe A.« »Und sie?« »Wie? Wen meinst du?« »Na wen wohl?« Sie grollte. »Deine Frau!« »Wahrscheinlich Null, aber vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht ...« »Verdammte Scheiße!« »Was ist mit ihr?« Ich sah das hellrote Blut an Tantes Arztkittel. Mein Hirn war wie leergefegt. Tante verschwand wieder im OP und schloss die Tür. Ich presste mein Gesicht auf den Türspalt, konnte aber nichts erkennen. Ich hörte auch Renmeis Stimme nicht. Nur das Schreien von Shizi, die das Kreiskrankenhaus anrief und den Rettungswagen bestellte. Ich stieß mit voller Kraft gegen die Tür, bis sie sich öffnete. Ich sah Renmei, sah Tante mit einem hochgekrempelten Ärmel und Shizi, die ihr mit einer Riesenspritze Blut aus diesem Arm abnahm, ich sah Renmeis Gesicht, weiß wie ein Blatt Papier ... »Renmei! Renmei, halte durch!« Eine Schwester schob mich hinaus. Ich wehrte mich: »Lass mich rein. Du verdammte Scheißkuh, lass mich rein!« Ein paar Männer in Arztkitteln kamen den Flur entlang gerannt. Ein Arzt mittleren Alters, streng nach Zigaretten und Desinfektionsmittel riechend, drückte mich wieder auf die Holzbank. Er reichte mir eine Zigarette, gab mir Feuer. »Nur keine Panik! Der Rettungswagen des Krankenhauses kommt sofort. Deine Tante hat ihr mehr als einen halben Liter von ihrem eigenen Blut übertragen – es sollte keine größeren Komplikationen geben.« Der Rettungswagen kam mit heulendem Martinshorn. Wie tausend Schlangen bohrte sich die Sirene in meinen Körper. Ein Mann im Arztkittel mit Arztkoffer. Ein Mann im Arztkittel mit Brille und Stethoskop. Noch mehr Männer in weißen Kitteln. Frauen in weißen Kitteln. Männer mit einer zusammenklappbaren Tragbahre. Männer, die im OP verschwanden. Andere, die auf dem Flur stehen blieben. Sie bewegten sich schnell und behende, doch ihre Gesichter zeigten keinerlei Regung. Keiner achtete auf mich. Nicht mal ein flüchtiger Blick streifte mich. Ich fühlte einen strengen Blutgeschmack im Hals. Die Männer im Arztkittel kamen gemächlich aus dem OP, einer nach dem anderen stiegen sie wieder in den Rettungswagen. Zuletzt packten sie auch die Tragbahre wieder ein. Ich drückte die Tür zum OP auf und sah ein weißes Laken, das Körper und Gesicht meiner Frau bedeckte. Meine Tante saß, am ganzen Leib voll mit Blut, deprimiert auf einem Klappstuhl. Kleiner Löwe und die anderen standen da wie die Salzsäulen. Meine Ohren hörten nichts mehr. Stille. Kein Ton. Dann waren da zwei Bienen, die laut zu summen begannen. »Tante«, sagte ich, »du hast doch behauptet, es sei alles in Ordnung.« Mit zusammengekniffenen Augen und krauser Nase hob sie den Kopf. Was für ein grässliches, grauenvolles Gesicht! Abrupt nieste sie geräuschvoll. 12 »Schwägerin, Bruder.« Tante stand im Hof und sprach mit steifer Stimme: »Ich komme, um meine Schuld einzugestehen und bitte um Bestrafung.« Renmeis Urne hatte man mitten im Raum auf einem eckigen Tisch aufgestellt. Vor der Urne stand eine weiße, mit Weizenkörnern gefüllte Schale. Im Weizen steckten drei Räucherstäbchen, über denen in Spiralen duftender Qualm aufstieg. Ich trug Uniform, an die Schulter hatte ich ein Stück schwarze Gaze geheftet. Ich saß mit meiner Tochter auf dem Arm neben dem Tisch. Sie trug Trauerkleidung ersten Grades und hatte einen weißen, aus Rupfen gefertigten Kapuzenumhang um. Unentwegt hob sie ihr Gesichtchen und fragte mich: »Papa, was ist denn da in dem Krug drin?« Ich fand keine Worte, um ihr zu antworten, die Tränen rannen mir nur immerfort herab und flossen über meine Bartstoppeln. »Papa, wo ist meine Mama? Wo ist meine Mama hin?« »Deine Mama ist nach Peking gefahren. In ein paar Tagen fahren wir auch nach Peking.« »Kommen Opa und Oma auch mit?« »Ja, alle fahren hin.« Vater und Mutter waren im Hof und sägten. Sie sägten ein Weidenbrett. Das Brett war an einer langen Bank festgebunden. Vater stand und Mutter saß, während sie auf und ab und hin und her sägten, ritsch, ratsch, ritsch, ratsch. Das Sägemehl sah man in der Sonne in alle Richtungen wegfliegen. Ich wusste, dass sie Weidenholz für Renmeis Sarg sägten. Obwohl in unserer Gegend bereits Feuerbestattungen vorgeschrieben waren, gab es keinen Ort, den man uns für die Aufbewahrung der Urne zugewiesen hätte. Also beerdigten die Leute ihre Urnen, wenn sie sie in Empfang genommen hatten, und türmten ein Grab darüber auf. Familien, die Geld hatten, ließen einen Sarg zimmern, in den sie die Asche einfüllten. Die Urne zertrümmerten sie. Familien, die arm waren, bestatteten die Urne. Ich sah meine Tante mit hängendem Kopf dastehen. Ich sah die von Trauer gezeichneten Gesichter meiner Eltern, sah sie mechanisch sägen. Ich sah die Leute, die mit meiner Tante gekommen waren, den Kommuneparteisekretär, Kleiner Löwe, drei weitere Kommunekader, die ein paar Pakete mit bunten Naschereien neben dem Brunnen abstellten. Neben den Paketen mit Naschwerk gab es noch ein triefendes Bündel, das einen strengen, salzigen Geruch verströmte. Ich wusste, es war ein Paket Klippfisch. Niemand hatte mit dem gerechnet, was geschehen war. Die Spezialisten vom Kreiskrankenhaus waren bereits dagewesen und hatten ein Sachverständigengutachten erstellt, aus dem hervorging, dass Leiterin Wan in allen Punkten vorschriftsmäßig vorgegangen sei. Dass auch nichts unterlassen worden sei. Dass auch alle Rettungsmaßnahmen richtig erfolgt seien. Dass Leiterin Wan noch dazu mehr als einen halben Liter ihres eigenen Blutes gespendet und Renmei übertragen habe. Das Geschehene bedauerten sie sehr. Es sei sehr schmerzlich ... »Hast du keine Augen im Kopf?«, platzte es wütend aus meinem Vater heraus. »Da habe ich einen Strich gezogen. Den siehst du doch wohl!«, fuhr er meine Mutter an. »Jetzt ist der Sägeschnitt fast zwei Zentimeter drüber. Das siehst du doch, du Transuse!« Mutter kam vom Boden hoch und verschwand laut weinend im Haus. Vater schmiss die Säge hin und beugte sich über den Wasserbottich, um sich ein paar Kellen Wasser zu schöpfen, die er sich über den Nacken goss. Das kühle Wasser plätscherte über sein Kinn, über seinen Hals, über die Brust und mischte sich mit dem Sägemehl. Dann trank er und schnappte sich die Säge, um alleine weiterzusägen. Der Kommuneparteisekretär und seine Kader verschwanden im Haus, um vor der Urne Renmeis drei tiefe Verbeugungen zu machen. Jeder der drei Kader legte einen braunen Briefumschlag auf die Anrichte neben dem Herd. Der Parteisekretär sprach zu meinem Vater: »Genosse Wan Fuß, wir wissen wohl, dass kein Geld der Welt diesen furchtbaren Verlust mildern kann, den deine Familie erlitten hat. Diese fünftausend Yuan sollen nur ausdrücken, dass wir Anteil an eurem Schmerz nehmen.« Ein anderer Kader, auch so ein Parteisekretär, sagte: »Vom Staat kommen dreitausend, die übrigen zweitausend haben die Kommuneleiter selber dazugelegt.« »Nehmt das Scheißgeld weg«, sagte ich, »wir brauchen das nicht.« »Wir können dein Leid nachvollziehen«, sagte der Parteisekretär bitter. »Was einmal gestorben ist, wird nicht wieder lebendig! Und die Lebenden sind auch noch zur Revolution in Permanenz verpflichtet. Vorsitzende Yang hat aus Peking angerufen. Sie hat ihrer Trauer für die kleine Wang Ausdruck verliehen, und sie bittet mich, den Hinterbliebenen der Verstorbenen ihr Beileid auszusprechen. Und sie hat dir deinen Urlaub um zwei Wochen verlängert, damit du das Begräbnis abwickeln und Vorkehrungen zu Hause treffen kannst. Erst dann kommst du zurück zur Truppe«, so sprach der Parteisekretär zu mir. Ich sagte nur: »Danke, ihr könnt gehen.« Er und seine Kader machten vor der Urne noch einen Diener und verließen gebückt das Haus. Ich sah ihren Beinen zu, sah ihren fetten oder spargeldürren Ärschen zu, und mir kamen wieder die Tränen. Durch die Gasse schallten das erbärmlich laute Weinen einer Frau und das grimmige Schimpfen eines Mannes. Ich wusste, meine Schwiegereltern waren auf dem Weg zu mir. Mein Schwiegervater kam mit einer Mistgabel in der Hand, wie wir sie zum Heuwenden auf der Tenne verwenden, und brüllte wie besessen: »Ihr Hurensöhne, Bastarde, ersetzt mir meine Tochter!« Die Schwiegermutter schwenkte mit den Armen und trippelte auf ihren kleinen Lilienfüßen, als wolle sie sich auf meine Tante stürzen. Aber sie stolperte und fiel. Sie blieb sitzen und trommelte mit den Händen auf den Boden: »Meine liebe, arme, arme Tochter! Wie konntest du so von uns gehen! Du stirbst und lässt uns allein zurück!« Der Parteisekretär kam auf sie zu: »Ehrwürdige Wangs, wir wollten uns gerade auf den Weg zu euch machen. Dieses Unglück, das da geschehen ist! Wir sind bestürzt und unsäglich traurig ...« Schwiegervater stieß die Mistgabel mit dem Stiel in den Boden und brüllte wie rasend: »Zeig dich, du Scheißkerl!« Ich ging mit meiner Tochter auf dem Arm zu ihm, sie presste sich an mich und hielt meinen Hals mit beiden Ärmchen fest umschlungen. Ihren Kopf versteckte sie in meiner Halsbeuge. »Vater«, ich stand vor ihm, »Vater, schlagt mich.« Mein Schwiegervater riss die Gabel in die Höhe und holte aus. Aber seine Hand stockte. Ich sah Tränen von seinem weißen Bart tropfen. Die Knie knickten ihm ein, er kniete am Boden. »Einen gesunden, blühend im Leben stehenden Menschen ...«, er schleuderte die Mistgabel weg und weinte laut schluchzend am Boden kniend, »... einen lebendigen, wunderbar lebendigen, gesunden Menschen bringt ihr zu Tode, ihr Vermaledeiten! Ihr schamlosen Sünder! Fürchtet ihr Pack die Strafe der Vorsehung nicht?« Meine Tante ging zu den beiden hin und stellte sich mit hängendem Kopf zwischen meinem Schwiegervater und meiner Schwiegermutter auf: »Schwager und Schwägerin, es ist nicht Renners Schuld. Mich müsst ihr beschuldigen.« Sie hob den Kopf und sprach weiter: »Beschuldigt mich, dass ich nicht geprüft habe, ob die Empfängnis verhütenden Spiralen den Frauen im gebärfähigen Alter auch richtig eingepasst wurden und an Ort und Stelle blieben. Schiebt mir die Schuld dafür zu, dass ich nicht daran gedacht habe, dass ein Hundesohn wie Yuan Backe sich die Technik aneignen könnte, den Frauen die Spiralen zu entfernen. Beschuldigt mich, dass ich Renmei nicht ins Kreiskrankenhaus geschickt habe, damit die Abtreibung dort gemacht wurde. Jetzt warte ich darauf, wie mein Vorgesetzter die Sache abwickelt.« Beim letzten Satz blickte sie zum Parteisekretär hinüber. »Fazit ist, so haben wir bereits festgestellt«, ergriff der das Wort, »dass Leiterin Wan keinen Fehler begangen hat. Ehrwürdige Wangs, wir werden eure Schadensersatzansprüche prüfen, aber so viel steht fest: Es ist ein unvorhergesehener Fehler aufgetreten, der auf den besonderen körperlichen Zustand eurer Tochter zurückzuführen ist. Auch wenn sie im Kreiskrankenhaus operiert worden wäre, es wäre auf das Gleiche hinausgelaufen. Und ich möchte an dieser Stelle noch einmal deutlich machen«, er erhob die Stimme vor den Anwesenden und den nun zahlreich aus der Gasse herbeiströmenden Dörflern, »die Geburtenplanung gehört zur grundlegenden Staatspolitik. Sie wird keinesfalls wegen eines unvorhergesehenen Unglücksfalls aufgegeben. Alle illegal schwangeren Frauen müssen sich aus eigenem Antrieb hier melden und eine Abtreibung vornehmen lassen. Wer die Ziele der Politik der Geburtenplanung durchkreuzt, wird schwerste Strafen zu erdulden haben.« »Dich bring ich auch um«, kreischte meine Schwiegermutter hysterisch und zog aus ihrem Hemdausschnitt eine Schere, die sie meiner Tante in den Schenkel rammte. Meine Tante drückte sofort ihre Hand auf die Wunde, aber das Blut spritzte zwischen ihren Fingern hindurch. Die wenigen Kommunekader, die zur Begleitung mitgekommen waren, stürzten sich sofort auf meine Schwiegermutter, rissen ihr die Schere aus der Hand und drückten sie brutal auf den Boden. Kleiner Löwe kniete bereits neben meiner Tante und legte ihr mit dem Verbandszeug aus dem Arztkoffer einen strammen Druckverband an. Der Parteisekretär rief: »Ruft schnell einen Unfallwagen!« »Nicht nötig!«, entgegnete Tante, »Schwägerin! Ich habe deiner Tochter mehr als einen halben Liter Blut gespendet. Jetzt hast du mir die Schere ins Bein gerammt. Wenn wir Blut mit Blut begleichen, sind wir jetzt quitt.« Bei jeder Bewegung quoll das Blut aus ihrem Verband. Wutentbrannt brüllte der Parteisekretär: »Wie kannst du altes Weib so etwas wagen! Wenn Leiterin Wan ernsthaft verletzt ist, kannst du die rechtlichen Konsequenzen tragen!« Schwiegermutter sah das blutüberströmte Bein meiner Tante und bekam es wohl mit der Angst. Sie bearbeitete den Boden wieder mit ihren Fäusten und heulte lautstark. »Hab mal keine Angst, Schwägerin. Auch wenn ich jetzt an Wundstarrkrampf sterbe, wirst du keine Konsequenzen tragen. Ich bin dir sogar dankbar! Der Scherenstich lässt mich meine Schuldgefühle leichter ertragen und gibt mir neuen Glauben.« Dann drehte sich meine Tante zur Menge der Schaulustigen: »Bestellt Chen Nase und Wang Galle, sie sollen freiwillig zu mir in die Krankenstation kommen. Tun sie das nicht«, die Tante schwenkte drohend ihre blutverschmierte Hand, »können sie meinetwegen ein Grab öffnen und sich im Sarg verstecken. Ich werde sie überall ausfindig machen und herschaffen.« DAS DRITTE BUCH Verehrter Yoshito Sugitani san! Heute ist Neujahrstag, der erste Tag im chinesischen neuen Jahr, das wir nach unserem Bauernkalender feiern. Gestern in den frühen Abendstunden begann es zu schneien, und bis jetzt hat es nicht aufgehört. Draußen ist schon alles von einer blütenweißen Schicht überzogen, von der Straße her schallt fröhliches Kinderlachen, denn die Kinder spielen dort im Schnee. Auf unserer großen Pappel vor dem Haus sitzen zwei Elstern. Ihr Keckern verheißt uns Glück. Wie ist mir schwer ums Herz, seit ich Ihren Brief zu Ende gelesen habe, verehrter Yoshito Sugitani san. Mir wäre es nicht in den Sinn gekommen, dass Sie wegen meiner Briefe an schwerer Schlaflosigkeit leiden könnten, dass sie Ihnen körperlich so zusetzen würden. Mich rührt Ihre Anteilnahme zutiefst. Lieber Freund, Sie schreiben, dass Ihnen die Tränen kamen, als Sie lesen mussten, wie Wang Renmei starb. So ging es mir auch! Mir liefen die Tränen in Strömen über die Backen, als ich es Ihnen schilderte. Ich beklage mich gar nicht über Gugu. Ich finde nicht, dass es ihr Fehler war, auch wenn sie sich auf ihre alten Tage wie ein Beichtkind ständig Selbstvorwürfe macht und meint, ihre Hände seien voller Blut. Es ist Vergangenheit, ist Historie geworden. Die Geschichte vermerkt das Ergebnis und ignoriert den Weg dorthin. So ist es auch mit der chinesischen Großen Mauer oder den ägyptischen Pyramiden. Man bewundert die großartige Leistung, übersieht aber die unzähligen Menschen, die dafür ihr Leben ließen. In den letzten fast dreißig Jahren haben es die Chinesen mit Hilfe extremer Methoden schließlich geschafft, die Bevölkerungsexplosion zu begrenzen. Nicht nur, um die Entwicklung der eigenen Nation zu forcieren, sondern um einen Beitrag zur Bevölkerungsentwicklung der gesamten Menschheit zu leisten. Denn wir alle möchten diesen kleinen Planeten weiter bewohnen. Die Ressourcen sind verschwindend gering und, einmal verschwendet, nie wiederzugewinnen. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Kritik des Westens an der chinesischen Bevölkerungspolitik unangebracht. In den letzten zwei Jahren hat sich mein Heimatort sprunghaft verändert. Der neue Parteisekretär ist ein junger Typ von nicht mal vierzig Jahren, der seinen Doktor in den USA gemacht hat – ein imposanter Mann mit großen Visionen. Man hört, dass er das Gebiet an beiden Ufern des Kiaolai wirtschaftlich erschließen will. Etliche Großprojekte sind bereits von Ingenieuren in Angriff genommen worden. Nur wenige Jahre werden vergehen, und die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses, die Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen haben, wird ausgelöscht sein. Ob diese auf uns zukommenden Veränderungen nun positiv oder negativ zu bewerten sind, darüber maße ich mir kein Urteil an. Diesem Brief füge ich auch gleich das dritte Paket mit Berichten über meine Tante bei – ich mag sie nicht mehr Briefe nennen, da sie so zahlreich geworden sind. Es ist mir zu peinlich. Natürlich schreibe ich weiter, denn Ihr Lob, Sugitani san, treibt mich an. Wir Dörfler laden Sie, Herr Sugitani san, hiermit noch einmal herzlichst ein, unser Gast zu sein und uns zu besuchen, sobald es Ihre Zeit erlaubt. Wir werden Sie wie einen alten Freund ohne steife Höflichkeitsrituale herzlich bei uns aufnehmen. Noch eins: ich und meine Frau werden bald in Rente gehen und das zum Anlass nehmen, wieder heim in unser Dorf zu ziehen. Von Anfang an haben wir uns in Peking wie Fremde gefühlt. Kürzlich beschimpften sich zwei Frauen, die angeblich wie Schwestern in einem unserer engen Pekinger Hutongs zusammen aufwuchsen, grundlos ganze zwei Stunden in voller Lautstärke. Das bestärkte uns in unserem Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Dort werden die Menschen hoffentlich nicht derart verletzend miteinander umgehen, und dort ist man der Literatur dann hoffentlich näher. Kaulquappe Peking, am Neujahrsmorgen 2004 Verehrter Yoshito Sugitani san! Heute ist Neujahrstag, der erste Tag im chinesischen neuen Jahr, das wir nach unserem Bauernkalender feiern. Gestern in den frühen Abendstunden begann es zu schneien, und bis jetzt hat es nicht aufgehört. Draußen ist schon alles von einer blütenweißen Schicht überzogen, von der Straße her schallt fröhliches Kinderlachen, denn die Kinder spielen dort im Schnee. Auf unserer großen Pappel vor dem Haus sitzen zwei Elstern. Ihr Keckern verheißt uns Glück. Wie ist mir schwer ums Herz, seit ich Ihren Brief zu Ende gelesen habe, verehrter Yoshito Sugitani san. Mir wäre es nicht in den Sinn gekommen, dass Sie wegen meiner Briefe an schwerer Schlaflosigkeit leiden könnten, dass sie Ihnen körperlich so zusetzen würden. Mich rührt Ihre Anteilnahme zutiefst. Lieber Freund, Sie schreiben, dass Ihnen die Tränen kamen, als Sie lesen mussten, wie Wang Renmei starb. So ging es mir auch! Mir liefen die Tränen in Strömen über die Backen, als ich es Ihnen schilderte. Ich beklage mich gar nicht über Gugu. Ich finde nicht, dass es ihr Fehler war, auch wenn sie sich auf ihre alten Tage wie ein Beichtkind ständig Selbstvorwürfe macht und meint, ihre Hände seien voller Blut. Es ist Vergangenheit, ist Historie geworden. Die Geschichte vermerkt das Ergebnis und ignoriert den Weg dorthin. So ist es auch mit der chinesischen Großen Mauer oder den ägyptischen Pyramiden. Man bewundert die großartige Leistung, übersieht aber die unzähligen Menschen, die dafür ihr Leben ließen. In den letzten fast dreißig Jahren haben es die Chinesen mit Hilfe extremer Methoden schließlich geschafft, die Bevölkerungsexplosion zu begrenzen. Nicht nur, um die Entwicklung der eigenen Nation zu forcieren, sondern um einen Beitrag zur Bevölkerungsentwicklung der gesamten Menschheit zu leisten. Denn wir alle möchten diesen kleinen Planeten weiter bewohnen. Die Ressourcen sind verschwindend gering und, einmal verschwendet, nie wiederzugewinnen. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Kritik des Westens an der chinesischen Bevölkerungspolitik unangebracht. In den letzten zwei Jahren hat sich mein Heimatort sprunghaft verändert. Der neue Parteisekretär ist ein junger Typ von nicht mal vierzig Jahren, der seinen Doktor in den USA gemacht hat – ein imposanter Mann mit großen Visionen. Man hört, dass er das Gebiet an beiden Ufern des Kiaolai wirtschaftlich erschließen will. Etliche Großprojekte sind bereits von Ingenieuren in Angriff genommen worden. Nur wenige Jahre werden vergehen, und die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses, die Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen haben, wird ausgelöscht sein. Ob diese auf uns zukommenden Veränderungen nun positiv oder negativ zu bewerten sind, darüber maße ich mir kein Urteil an. Diesem Brief füge ich auch gleich das dritte Paket mit Berichten über meine Tante bei – ich mag sie nicht mehr Briefe nennen, da sie so zahlreich geworden sind. Es ist mir zu peinlich. Natürlich schreibe ich weiter, denn Ihr Lob, Sugitani san, treibt mich an. Wir Dörfler laden Sie, Herr Sugitani san, hiermit noch einmal herzlichst ein, unser Gast zu sein und uns zu besuchen, sobald es Ihre Zeit erlaubt. Wir werden Sie wie einen alten Freund ohne steife Höflichkeitsrituale herzlich bei uns aufnehmen. Noch eins: ich und meine Frau werden bald in Rente gehen und das zum Anlass nehmen, wieder heim in unser Dorf zu ziehen. Von Anfang an haben wir uns in Peking wie Fremde gefühlt. Kürzlich beschimpften sich zwei Frauen, die angeblich wie Schwestern in einem unserer engen Pekinger Hutongs zusammen aufwuchsen, grundlos ganze zwei Stunden in voller Lautstärke. Das bestärkte uns in unserem Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Dort werden die Menschen hoffentlich nicht derart verletzend miteinander umgehen, und dort ist man der Literatur dann hoffentlich näher. Kaulquappe Peking, am Neujahrsmorgen 2004 1 Nachdem ich meine Frau Renmei beerdigt hatte und meine Familie wieder sicher zu Hause angelangt war, kehrte ich in Windeseile zur Truppe zurück. Ein voller Monat verging. Da erreichte mich wieder ein Telegramm: Mutter ist gestorben. Komm schnell nach Hause. Ich ging mit dem Telegramm zu meinem Vorgesetzen, um Urlaub zu beantragen, gleichzeitig gab ich noch schnell ein Gesuch ab, in dem ich um meine Entlassung aus dem Militärdienst und die Rückkehr ins zivile Leben bat. An dem Abend, an dem ich meine Mutter beerdigte, ergoss sich das weiche helle Mondlicht wie ein silbernes Band in unseren Hof. Meine Tochter schlief unter dem Birnbaum auf einer Strohmatte, mein Vater hielt ihr mit einem Fächer die Mücken vom Leib. Auf dem Gerüst mit den Zuckerschoten zirpten laut die Heupferdchen, vom Fluss her tönte das Rauschen des Wassers. »Es ist wohl trotz alledem besser, eine neue Frau zu suchen«, seufzte mein Vater. »Ohne Frau im Haus fehlt einem das Gefühl, zu Hause zu sein.« »Ich habe meine Entlassung schon eingereicht, warte noch damit, bis ich wieder zurück bin.« »Was hatten wir es gut! Und nun ist von einem zum anderen Augenblick alles in Scherben«, klagte mein Vater, »und wir wissen nicht einmal, wem wir die Schuld dafür geben sollen.« »Eigentlich ist es ja auch nicht Gugus Schuld. Sie hat keinen Fehler gemacht.« »Ich hab auch gar nicht gesagt, dass ich sie dafür verurteile. Es ist wohl Schicksal«, sagte mein Vater. »Es gibt niemanden, der unserem Land so bedingungslos, so treu bis in den Tod, zu Diensten ist. Die politischen Ziele unserer Führung sind eben nicht anders umsetzbar.« »Es ist ja nachvollziehbar, dass es geschehen ist. Aber warum musste ausgerechnet sie es sein, die es getan hat? Als sie die Schere ins Bein gerammt bekam, dass das Blut spritzte, hat sie mir aber doch leidgetan. Immerhin ist sie meine kleine Cousine.« Ich sagte nur: »Es musste wohl so kommen.« 2 Vater erzählte mir, dass sich nach Schwiegermutters Scherenstich die Wunde an Gugus Bein entzündet und sie hohes Fieber bekommen habe. Trotz des Fiebers sei sie mit ihrer Truppe unterwegs gewesen, um Wang Galle festzunehmen. Eigentlich gehört der Begriff »Festnahme« zum Vokabular der Polizei und ist nicht ganz passend, aber im Grunde handelte es sich doch um eine Festnahme wie bei einem Verbrecher. Bei Galle zu Hause war alles fest verrammelt, kein Hahn, kein Hund muckste sich. Gugu ließ das Tor aufbrechen und verschaffte sich gewaltsam Zutritt. »Irgendjemand muss es deiner Tante gesteckt haben«, sagte mein Vater. Sie humpelte zu den Wangs ins Haus hinein, ging zum Herd und lüftete den Deckel des Wok. Es war noch Reissuppe darin. Sie prüfte die Temperatur mit dem Finger. »Aha, noch warm!« Gugu ließ ihr eisiges Lachen hören und brüllte: »Chen Nase! Wang Galle! Kommt ihr freiwillig raus? Oder soll ich euch wie Flöhe aus eurem Loch rauspicken?« Kein Ton. Im Haus hätte man eine Stecknadel fallen hören. Gugu deutete auf den Wandschrank in der Ecke des Raums. Ein paar alte Kleider, sonst nichts. Sie wies ihre Leute an, alles hinauszuwerfen, so dass der Schrankboden sichtbar wurde. Dann griff sie sich ein Nudelholz und hämmerte damit auf den Boden ein. Ein paar Schläge und sie hatte ein Loch hineingehauen. Sie brüllte wieder: »Kommt raus da, ihr Partisanen! Oder soll ich Wasser einfüllen?« Zuerst kam die kleine Chen Ohr hervorgekrabbelt. Sie war kalkweiß im Gesicht, wie eine kleine Tempelschamanin. Sie weinte nicht, sondern lachte glucksend. Als Zweiter stieg Chen Nase aus dem Erdloch heraus. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, sein krauses Haar wirr, angezogen war er nur mit einem Schweißhemd, aus dem das Brusthaar hervorlugte. Er sah richtig heruntergekommen aus. Der Riesenkerl von einem Mann fiel plumpsend vor Gugu auf die Knie und schlug in einem Fort mit dem Kopf auf den Boden. Während er unablässig vor ihr Kotau machte, schluchzte er so markerschütternd, dass das ganze Dorf erzitterte. »Tante, Gugu, meine liebste Gugu, sieh es so: Ich bin das erste Kind, das du auf die Welt gezogen hast! Bitte denk auch daran, dass Galle nur eine halbe Portion ist. Lass Gnade walten! Gib nur ein Zeichen mit deiner teuren Hand und verschone uns! Tante, meine Familie wird es dir in alle Ewigkeit mit Dankbarkeit vergelten, dir deinen Großmut und deine Tugend danken!« Vater erzählte, dass alle, die dabei gestanden hatten, später berichteten, Gugu habe mit Tränen in den Augen geantwortet: »Chen Nase, mein lieber Nase, diese Angelegenheit hat mit mir persönlich nichts zu tun. Wenn ich zu entscheiden hätte, dann wär’s ja keine Frage. Wenn du meine Hand wolltest: Abhacken würde ich sie für dich! Und ich würde sie dir geben!« »Tante, lass Gnade walten!« Die kleine Ohr war ein kluges Persönchen. Sofort machte sie ihren Papa nach und kniete nieder, um vor Gugu Kotau zu machen. Sie wiederholte immer nur den einen Satz: »Lass Gnade walten! Lass Gnade walten!« Dann, fuhr mein Vater fort, sei da aber dieses Heer von schaulustigen Gaffern gewesen, allen voran Wuguan. Der habe mit seiner Schmalzstimme noch einen draufgesetzt, als er begonnen habe, das Titellied aus dem Film Tunnelkrieg zu schmettern: Tunnelkrieg! He! Tunnelkrieg! Hunderttausend tapfre Soldaten im Hinterhalt. In der grenzenlosen Ebene wird Tunnelkrieg geführt. Die japanischen Teufel werden vertrieben, damit sie ein für alle Mal ausgemerzt sind. Und dann habe er ein weiteres Lied aus der Mitte des Films angefügt: Vergiss die Worte deines Führers Mao Tse-tung nicht und bewahre sie in deinem Herzen!« Gugu wischte sich übers Gesicht und sagte mit versteinerter Miene: »Es reicht, Nase. Mach schon, und hol Galle da raus!« Er rutschte auf Knien zur Tante und umklammerte ihr Bein, seine Kleine tat es ihm nach und umklammerte Gugus anderes Bein. Wieder hörte man Wuguan im Hof dieses Tunnelkrieg-Lied plärren: In der grenzenlosen Ebene wird Tunnelkrieg geführt. Trauen sich die Invasoren her, schlagen wir sie schnell zurück. Dass die Köpfe nur so fliegen, dass es die Pferde niedermäht! Denn das ganze Volk macht mit, denn das ganze Volk wird sterilisiert, denn das ganze Volk verhütet gründlich jede Schwangerschaft! Die Tante wollte sich befreien, konnte aber die Umklammerung nicht lösen. So befahl sie schließlich ihren Leuten: »Steigt in das Erdloch runter!« Ein Milizionär kletterte, die Taschenlampe im Mund, in den unterirdischen Gang. Der nächste stieg hinab. Sie brüllten aus dem Loch herauf: »Keiner drin!« Gugu packte so der Zorn, dass sie das Gleichgewicht verlor und ohnmächtig zu Boden sank. Vater sagte: »Chen Nase hat sie wirklich ausgetrickst. Du weißt doch, dass er hinter dem Haus einen Gemüsegarten hat? Dort gibt es einen Brunnen mit einer Seilwinde. Der unterirdische Gang führte bis dicht an den Brunnenschacht. Wie die kleine Galle es wohl geschafft hat, durch den langen Gang zu kriechen, sich dann durchzugraben – wo sie die viele Erde wohl hingetan hat? –, sich am Seil hochzuhangeln und aus dem Brunnen herauszuklettern, während Nase und Ohr die Tante umklammert hielten. Wirklich ein schweres Stück Arbeit! Dass so ein kleines Persönchen das schafft, noch dazu im hochschwangeren Zustand.« Als man die Tante stützte und zum Brunnen hinführte, stampfte sie laut mit den Füßen auf, so wütend war sie: »Wie konnte ich nur so dumm sein! Als hätte ich Schippkohlen vor den Augen! Dabei hatte doch schon mein Vater seinen Leuten im Xihai-Untergrund-Militärkrankenhaus befohlen, einen Tunnel zu graben!« Dann wurde sie wieder ohnmächtig. Die Milizionäre brachten sie ins nächste Krankenhaus. Deine Tante hatte sich dieselbe Krankheit zugezogen wie Henry Norman Bethune. Bethune starb an der Sepsis, Gugu wäre fast daran gestorben. Sie war der Partei treu ergeben – notfalls bis in den Tod –, und die Partei dankte es ihr, indem sie sie rettete. Es sprach sich rum, dass sie die teuerste Medizin bekam. Einen halben Monat wurde sie im Krankenhaus behandelt. Ihre Wunde war noch nicht verheilt, da hielt sie es dort nicht mehr aus und verließ das Krankenhaus früher, als es die Ärzte erlaubt hatten. Sie erklärte, solange sie bei Galle die Abtreibung nicht vorgenommen hätte, bekäme sie keinen Bissen mehr hinunter und täte kein Auge mehr zu. So sehr liege die Sache ihr am Herzen. »Da sieh einer an, so verantwortungsvoll ist sie! Was denkst du, ist sie überhaupt noch ein Mensch? Sie ist ein Dämon! Ein Teufel!« Mein Vater seufzte. Chen Nase und seine kleine Tochter Ohr wurden in der Kommune eingesperrt. Man erzählt sich, dass man die beiden an den Armen aufgehängt und ausgepeitscht habe, damit sie Galles Versteck verrieten. Aber das sind Gerüchte. Der Dorfkader sei dort gewesen und habe anschließend berichtet, sie seien in einem Raum eingesperrt gewesen, eine Pritsche mit Matratze, eine Thermoskanne und zwei Becher hätten sie gehabt, Essen und Wasser seien ihnen auch gebracht worden. Die hätten das Gleiche zu essen bekommen wie die Kommunekader: Hefenudeln aus hellem Mehl, Hirsereisbrei und dazu immer Gemüse. Die beiden hätte man dort weiß und rund gefüttert. Natürlich hätten sie das Essen nicht umsonst bekommen! Das hätten sie bezahlen müssen. Chen Nase sei schließlich ein reicher Geschäftsmann gewesen. Die Kommune sei mit der Bank übereingekommen, dass alles Geld, was er auf der Bank hatte, abgehoben und gepfändet werden konnte. Es seien achtunddreißigtausend Yuan gewesen. Während deine Tante im Krankenhaus lag, schickte die Kommune eine Arbeitsgruppe ins Dorf. Man hielt eine Vollversammlung ab und gab einen politischen Beschluss bekannt. »Alle Dorfbewohner, die in der Lage sind, zu Fuß zu gehen, haben Wang Galle zu suchen. Dafür werden jedem zusätzlich fünf Yuan täglich ausbezahlt. Bezahlt wird dieses Geld von den achtunddreißigtausend Yuan, die Chen Nase auf der Bank hat.« Die Dörfler wollten eigentlich nicht kommen, um sich das Geld auszahlen zu lassen, denn sie fanden, dass es unredlich verdientes Geld sei. Aber es musste sein, denn wer sich verweigerte, dem wurden fünf Yuan vom Lohn abgezogen. Also gingen alle hin. Über siebenhundert Leute gab es im Dorf. Am ersten Tag kamen mehr als dreihundert. Abends bekam man den »Zuschuss« ausbezahlt, auf einen Schlag wurden Chen Nase tausendachthundert Yuan abgezogen. Die Kommune gab noch bekannt, dass demjenigen, der Galle aufspürte und zurückbrächte, eine Belohnung von zweihundert Yuan ausbezahlt werde. Wichtige Hinweise auf ihren Aufenthaltsort würden mit hundert Yuan belohnt. Im Dorf entstand ein Durcheinander wie in einem Bienenkorb. Wie die Verrückten spuckten die einen in die Hände und legten fröhlich los. Andere grämten sich im Geheimen darüber. Vater sagte, es habe tatsächlich welche gegeben, die sich gerne die zweihundert oder hundert Yuan Belohnung verdient hätten. Die meisten aber hätten nicht richtig gesucht, nur draußen auf dem Feld zwei, drei Runden gedreht und kurz nach Wang Galle gerufen: »Galle, komm raus! Wenn du nicht rauskommst, haben die euer Geld bald bis auf den letzten Rest an die Leute verteilt!« So hätten sie ein paar Mal gerufen und seien dann nach Hause verschwunden, um an ihre Arbeit zu gehen. Abends hätten sie natürlich den Zuschuss abholen müssen, denn sonst hätte man ja Strafe zahlen müssen. »Ist Galle noch nicht gefunden worden?« fragte ich. »Wo soll man denn suchen? Ich schätze mal, sie ist über alle Berge. Doch wohin soll ein so kleines Persönchen laufen? Ein Schritt gerade mal zwei kleine Spannen lang, dazu ist sie noch hochschwanger.« Ich sagte: »Ich schätze, sie wird irgendwo im Dorf versteckt.« Nun flüsterte ich: »Vielleicht ist sie ja doch bei ihrer Mutter.« »Und darauf musst jetzt ausgerechnet du aufmerksam machen, oder wie? Die Leute in der Kommune«, so mein Vater, »sind so durchtrieben. Die würden am liebsten den gesamten Boden unter Wang Beins Haus einen Meter tief umpflügen und auch noch den Kang auseinanderreißen, um nachzusehen, ob er sie darin verborgen hält. Ich schätze mal, keiner wagt es, sie zu verstecken. Darauf steht eine Strafe von dreitausend Yuan.« »Ob sie auch nicht auf dumme Gedanken kommt? Sollte man mal im Brunnen oder am Fluss schauen, ob sie sich was angetan hat?« Vater widersprach: »Da unterschätzt du dieses kleine Persönchen gehörig! Da kannst du die gesamten Dörfler bei uns zusammennehmen, die reichen nicht an sie heran. Großherzig, duldsam und klug ist sie. Ihre Intelligenz übertrifft die eines Zweimetermannes um Längen.« Mein Vater hatte Recht, ich erinnerte mich an Galles lebhaftes kleines Gesicht. An ihren manchmal listigen Blick, ihre Verbissenheit und ihre starken Nerven. Besorgt sagte ich: »Sie ist wohl schon im siebten Monat?« »Deswegen dreht deine Tante ja so durch. Sie sagt immer, ist es noch nicht durch die Ofentür, so ist es nur ein Stück Fleisch, und da wird auf Teufel komm raus küretiert und ohne Wenn und Aber abgetrieben. Doch ist es erst durch die Ofentür, zählt es als Mensch. Dann macht es auch nichts, wenn ein Arm oder ein Bein fehlt. Ist es ein Mensch, genießt es den Schutz des Gesetzes.« Mir erschien im Geiste Galles Gestalt, nicht einmal einen Meter groß, mit dem riesengroßen Bauch einer Hochschwangeren, das kleine, scharfsinnige Köpfchen hoch erhoben. Auf ihren kurzen, zarten Beinchen trippelt sie schnell mit einem großen Bündel unter den Armen durch dorniges Gestrüpp entlang der öden Straße. Abgehetzt, auf der Flucht. Sehe vor mir, wie sie strauchelt, weiterrennt, sich umschaut, doch stürzt, sich aufrappelt, weiterrennt ... Oder wie sie in einem großen Fass sitzt, so einem, in dem die Bauern bei uns Sojabohnenpaste machen, schwer keuchend, während sie der brodelnde Fluss hin und her schaukelnd mit sich führt ... 3 Drei Tage nach der Beerdigung meiner Mutter feierten wir nach altem Brauch das Grabfest. Alle Verwandten und Freunde kamen. Wir verbrannten vor ihrem Grab Figürchen aus Papier, kleine Menschlein, Pferde, sogar einen papiernen Fernseher. Zehn Meter von Mutters Grab entfernt befand sich Renmeis. Darauf sprießte schon in frischem Grün das Unkraut. Ein älteres Mitglied unserer Familie hatte mir gesagt, ich solle in die linke Hand eine Handvoll Reis, in die rechte eine Handvoll Hirse nehmen und so das Grab meiner Mutter mehrfach umrunden. Dreimal linksherum und dreimal rechtsherum. Dabei solle ich den Reis und die Hirse langsam über das Grab streuen und leise beten: Eine Handvoll frischen Reis und eine Handvoll Hirse geb’ ich für die Toten hin, damit sie es gut haben und glücklich werden. Meine Tochter folgte mir auf Schritt und Tritt und warf mit ihren kleinen Händen ebenfalls Hirse und Reis auf das Grab. Gugu, wie immer schwer beschäftigt, kam direkt von der Arbeit, Xiao Shizi folgte ihr mit dem Arzttornister auf dem Rücken. Gugus Bein war noch nicht ganz ausgeheilt, deshalb hinkte sie ein wenig. In den paar Monaten, in denen ich sie nicht gesehen hatte, schien sie merklich gealtert. Sie kniete vor Mutters Grab nieder und begann sofort laut zu weinen. Niemals vorher hatten wir sie so weinen sehen, wir waren ganz erschüttert. Kleiner Löwe stand ehrerbietig mit tränenfeuchten Augen an ihrer Seite, derweil ein paar Frauen zu ihr traten, sie beruhigten und ihr hoch halfen. Aber sobald sie sie losließen, warf sich die Tante gleich wieder vor Mutters Grab nieder und weinte noch herzzerreißender. Die Frauen, die sich bereits beruhigt hatten und nicht mehr weinten, ließen sich von Gugus Weinen anstecken. Alle traten wieder zum Grab und begannen von neuem. Sie weinten, dass Himmel und Erde erzitterten. Ich bückte mich und zog Gugu hoch, Kleiner Löwe flüsterte mir zu: »Lass sie weinen, sie hat die Tränen zu lange zurückgehalten.« Ich fühlte mich getröstet, als ich Shizis Anteilnahme spürte. Dann hatte Gugu sich ausgeweint. Sie erhob sich und wischte ihre Tränen ab: »Kleiner Renner, Vorsitzende Yang hat mich angerufen. Du willst deinen Dienst quittieren und die Truppe verlassen?« »Richtig, ich habe mein Entlassungsgesuch bereits eingereicht.« »Vorsitzende Yang wünscht sich, dass ich dich umstimme«, sagte Gugu. »Sie hat mit den leitenden Kadern aus der Stabsabteilung bereits alles abgesprochen. Du wirst in die Abteilung Geburtenplanung versetzt und bist sodann ihr unterstellt. Das bedeutet eine vorzeitige Beförderung in den Rang eines Reservebataillonskommandeurs. Sie schätzt dich sehr.« »Das macht keinen Sinn mehr. Da schaufele ich lieber Scheiße, als dass ich zur Geburtenplanung gehe.« »Hier liegst du falsch. Die Geburtenplanung ist auch ein Teil der Parteiarbeit. Sie ist genauso wichtig.« »Tante, Ihr ruft bitte die Vorsitzende Yang für mich an und bedankt Euch an meiner Stelle für die Fürsorglichkeit. Aber ich werde lieber meinen Dienst quittieren. Ich mag meinen alten Vater und mein kleines Kind nicht allein zu Hause lassen. Wir müssen ja schließlich weiter zurechtkommen.« »Nun verdirb nicht gleich alles, sondern überleg erst einmal in Ruhe. Ob du es dir wirklich leisten kannst, die Truppe zu verlassen? Am besten bleibst du doch dabei. Die Arbeit an der Basis ist schwer. Schau dir die Vorsitzende Yang Herz und schau dir mich an. Wir arbeiten beide für die Geburtenplanung. Sie pflegt sich und frönt dem Müßiggang. Und ich? Ich wühle mich hier durch, blutverschmiert und tränenüberströmt. Manchmal frage ich mich wirklich, was aus mir geworden ist.« 4 Ich gebe es ja zu. Ich bin jemand, der nach Ruhm und Profit giert. Ich töne groß herum, dass ich meinen Dienst quittiere, dass ich das Entlassungsgesuch eingereicht habe, ziehe es aber sofort wieder zurück, als ich von einer vorgezogenen Beförderung höre. Ich höre, die Vorsitzende Yang schätzt mich, und schon werde ich schwach. Wieder zu Hause, erzählte ich meinem Vater davon. Er war ebenfalls dagegen, dass ich die Truppe verließ. »Denn damals erwies dein Großonkel dem Kommandanten Yang eine Gefälligkeit und heilte sein Bein, und die Krankheiten von dessen Frau heilte er auch. Wenn du jetzt zu einer so hohen Beamtin gute Verbindungen hältst, sollten deine Zukunftsaussichten glänzend sein.« Ich hielt zwar dagegen und brachte irgendwelche Einwände vor, aber ich hatte das gleiche Gefühl wie mein Vater. Wenn wir gewöhnlichen Leute, wir einfachen Bauern, die keinem besonderen Geschäft nachgehen, uns einbilden, wir könnten uns mit einem Drachen oder Phönix verbinden, und das dann tatsächlich tun, kann man uns das ja wohl nachsehen. Deshalb war ich, als mich meine Tante erneut aufsuchte, nicht mehr so stur. Als sie mir wie früher schon einmal empfahl, Shizi zur Frau zu nehmen, begannen die Mauern in meinem Herzen zu bröckeln. Trotzdem tischte ich natürlich die Geschichte von Wang Leber und seiner inzwischen mehr als zehn Jahre währenden Liebestollheit auf. Meine Tante sagte aber: »Ich habe keine Kinder, Renner. Für mich ist Kleiner Löwe wie eine leibliche Tochter. Sie hat einen ordentlichen Charakter, ein gutes Herz, ist mir unendlich treu. Ich würde sie doch nicht Wang Leber zur Frau geben.« »Tante, es ist dir bestimmt nicht verborgen geblieben, dass er ihr, seit er 1970 den ersten Brief an sie abschickte, nun bereits zwölf Jahre lang immer wieder schreibt. Insgesamt an die sechshundert Mal, das hat er mir selbst gesagt. Um ihr seine Liebe zu beweisen, hat er sogar seine eigene Schwester verraten. Natürlich hat er auch Yuan Backe verraten und Wang Renmei. Woher sonst willst du gewusst haben, dass Backe den Frauen heimlich die Spirale herausgenommen hat? Woher sonst, dass Renmei und Galle eine ›unverhoffte Schwangerschaft‹ geplant haben?« »Jetzt sage ich dir mal was, kleiner Renner: Kleiner Löwe hat keinen dieser peinlichen Briefe zu Gesicht bekommen. Ich habe sie alle abgefangen. Ma, dem Leiter der Poststelle, habe ich die Anweisung gegeben, alle Briefe dieses Absenders nur mir persönlich auszuhändigen.« »Für eure Arbeit war euch Wang Leber gut genug. Er hat maßgeblich zu eurem Erfolg beigetragen. Es begann mit der Zwangssterilisation seines Vaters. Schon damals hat er euch unterstützt. Er hat euch für die gerechten Ziele der Politik sogar seine Familie ans Messer geliefert. Selbst seine leibliche Schwester hat er verpfiffen.« »Jemanden, der wegen einer Frau seine Freunde, sogar die eigene kleine Schwester verrät, kann man erst recht nicht heiraten!« Meine Tante geriet in Wut: »Glaubst du, so einer bleibt treu?« »Er hat euch doch aber geholfen!« »Die zwei Mal, Renner. Merk dir, du kannst alles machen, aber«, Gugus Stimme nahm einen beschwörend dunklen Ton an, »sei kein Verräter! Niemals, egal, welche edlen Gründe dich dazu bewegen mögen. Werde nie zum Verräter! Heute wie gestern, ob in China oder im Ausland. Mit einem Verräter nimmt es ein erbärmliches Ende. – Genauso Wang Xiaoti! Auch wenn er diese Prämie von fünftausend Unzen Gold eingesteckt hat – ich wette, der wird zur Hölle fahren! Da flieht einer heute wegen einer Prämie von fünftausend Unzen Gold in die Arme der Kuomintang und anderntags kommt die nächste Partei, die ihm zwanzigtausend bietet. Wird er dann wieder alle verraten? Je mehr Informationen Leber uns zuschiebt, desto mehr verachte ich ihn. Er ist in meinen Augen nur ein Haufen Scheiße.« »Tante, was wäre passiert, wenn du seine Briefe nicht abgefangen hättest? Hätte er Shizis Herz womöglich gerührt? Wäre sie womöglich längst mit ihm verheiratet?« »Unmöglich! Absolut unmöglich! Kleiner Löwe steht über solchen Dingen. Sie ist hoch ambitioniert. Wang Leber ist nicht der einzige gewesen, der sich in sie verliebt hat. Es waren mehr als ein Dutzend. Kader, Arbeiter, keiner war ihr gut genug.« Ich wiegte zweifelnd den Kopf: »Nun ja, sie sieht gar nicht besonders schön ...« »Pfui Teufel!«, kam es sofort von Gugu, »was hast denn du für einen Geschmack? So vielen Frauen begegne ich, die auf den ersten Blick wunderhübsch aussehen. Und wenn du einmal ein bisschen genauer hinschaust, dann ist da alles im Argen. Kleiner Löwe dagegen? Auf den ersten Blick ist sie vielleicht nicht besonders schön, aber je länger man sie betrachtet, umso schöner erscheint sie. Du hast sie dir bisher wohl nicht genau angesehen? Ich sage dir, mein Sohn: Ich habe jeden Tag mit allen möglichen Frauen zu tun. Ich weiß, welche die wirklich kostbaren, schönen sind. Du erinnerst dich doch noch? Als du zum Kader befördert wurdest, habe ich sie dir zum ersten Mal angetragen. Aber du warst mit Wang Renmei zusammen. In mir sträubte sich alles dagegen. Aber in der neuen chinesischen Gesellschaft existiert ja das Recht auf freie Wahl des Ehepartners, auf eine Liebesheirat. Da kam ich als Tante natürlich nicht umhin, brav ein paar glückverheißende Sätze zu sagen. Nun hat Wang Renmei den Platz frei gemacht – natürlich wollte ich nicht, dass sie stirbt. Ich habe ihr gewünscht, dass sie steinalt wird, dass sie immer gesund bleibt – es war der Wille des Himmels. Die Vorsehung hat es so bestimmt. Deines und Xiao Shizis Schicksal ist es, für die jetzt kommende Zeitspanne ein Ehepaar zu werden.« »Gugu, du magst sagen, was du willst, aber ich bin seit jeher Wang Lebers bester Freund«, erwiderte ich nur. »Jeder weiß, dass er Shizi vergöttert. Würde ich sie jetzt heiraten, die Leute würde mich voller Abscheu so heftig anspucken, dass ich darin ertrinken müsste!« »Da hast du was gehörig durcheinandergebracht. Wenn er Shizi liebt, macht er die Rechnung ohne den Wirt! Ein fahrender Friseur hat am Tragjoch nur in einem der beiden Eimer warmes Wasser, im anderen nicht. Ich hab bisher nicht gehört, dass sie gesagt hätte, sie wolle mit Leber zusammen sein. Heiratet sie dagegen dich, so nennen wir das: Ein gutes Huhn wählt sich den Baum für sein Nest selbst. Dann hätte der Topf endlich seinen Deckel gefunden. Außerdem haben Liebesdinge nichts mit Kameradschaft oder Männerfreundschaften und derlei Werten zu tun. In dieser Beziehung solltest du ausschließlich eigennützig vorgehen. Wäre Kleiner Löwe ein Pferd, das Wang Leber gefällt, könntest du es ihm ja überlassen. Sie ist aber ein Mensch, in den du dich verliebt hast. Da musst du kämpfen, auch wenn du sie dir mit Gewalt holen musst. Mein Junge, du schlägst dich da draußen seit Jahren durchs Leben, hast ausländische Filme ohne Ende gesehen und bist immer noch so borniert, dass du es nicht hinkriegst, so etwas locker anzugehen?« »Selbst wenn ich mich einverstanden erklärte, aber Kleiner Löwe – was ist, wenn sie ...« Gugu unterbrach mich sofort: »Da mach dir da mal keine Sorgen! Ich kenne sie. Nach so vielen Jahren, wie wir beide schon zusammen sind! Ich lese aus ihr wie aus einem offenen Buch. Ich sag dir jetzt mal die ganze Wahrheit: Sie liebt nur dich! Wäre Wang Renmei nicht abgetreten, bliebe sie für den Rest ihres Lebens solo.« »Tante, lass es mich noch einige Tage überdenken«, sagte ich nur, »die Erde auf Renmeis Grab ist noch frisch.« »Was gibt es da zu überdenken? Schieb es nicht auf die lange Bank! Wenn Renmei jetzt im Himmel ist und auf uns herabschaut, wird sie in die Hände klatschen und es gutheißen. Und warum? Weil Kleiner Löwe ein gutes Herz hat. Bekommt ihre Tochter eine solche Stiefmutter, hat sie Glück! Außerdem kannst du nach den Richtlinien unserer Politik mit diesem Mädchen ein Kind zeugen. Ich wünsche mir für euch, dass ihr Zwillinge bekommt. Renner, mach aus Gift Medizin, du kannst noch alles Unglück in Glück verwandeln. 5 Der Hochzeitstag wurde festgesetzt. Alles wurde nach Gugus Vorstellungen abgewickelt. Ich fühlte mich wie ein fauliges Stück Holz, das auf dem Wasser treibt. Ein Schubs und ich bewegte mich. Mit dem Gang zur Amtsstube der Kommune, um die Heirat eintragen zu lassen und die Heiratsurkunde zu beantragen, unternahmen Kleiner Löwe und ich zum zweiten Mal etwas allein. Beim ersten Mal hatten wir uns im Wohnheim getroffen. Auch das war ein Sonnabendvormittag gewesen. Gugu hatte uns ins Zimmer geschoben, die Tür geschlossen und war weggegangen. Im Zimmer gab es zwei Betten, zwischen den Betten ein Nachtschränkchen mit drei Schubladen, worauf sich völlig verstaubte Zeitungen und ein paar Bücher über Frauenheilkunde türmten. Vor dem Fenster sah man ein paar prächtige Sonnenblumen. Sie standen in voller Blüte, Bienen hatten sich darauf niedergelassen und sammelten fleißig Nektar. Kleiner Löwe hatte mir ein Glas Wasser eingegossen und sich dann auf die Kante ihres Bettes gesetzt. Ich saß auf Gugus Bettkante. Im Zimmer roch es nach parfümierter Seife. Die Waschschüssel auf dem Ständer Marke Red Lantern war noch halbvoll mit Seifenwasser, Gugus Bett war unordentlich, die Decke nicht zusammengelegt. »Gugu ist wohl überstürzt zur Arbeit los?« »Ja.« »Es kommt mir vor wie ein Traum.« »Mir geht es genauso.« »Weißt du, was mit Leber ist? Der hat dir fast sechshundert Briefe geschrieben.« »Das hat Gugu mir mal gesagt.« »Was denkst du darüber?« »Weiß nicht.« »Ich war schon mal verheiratet. Eine kleine Tochter habe ich auch. Ist dir das nicht unangenehm?« »Nein.« »Sprich doch erst mal mit deiner Familie darüber!« »Ich habe keine Familie.« Ich brachte sie mit dem Fahrrad zur Kommuneverwaltung. Die Straße war gerade mit Ziegelschotter ausgebessert worden, das Fahrrad ruckelte hin und her; es war schwer, die Spur zu halten. Sie saß auf dem Gepäckträger, die Schulter an meinen Rücken gelehnt. Ich spürte ihr Gewicht. Es gibt Leute, die lassen sich prima auf dem Gepäckträger mitnehmen, bei anderen ist es furchtbar anstrengend. Wang Renmei gehörte zu der ersten, Kleiner Löwe zur zweiten Sorte. Ich mühte mich ab und trat mit aller Kraft in die Pedalen. Dann riss die Kette. Ich bekam einen Wahnsinnsschreck, denn ich dachte sofort: Ein schlechtes Omen! Würde ich auch mit ihr nicht immer zusammenbleiben und würde unsere Beziehung unglücklich zerreißen? Wie eine Schlange lag die Kette auf der Erde. Ich klaubte sie auf und blickte mich hilfesuchend um. Zu beiden Seiten der Straße wuchs Mais, ein paar Frauen waren damit beschäftigt, die Pflanzen mit einem Insektenschutzmittel zu besprühen. Die Spritzflaschen machten beim Pumpen laute Geräusche, es hörte sich an wie Fliegeralarm. Die Frauen hatten eine Plastikplane um die Schultern gelegt, einen Mundschutz vor dem Gesicht und ein Kopftuch umgebunden. Was für eine grausige Arbeit. Wie die Wölkchen so aus dem grasgrünen Mais nach oben aufstiegen, war man fast versucht, in dieser Szenerie eine gewisse Poesie zu entdecken, kamen einem doch glatt auf Wolken reitende und durch Nebel driftende Unsterbliche in den Sinn. Ich musste an Wang Renmei denken. Sie war mutig gewesen. Sie traute sich sogar, Schlangen zu fangen. Sie griff sie am Schwanz, so wie ich die Fahrradkette aufgeklaubt hatte. Sie hatte auch eine Zeitlang diese Insektenschutzmittel spritzen müssen. Denn nachdem sie die Verlobung und den Ehevertrag mit Xiao Unterlippe wieder rückgängig gemacht hatte, war sie von der Schule entlassen worden. Ihr Haar roch nach der Arbeit stark nach Pestiziden, aber sie lachte nur und sagte, so spare sie das Haarewaschen. Kopfläuse und Mücken würden nun einen großen Bogen um sie machen. Beim Haarewaschen hielt ich ihr den Krug und goss ihr von hinten das Wasser übers Haar. Sie hielt den Kopf über die Schüssel gebeugt, schluckte Wasser und lachte. Als ich fragte, worüber sie denn lache, lachte sie noch mehr, so heftig, dass die Waschschüssel zu Boden fiel. Während ich an sie dachte, hatte ich sofort wieder Gewissensbisse, so schuldig fühlte ich mich. Ich schielte zu Kleiner Löwe hinüber. Sie hatte sich extra hübsch gemacht: Sie trug eine brandneue rotkarierte, kurzärmlige Bluse mit Hemdblusenkragen und ihr Handgelenk schmückte eine blitzende Quarzuhr. Sie besaß einen üppigen Körper in der Blüte der Jahre! Außerdem hatte sie eine Gesichtscreme mit Perlenpuder aufgelegt, deren feinen Duft ich noch in der Nase hatte. Die Pickel auf ihrem Gesicht stachen nicht mehr so ins Auge. Es waren noch eineinhalb Kilometer bis zur Kommuneverwaltung, die wir wohl oder übel zu Fuß gehen mussten. Vor dem Kommuneschlachthof trafen wir auf Chen Nase mit seiner Tochter Ohr auf dem Rücken. Sowie er uns sah, froren seine Gesichtszüge ein. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, als ich seinen Blick sah, so sehr schämte ich mich. Er drehte sich weg, er wollte mich nicht grüßen. »Chen Nase«, rief ich noch. »Huch, ich denke gerade, welch hohes Tier kommt denn hier vorbei!« Wie spitze Pfeile trafen mich seine Worte. Kleiner Löwe warf er einen bitterbösen Blick zu. »Die haben dich laufen lassen?« »Das Kind hat hohes Fieber, es ist krank. Wenn’s nach mir geht, hätte ich auch drin bleiben können, meinetwegen für den Rest meiner Tage, zu Essen gab’s genug. Was soll’s.« Kleiner Löwe trat besorgt hinzu und befühlte Chen Ohrs Stirn. Chen Nase drehte sich weg und wich ihr aus. »Bring sie schnell ins Krankenhaus, sie hat fast vierzig Grad Fieber«, rief Kleiner Löwe ihm zu. »Das ist doch kein Krankenhaus, was ihr da habt! Das ist ein Schlachthof!« »Ich weiß, dass du uns hasst, aber wir können nichts dagegen tun!« »Wie bitte? Ich hör wohl nicht richtig? Ihr tut viel zu viel!« »Chen Nase, bitte trag es nicht auf dem Rücken des Kindes aus. Komm, lass uns ins Krankenhaus gehen. Ich bringe dich hin.« »Nein danke, Mädel«, gab er kalt lachend zurück, »ich will euch nicht aufhalten. Ich komme allein zurecht.« »Nase, wie kann ich es dir erklären?« »Spar dir deine Worte, Renner! Ich hatte ursprünglich angenommen, dass du ein Mensch bist. Nun weiß ich, du bist es nicht.« »Denk, was du willst«, sagte ich, »aber bitte bring dein Kind ins Krankenhaus!« Mit diesen Worten steckte ich ihm ein paar Geldscheine in die Jackentasche. Er machte eine Hand frei, holte die Scheine wieder hervor und schmiss sie zu Boden: »Dein Geld stinkt nach Blut!« Dann ging er mit seiner Tochter auf dem Rücken. Ich schaute ihm atemlos nach, wie er sich immer weiter entfernte. Dann bückte ich mich, um das Geld wieder aufzusammeln, und steckte es in die Tasche. »Er ist euch gegenüber sehr voreingenommen.« Mein Blick streifte Shizi, als ich das sagte. »Pah! Der! Der soll die Schuld mal schön bei sich selber suchen!«, antwortete sie empört. »Was meint der wohl, wie wir uns dabei fühlen? Und wir haben niemanden, dem wir unser Herz ausschütten könnten!« Um eine Heiratsurkunde zu beantragen, braucht man als Soldat ein Empfehlungsschreiben der Truppe. Aber der Amtsdiener Lu Mazi, der unsere Dorfverwaltung leitete, lachte uns an: »Ihr braucht das nicht. Eure Tante hat mir schon Bescheid gegeben. Sie sagte: ›Mein Sohn Wan Renner tut bei euch in der Truppe Dienst, seit vorletztem Jahr ist er bei euch in der Truppe. Er ist ein helles Köpfchen. Was der anpackt, gelingt ihm sofort. Hilf ihm ein bisschen, ja?‹« Als ich die Heirat im Familienmelderegister eintragen lassen wollte und meinen Fingerabdruck hinterlassen sollte, zauderte ich einen Augenblick, denn ich erinnerte mich daran, wie ich hier mit Renmei die Ehe anmeldete und eintragen ließ. Es waren noch das gleiche Eheregister, die gleiche Amtsstube, der gleiche Beamte. Als ich damals den hellroten Fingerabdruck machte, rief Renmei freudestrahlend aus: »Stark! Eine Schnecke im Fingerabdruck! « Lu Mazi sah mich an, dann Shizi. Mit einem Scheißlächeln sagte er spitz: »Wan Fuß, du Schlawiner! Hast du ein Glück bei den Frauen! Schnappst uns hier die schönste Frau aus unserer ganzen Kommune vor der Nase weg!« Dann klopfte er mit dem Finger auf die Stelle, wo der Fingerabdruck hingehörte: »Drück den Finger drauf. Wer wird denn da noch überlegen!« Seine Worte hörten sich an, als mache er sich über mich lustig – kein Zweifel, er verhöhnte mich. Verdammter Mist, sollte er doch. Mir war alles scheißegal. Ich sagte mir: Ich drück jetzt den Finger drauf und denke nicht mehr darüber nach. Aus und fertig! Und mein Leben? Ach, was soll’s. So ein Menschenleben geht schnell vorüber, und es ist sowieso vieles im Leben von der Vorsehung bestimmt. Ich tue besser daran, jetzt mit dem Strom zu schwimmen, statt mein Boot flussaufwärts zu staken. Außerdem bin ich bis hierher aufs Standesamt mitgegangen. Wenn ich jetzt meinen Fingerabdruck nicht mache, reite ich Shizi doch böse rein. Eine Frau habe ich schon auf dem Gewissen. Die zweite darf ich nicht auch noch ins Verderben stürzen. 6 Ich glaubte damals, Gugu wäre nur mit unseren Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt und hätte Wang Galle längst vergessen, glaubte, sie hätte doch Mitleid bekommen und meine Hochzeitsangelegenheiten absichtlich zum Anlass genommen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, damit Galle in der Zwischenzeit ihr Kind bekommen konnte. Später erst begriff ich, dass die Tante nicht nur pflichtbewusst, sondern regelrecht pflichtbesessen war. Sie machte ihren Job nicht nur nach Treu und Glauben gut, sondern befand sich im Wahn der Pflichterfüllung. Sie war nicht nur mutig. Sie war Strategin und Machtmensch, der bei allem die Fäden stets in der Hand behielt. Man soll ihre edlen Absichten nicht anzweifeln, ihr nichts unterstellen, als sie mich mit Shizi verkuppelte. Sie glaubte wirklich, dass wir beiden gut zusammenpassten. Aber als sie überall laut hinausposaunte, dass sie jetzt unsere Hochzeit vorbereite, als sie Chen Nase und seine kleine Tochter Ohr aus dem Polizeiarrest freiließ, als sie verkünden ließ, dass die Dörfler nun nicht mehr verpflichtet seien, nach Wang Galle auf die Suche zu gehen, tat sie es in Wirklichkeit, um Galle in Sicherheit zu wiegen und deren Familie zu täuschen, damit sie weniger wachsam wäre. Sie hüllte ihre wahren Absichten in dichten Nebel. Dabei schoss sie mit einem Bogen zwei Pfeile zugleich ab und schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, denn sie hatte sich zum Ziel gesetzt: Dass ihr geliebtes Lehrmädchen, die ihr wie eine eigene Tochter war, endlich bei ihrem Neffen Heim, Herd und Familie fand, während sie Wang Galle aufspüren, hinterrücks verhaften und den illegalen Bastard in deren Leib vernichten könnte, bevor er noch »durchs Ofenrohr« rutschte. – So eine Ausdrucksweise erscheint unpassend, um Gugus Arbeit zu beschreiben. Aber mir fallen keine passenderen Wörter dafür ein. Am letzten Vormittag vor der Hochzeit ging ich zum Grab meiner Mutter und verbrannte dort Freudengeld für sie. Es ist ein besonderes Totengeld nur für solche Anlässe, so ist es bei uns seit alters her Brauch. Wahrscheinlich tut man das, um so die Seele der Verblichenen von dem freudigen Ereignis in Kenntnis zu setzen und sie zur Hochzeit einzuladen. Als ich das Totengeld angezündet hatte, wirbelte plötzlich ein leichter Wind die Asche auf. Sie wirbelte vor dem Grab meiner Mutter in der Luft. Ich weiß ja, dass man so etwas physikalisch erklären kann, aber ich war trotzdem entsetzt. Im Geiste sah ich die Gestalt meiner Mutter, wie sie zittrig, schwankend auf mich zukam, im Ohr klangen mir wieder ihre weisen, schlichten und dabei so tiefsinnigen Worte nach. Mir liefen die Tränen in Strömen die Wangen hinunter. Wenn sie mir jetzt noch einen Rat geben könnte? Welche Meinung hätte sie zu dieser Heirat? Der kleine Aschewirbel kreiste eine Weile über dem Grab meiner Mutter. Dann änderte er plötzlich die Richtung und flog zu Renmeis frisch begrüntem Grab hinüber. Ein Pirol ließ seinen traurigen Ruf vom Ast eines Pfirsichbaums ertönen. Mir wollte es das Herz zerreißen. In unserem großen Pfirsichhain waren gerade die Früchte reif, Mutter und Renmei hatten wir ja dort beerdigt. Ich pflückte zwei große, rosenrote und spitz nach oben zulaufende Pfirsiche vom Baum und legte einen meiner Mutter aufs Grab, den anderen trug ich zum Grab meiner verstorbenen Frau Renmei. Bevor ich zu den Gräbern gegangen war, hatte mir Vater noch aufgetragen: »Wenn du das Totengeld verbrennst, vergiss nicht, auch vor Renmeis Grab ein wenig zu verbrennen.« »Renmei, ich bin noch nicht dazu gekommen«, begann ich im Geiste zu beten. »Renmei, verzeih mir, ich werde dich niemals vergessen, nie werde ich die Wohltaten vergessen, die ich durch dich erfahren habe. Kleiner Löwe ist bestimmt ein guter Mensch. Sie wird lieb zu unserer kleinen Yanyan sein. Wenn nicht, werde ich nicht mit ihr zusammenbleiben. Das verspreche ich dir.« Ich verbrannte Totengeld vor ihrem Grab und kletterte dann hinauf, um ein neues Schutz-Papier anzubringen. Ich betete zu ihr: »Renmei, ich weiß zwar, dass es dich nicht erfreut, aber ich lade dich von ganzem Herzen ein, mein Gast zu sein. Bitte komm mit Mutter zusammen nach Hause und sei mein Gast auf meiner Hochzeit. Ich werde im Wohnzimmer auf dem Hausaltar bei den Ahnentafeln vier frisch gedämpfte Hefenudeln bereitstellen und etliche Gemüse und auch von den süchtig machenden Schokoladenschnapsbohnen, die du immer so gerne mochtest, du weißt, die, die zuerst wie Medizin schmecken, dann aber nach Schokolade. Den Toten das Beste! Ihr sollt fröhlich speisen.« Auf dem Rückweg nahm ich den Weg durch die Plantage am Feldrain entlang. Das Gras zu beiden Seiten des Rains war kniehoch gewachsen, und das Regenwasser in den Bewässerungsgräben stand hoch bis an den Rand und gurgelte schnell dahin. Die Pfirsichplantage erstreckte sich nach Süden bis hin zum Moshui-Fluss, nach Norden bis an den Kiaolai. Die Obstbauern waren dabei, Pfirsiche zu pflücken. In der Ferne sah man auf dem breiten Weg ein paar Dreirad-Trecker herumsausen. Wang Leber stand plötzlich vor mir, als wäre er eben aus dem Erdboden, aus irgendeiner Erdader hervorgeschnellt, und versperrte mir den Weg. Er trug, wie mir gleich auffiel, eine noch ziemlich neue Uniform, die ich ihm im Jahr zuvor geschenkt hatte. Auch hatte er sich einen frischen Fünf-Millimeter-Bürstenhaarschnitt zugelegt und war tipp topp rasiert. Er war immer noch schmächtig, sah aber angenehm wach und energiegeladen aus. Alles Lasche und Niedergeschlagene von früher war wie weggepustet. Wie beruhigend war es für mich, ihn so zu sehen. Dennoch spürte ich, wie mir das Herz in die Hose sackte, so peinlich war es mir, ihm zu begegnen. »Leber, du, im Grunde ...« Leber winkte lachend ab und zeigte mir seine zwei Reihen gelber Zähne: »Renner, du musst mir nichts erklären. Ich kann es nachvollziehen. Ich verstehe es, weißt du? Ich wünsche euch beiden Glück.« »Mensch, Freund ...!« Meine Ohren sausten, gequält streckte ich den Arm vor und versuchte, ihm die Hand zu schütteln. Er wich zurück: »Du, ich erwache gerade aus einem langen Traum. Meine sogenannte Liebe ist eine schwere Krankheit gewesen. Jetzt werde ich langsam gesund.« »Das ist ja prima. Ich denke, dass es zwischen euch auch nicht gepasst hätte. Wenn du dich zusammenreißt, kannst du immer noch Großes bewegen. Dann kannst du dir unter noch viel feineren Mädchen das beste aussuchen.« »Ich bin wertlos geworden, Ausschuss sozusagen. Gekommen bin ich, dich um Verzeihung zu bitten. Hast du nicht bemerkt, dass vor Renmeis Grab Asche liegt? Ich verbrenne dort immer Totengeld für sie. Weil ich sie verraten habe, wurde Backe in Handschellen abgeführt und kam ins Gefängnis. Deswegen mussten sie und das Kind unter ihrem Herzen sterben. Du, ich bin ein Mörder.« »Das ist nicht dir anzulasten!«, entgegnete ich sofort. »Renner, ich habe auch lange Zeit jede Menge Rechtfertigungen gesucht, um mich zu beruhigen. Solchen Quatsch wie: Jemanden wegen verbotener Schwangerschaften anzuzeigen, ist eine Bürgerpflicht. Oder noch schlimmer: Es ist richtig, die gerechten Ziele der Politik über die der eigenen Familie stellen. Aber trotzdem lässt es mir keine Ruhe. Ich hatte auch keine hehren Ziele, die mich dazu bewogen hätten. Es waren niedere Beweggründe, heimliche Begierden trieben mich, ich wollte Shizi gefallen. Seitdem leide ich unter einer schweren Schlafstörung. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich Renmei, die mir mit ihren zwei bluttriefenden Händen das Herz aus dem Leibe reißen will ... Jedes Mal bekomme ich mehr Angst, dass ich nur noch wenige Tage zu leben habe.« »Leber, du grübelst zu viel. Du hast doch nichts Böses getan. Sei nicht abergläubisch. Sie ist bestimmt kein Rachegeist geworden. Wenn ein Mensch stirbt, ist es wie das Davonfliegen von Asche, als ob sich Qualm auflöst. Auch wenn die Totengeister bei den Menschen bleiben, wird Renmei bestimmt Ruhe geben. Sie war ein guter Mensch mit einem unschuldigen Herzen.« »Das ist nur zu wahr! Aber gerade weil sie so ein guter Mensch war, habe ich ein unerträglich schlechtes Gewissen. Renner, du brauchst mich nicht zu bemitleiden, du musst mir nicht verzeihen. Ich habe heute hier auf dich gewartet, weil ich dich um etwas bitten möchte.« »Schieß los, Freund.« »Bitte sag Shizi, sie soll deiner Gugu Folgendes erzählen: Galle kam am bewussten Tag direkt zu mir nach Hause gelaufen, nachdem sie aus dem Brunnen herausgeklettert war. Ihr Anblick hat mich gerührt, jeden Stein hätte er erweicht, und sie ist schließlich meine leibliche Schwester. Wie sie da ankam, so klein und im siebten Monat schwanger, und mich angefleht hat, ihr Leben und das ihres Kindes zu retten. Ich habe sie in einen Jauchetragkorb gesteckt, mit einer dicken Lage Stroh zugedeckt und dann noch einen Sack drübergelegt. Den Jauchetragkorb habe ich auf dem Gepäckträger meines Fahrrads festgebunden und bin zum Dorf hinausgefahren. Am Ortseingang bin ich auf Qin Strom gestoßen, der mich gleich unter die Lupe genommen hat. Qin Strom wird von der Tante als Spion eingesetzt, der die Leute verpfeifen soll. – Deine Tante ist wirklich in der falschen Epoche geboren und macht den falschen Job! Der Krieg wäre für sie ideal gewesen, und ihre ideale Aufgabe die einer Generalin, die ein Heer befehligt und gegen den Feind ins Feld führt. Qin Strom war der Letzte, dem ich begegnen wollte. Weil er deiner Tante den Lakaien macht und wie ein abgerichteter Hund alles für sie tut. So wie ich für Shizi jeden verpfiffen hab, ohne zu überlegen, so tut er dies für deine Tante. Er hat mich aufgehalten, hat wissen wollen, wo ich hinwollte. Wir beide haben so oft gemeinsam vor dem Krankenhaus gewartet, aber dennoch habe ich niemals ein Wort mit ihm gewechselt. Trotzdem weiß ich, dass er mich in seinem Herzen als Freund betrachtet. Wir sind Seelenverwandte, die mit der gleichen Krankheit geschlagen sind. Ich habe ihm mal geholfen, als er vor dem Gasthaus des Genossenschaftsladens von den Bettlern Gao Men und Lu Huahua aufs Korn genommen wurde und Hiebe einstecken musste. Du kennst ja die vier berühmten Dorftrottel Gao, Lu, Qin und Wang, die in Nordost-Gaomi die Straßen belagern, immer einen Haufen Gaffer anziehen und sich mit ihrem Zirkus zum Gespött der Leute machen. Mit Qin meine ich Qin Strom und mit Wang mich selbst. Renner, mein alter Freund, du kannst dir nicht vorstellen, welche Freiheit man gewinnt, wenn die Leute einen für verrückt halten, man es aber gar nicht ist! Ich bin also vom Fahrrad abgesprungen und habe Qin Strom fest in die Augen geschaut. ›Du bist bestimmt auf dem Weg zum Markt und willst ein Schwein verkaufen.‹ ›Richtig. Ich fahre ein Schwein verkaufen.‹ ›Im Grunde hab ich ja gar nichts gesehen.‹ Er hat mich laufen lassen. Zwei Narren, die sich auch ohne Worte verstanden haben. Bitte, Renner, sag Shizi, dass ich meine kleine Schwester auf dem Gepäckträger bis nach Kiautschou gefahren habe. Dort habe ich sie in den Überlandbus nach Yantai gesteckt. Dort sollte sie ein Billet für die Schiffspassage nach Dalian kaufen und von dort den Zug weiter nach Harbin nehmen. Du weißt ja, dass Chen Nases Mutter aus Harbin stammt. Er hat dort noch Verwandte. Galle hat genügend Geld bei sich, und ihr wisst ja auch, dass sie sehr klug und umsichtig ist. Sie hatte es schon lange geplant. Inzwischen sind gut zwei Wochen vergangen. Galle befindet sich längst an ihrem Ziel. Deine Tante streckt ihre Hand zwar nach allem aus, aber den Himmel erreicht sie nicht. In unserer Kommune mag sie das Hausrecht haben und tun und lassen können, was ihr beliebt, in anderen Regierungsbezirken und anderen Provinzen ist das jedoch nicht der Fall. Galle ist bereits im siebten Monat schwanger. Bis deine Tante sie gefunden hat, hat sie ihr Kind längst geboren. Deswegen richte ihr über Shizi aus, sie soll doch endlich Ruhe geben und die Sache als erledigt betrachten.« »Wenn es so ist, warum soll ich es ihr dann überhaupt sagen?«, fragte ich. »Damit will ich mich retten«, gab Wang Leber zur Antwort. »Das ist das Einzige, worum ich dich bitte.« Ich sagte: »Na gut, ich mach’s.« 7 Ich bin wirklich ein in jeder Hinsicht willensschwacher Mann. Ursprünglich dachte ich, dass ich es Renmei schuldig sei, in meiner und Shizis Hochzeitsnacht bis zum Morgengrauen meditierend vor einer roten Kerze zu sitzen. Weil ich ihr nur so meine ehrliche Reumütigkeit und Sehnsucht zeigen könnte. Aber ich habe vor mich hinbrütend nur bis Mitternacht durchgehalten, dann bin ich schwach geworden und habe Arm in Arm mit Shizi im Bett gelegen. Als ich Renmei heiratete, goss es in Strömen, in meiner Hochzeitsnacht mit Shizi goss es in Strömen und es ging ein Sturm. Es war eine Gewitternacht, Blitze zuckten unablässig vom Himmel, grell blauweißes Licht blendete, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern, und der Regen prasselte wie aus Kübeln nieder. Von überall her dröhnte das Klatschen und Prasseln der Wassermassen in unseren Ohren, der feuchte Wind mit dem Geruch von nasser Erde und verfaulten Pfirsichen drang durch die Ritzen der alten Holzfenster ins Hochzeitszimmer. Die rote Kerze war fast heruntergebrannt und flackerte, bis sie verglimmt war. Ich begann mich zu fürchten. Die Blitze zuckten alle paar Sekunden vom Himmel, im zittrigen Lichtschein des Blitzes sah ich Shizis weit geöffnete Augen aufblinken. Ihr Gesicht leuchtete golden auf. Dann folgte der Donner, so nah, als wäre es bei uns auf dem Hof, brenzliger Geruch stach uns in die Nase. Shizi schrie auf, ich nahm sie schnell in die Arme. Ich hatte befürchtet, sie wäre ein Brett, nicht erwartet, dass sie eine Papaya war. Eine fleischige, üppige Papaya, die bei der leisesten Berührung vor Saft triefte. Ihr Fleisch war reifes Papayafleisch und duftete genauso. Es ist schäbig, wenn ein Mann seine erste Frau mit der zweiten vergleicht. Ich zwang mich, keine derart blöden Gedanken zuzulassen, aber mein Kopf gehorchte mir nicht. Als unsere beiden Körper sich vereinten und ich in ihr und sie um mich war, waren auch unsere Herzen vereint. Ich sagte den schamlosen Satz: »Kleiner Löwe, ich finde, wir zwei sind noch mehr Mann und Frau, als ich es mit Renmei war.« Sie schloss mir sofort mit ihrer Hand den Mund: »Es gibt Dinge, die sollten einem nicht über die Lippen kommen.« »Leber hat mir aufgetragen, dir und Gugu etwas zu sagen. Er hat Galle bereits nach Kiautschou gebracht. Sie hat den Überlandbus nach Yantai genommen und ist von dort in die Mandschurei gereist.« Kleiner Löwe drehte sich um und setzte sich auf. Es blitzte wieder, und der Lichtschein flackerte über ihren Körper. Ihr Gesicht, soeben noch voller Leidenschaft, war streng und frostig geworden. Sie legte sich wieder hin und kroch in meine Arme, dann flüsterte sie mir ins Ohr: »Lügt er weiter so, bin ich mir erst recht sicher, dass Galle noch hier ist.« »Und wollt ihr sie«, fragte ich, »jetzt laufen lassen?« »Dazu kann ich nichts sagen. Das hängt von deiner Tante ab.« »Würde Gugu das tun?« »Unmöglich. Wenn sie sie laufen lässt, dann ist sie nicht mehr sie selbst.« »Warum seht ihr tatenlos zu? Worauf wartet ihr? Wisst ihr denn nicht, dass sie schon fast im achten Monat ist?« »Es stimmt nicht, dass Gugu tatenlos zusieht, sie hat viele Spitzel, die für sie im Verborgenen Nachforschungen anstellen.« »Habt ihr es herausbekommen?« »Was das angeht ...« Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich brauche ja wohl keine Geheimnisse vor dir zu haben. Sie halten sie bei Yanyans Oma versteckt. Sie befindet sich in dem Erdloch, in dem sie auch Renmei versteckt hatten.« »Und was wollt ihr jetzt machen?« »Ich höre auf Gugu.« »Was will Gugu denn tun? Dasselbe wie beim letzten Mal?« »Nein, so dumm ist sie nicht.« »Was dann?« »Gugu hat bereits jemanden zu Chen Nase geschickt, um ihm ausrichten zu lassen, dass wir wissen, wo Galle sich versteckt hält. Und dass er den Wangs bestellen soll, wenn sie Galle nicht herausgeben, kommen wir mit dem Kettentrecker und planieren ihr Gehöft und die Gehöfte ihrer vier Nachbarn.« »Yanyans Großvater und Großmutter werden sich stur stellen. Ihr wollt doch nicht wirklich die Häuser der Leute niederreißen und planieren?« »Gugu geht nicht davon aus, dass die Wangs Galle ausliefern. Sie will, dass Nase sie aus eigenem Antrieb dort wegholt. Sie hat Nase versprochen, dass er sein gesamtes Geld zurückbekommt, sobald er Galle zu ihr bringt und sie das Kind wegmachen lässt. Achtunddreißigtausend Yuan – ich bin überzeugt, dass wir ihn mit diesem Angebot weich klopfen können.« Ich seufzte tief: »Warum wollt ihr das Leben des Kindes vernichten, es ausmerzen ... Renmei habt ihr schon getötet. Reicht euch das nicht?« »Wang Renmei war selbst schuld, es war doch nur gerecht«, sagte Kleiner Löwe ungerührt. Ich spürte, dass ihr Körper plötzlich kühl geworden war. 8 Der Himmel war ständig bewölkt, es regnete ununterbrochen. Die Straßen waren überschwemmt und der Fluss führte Hochwasser. Die Lastwagen, die sonst aus den angrenzenden Provinzen kamen, um uns die großen Pfirsiche abzukaufen, die wir in Gaomi anbauen, kamen nicht. Alle hatten ihre Pfirsichernte eingebracht. Die vollen Körbe hatte man wie kleine Hügel übereinander gestapelt und zum Schutz vor dem Regen mit Folie abgedeckt. Andere Pfirsiche lagen unordentlich aufgetürmt in den Pfützen im Hof herum und litten unter dem prasselnden Dauerregen. Chinesische Saftpfirsiche lassen sich nicht gut lagern, deshalb war im letzten Jahr der Lastwagen des Händlers, der uns die Pfirsiche abkauft, direkt zu uns an die Plantage herangefahren. Wir pflückten, wogen gleich vor dem Auto und luden auf. Die Fahrer scheuten keine Mühen und fuhren die Fracht über Nacht zum Verkauf in fünfhundert Kilometer und noch entfernter gelegene Städte. In diesem Jahr wollte uns der Himmel nach Jahren reichen Pfirsichglücks offensichtlich eine Strafe erteilen. Seit die Pfirsiche reif waren, gab es keinen einzigen Tag mehr mit blauem Himmel. Nur noch Regenwetter, mal regnete es Bindfäden, mal nieselte es. Hätten wir die Pfirsiche nicht gepflückt, wären sie am Baum verrottet. Aber wenn wir sie schon gepflückt bereithielten, blieb uns der leise Hoffnungsschimmer: Sobald die Wolken aufreißen, rauf mit ihnen auf den Laster und ab in die Stadt! Aber jener Tag ließ auf sich warten. Es gab keinerlei Hinweis auf einen Wetterumschwung. Wir hatten nur noch dreißig Pfirsich- und Aprikosenbäume, weil mein Vater schon alt war, sich mit der Baumpflege nicht gut auskannte und weil der Ertrag meist gering war; doch dreitausend Kilo waren doch zusammengekommen. Wir besaßen auch nur wenige Obstkörbe, gerade mal sechszehn hatten wir gefüllt und im Seitenhaus auf den Gang gestellt. Die restlichen Früchte lagen aufgehäuft unter einer Plastikplane im Hof. Ständig trieb es meinen Vater in den Regen hinaus, wo er die Plane hochhob und prüfend einen der Pfirsiche in die Hand nahm. Jedes Mal, wenn er sie lüftete, roch es faulig. Seit ich mit Shizi verheiratet war, lebte meine Tochter bei meinem Vater. Immer wenn er durch den Regen in den Hof ging, lief meine Tochter mit einem kleinen Kinderregenschirm, der mit Tierbildern bedruckt war, hinterher. Meine Tochter behandelte mich und meine Frau kühl, aber einigermaßen höflich. Wenn Kleiner Löwe Süßigkeiten für sie hatte, verschränkte sie beide Hände auf dem Rücken, sagte aber trotzdem: »Danke, Tante.« Ich fiel ihr ins Wort: »Mama sollst du sagen.« Meine Tochter warf mir einen überraschten Blick zu. Kleiner Löwe sagte sofort: »Nicht nötig. Du brauchst mich nicht so zu nennen! Die anderen nennen mich Kleiner Löwe.« Sie zeigte auf einen kleinen Löwen auf dem bunten Regenschirm. »Nenn du mich Großer Löwe.« »Frisst du Kinder?«, fragte meine Tochter. »Ich fresse keine Kinder. Mein Beruf ist es, Kinder zu beschützen.« Vater kam wieder zur Tür herein, seinen Bambusstrohhut hatte er mit angefaulten Pfirsichen gefüllt. Während er sie mit einem rostigen Messer schälte, seufzte er in einem fort. »Wenn wir schon welche essen, können wir doch die guten nehmen«, sagte ich. »Die sind bares Geld!«, erwiderte Vater: »Heutzutage fühlt sich keiner mehr dem Volk verpflichtet.« »Vater!« Kleiner Löwe tat sich noch etwas schwer mit dieser Anrede, es klang aufgesetzt. »Die Regierung wird sich in jedem Fall darum kümmern, man wird bestimmt größten Einsatz zeigen.« »Ach was, die Regierung ist mit der Geburtenplanung beschäftigt, was anderes kümmert die doch gar nicht«, erwiderte Vater ausgesprochen vorwurfsvoll. Da ertönte aus den Lautsprechern der Dorfparteizentrale in schrillen Tönen eine Nachricht. Vater, in Sorge, dass er etwas verpassen könnte, eilte sofort hinaus auf den Hof und horchte. Es war eine Lautsprecherdurchsage, dass die Kommune mit den Städten Qingdao und Yantai die Abnahme der Pfirsiche geregelt habe und dass diese Lastwagenkonvois zu dem fünfundzwanzig Kilometer entfernten Fähranleger in Wujiaqiao schicken würden, um dort die Pfirsiche aus dem Nordosten Gaomis anzukaufen. Die Kommune rufe alle dazu auf, die Pfirsiche zu Wasser wie zu Lande nach Wujiaqiao zu befördern. Der Abnahmepreis betrage zwar nur die Hälfte des Vorjahrespreises, das sei aber immer noch besser, als alle Pfirsiche verderben zu lassen. Die Durchsage war kaum zu Ende, da brodelte es im gesamten Dorf. Ein geschäftiges Treiben begann, ich wusste, dass diese Geschäftigkeit nun alle Dörfer in ganz Nordost-Gaomiland erfassen würde. Obwohl wir hier am Fluss leben, besaßen wir nur wenige Boote. Ursprünglich hatte zwar jede Produktionsbrigade ihr eigenes kleines Holzboot gehabt, aber als die familienverantwortlichen Ablieferungsquoten eingeführt wurden, verschwanden die Boote schnell. In jedem Menschen schlummert eine schier unermessliche Schöpferkraft. Dieser Ausspruch stimmt haargenau. Vater ging ins Seitenhaus und holte vom Gebälk vier Kalebassen herunter, dann schleppte er vier Bretter herbei, besorgte auch noch einen Strick und band alle Teile zu einem Floß zusammen. Ich zog meine Jacke aus und half ihm in Hose und Unterhemd bei der Arbeit. Kleiner Löwe hielt mit dem aufgespannten Schirm den Regen von mir ab. Meine Tochter hatte ihren kleinen Kinderschirm ebenfalls aufgespannt und rannte im Hof hin und her. Ich forderte meine Frau auf, den Schirm über meinen Vater zu halten, um lieber ihn vor dem Regen zu schützen, aber er wehrte ab. Er hatte sich eine Plastikplane um die Schultern gebunden, sein Kopf war dem Regen ungeschützt ausgesetzt. Schweiß und Wasser mischten sich und liefen in Rinnsalen über sein Gesicht. So ein alter Bauer wie mein Vater ist bei der Arbeit immer voller Konzentration, packt immer gezielt und kraftvoll zu, tut keinen einzigen überflüssigen Handgriff. Das Floß war schnell zusammengebunden. Als wir es hinaustrugen, herrschte am Flussdeich schon Hochbetrieb. Die verschwundenen Holzboote waren plötzlich alle wieder aufgetaucht. Außer ihnen wurden rund dreißig Flöße zu Wasser gelassen. Man hatte Kalebassen, prall gefüllte Autoreifen und Kunststoff unter die Flöße gebunden. Und ein Holzbottich schaukelte auch auf dem Wasser. Wer den wohl zu Wasser gelassen hatte? Die Schiffe und Flöße waren alle an dem alten Weidenbaum am Ufer vertäut. Aus den Gassen kamen die Bauern mit ihren Körben voller Pfirsiche eilig gelaufen. Diejenigen, die Maultiere oder Esel besaßen, hatten die Tragkörbe ihrer Lasttiere schon zu beiden Seiten mit Pfirsichen beladen. Dreißig oder vierzig standen in einer Reihe am Flussdeich bereit. Ein Kommunekader, der durch den Fluss hergeschwommen war, stand in Regenkleidung, mit aufgekrempelten Hosenbeinen und Sandalen in der Hand triefend am Flussdeich und rief lauthals irgendetwas. Ich bemerkte direkt vor dem unseren ein prächtiges Floß. Vier Spießtannenstämme waren mit Rindslederriemen zu einem viereckigen Rahmen zusammengefügt. Den Raum innerhalb des Rahmens füllten akkurat nebeneinandergelegte Rundhölzer aus. Unter das Floßholz waren vier prall gefüllte Reifen eines Pferdewagens gebunden. Obwohl auf dem Floß bereits mehr als zehn Körbe standen, tauchte es kaum ins Wasser ein. Durch die vier Reifen erfuhr es einen gewaltigen Auftrieb. In der Mitte und in jeder der vier Ecken hatte man noch fünf senkrecht stehende Hölzer aufgebunden, über die eine hellblaue Plastikplane gespannt war, die vor Sonne und Regen schützte. Ein solches Floß war nicht innerhalb eines Vormittags schnell zusammengezimmert worden! Wang Bein trug sein Palmstrohcape und seinen Bambushut und hockte vorn auf dem Floß: fast wie ein Fischer beim Angeln. Unser Floß hatte nur sechs Körbe Pfirsiche geladen und tauchte schon gefährlich tief ins Wasser ein. Aber Vater bestand darauf, noch zwei weitere aufzuladen. Ich sagte: »Wenn du noch zwei auflädst, kommst du besser nicht mit. Ich stake allein.« Ich vermutete, dass mein Vater unbedingt selbst das Floß führen wollte, weil ich gerade erst geheiratet hatte. Darum sagte ich: »Ach, komm schon, Vater, schau dir all diese Leute auf dem Fluss an. Kein einziger in deinem Alter ist dabei.« Vater gab nach: »Dann sei aber vorsichtig, mein Sohn!« »Sei beruhigt, Vater. Und wenn ich was kann, dann schwimmen!« »Falls Wind aufkommt und die Wellen höher schlagen, schmeiß die Pfirsiche ins Wasser«, meinte Vater. »Sei ganz beruhigt«, sagte ich noch und winkte Shizi zu, die mit meiner Tochter an der Hand am Ufer stand. Sie winkte zurück. Vater machte den Strick vom Baum los und warf ihn mir aufs Floß zu. Ich fing ihn, wickelte ihn auf, nahm den Staken und stieß mich vom Ufer ab. Ich stakte mit aller Kraft vorwärts; das schwere Floß kam langsam in Fahrt. »Sei vorsichtig!« »Verlass dich auf mich!« Ich blieb in Ufernähe. Die Mulis und Esel am Ufer kamen im gleichen maßvollen Tempo voran wie wir Flößer. Mit den schweren Tragkörben konnten die Tiere nur mühsam Schritt vor Schritt setzen. Einige der Bauern hatten es sich nicht nehmen lassen, ihren Lasttieren bimmelnde Glocken um den Hals zu hängen. Die Alten und die Kinder begleiteten die Karawane ein Stück zum Dorf hinaus. Dann kehrten sie um. Der große Fluss macht am Dorfausgang eine scharfe Biegung. Hier müssen Boote und Flöße die Stromschnellen überwinden. Wang Bein, der die ganze Zeit über vor mir stakte, verließ unseren Konvoi und wendete sein Floß flussabwärts, um in das ruhige Wasser der Flussbiegung zu gelangen. Dort am Ufer wächst dichtes, grünes Gebüsch. Unmengen von Zikaden sitzen laut zirpend in den Zweigen. Schon vom ersten Augenblick an, als mir dieses Luxusfloß der Wangs aufgefallen war, hatte ich die Vorahnung, dass etwas passieren würde. Und wirklich: Wang Bein warf die Pfirsichkörbe ins Wasser. Sie trieben auf der Wasseroberfläche. Es war offensichtlich, dass er keine Pfirsiche darin gehabt hatte. Er stocherte mit dem Staken im Gebüsch. Da sah ich den riesigen Chen Nase mit seiner schwangeren Frau Galle auf dem Arm auf das Floß springen. Hinter ihm stand Wang Leber mit der kleinen Ohr auf dem Arm; auch er sprang auf das Floß. Als sie dann die hellblaue Plastikplane an den Floßmasten herunterließen, wurde daraus ein undurchsichtiger Vorhang. Wang Bein stand mit dem langen Staken in der Hand in derselben respekteinflößenden Pose auf dem Floß, wie er einst mit der Peitsche in der Hand auf dem Karren über der Deichsel gestanden und das Muli angetrieben hatte. Er war so imposant wie früher. Mit kerzengeradem Rückgrat! Gugu hatte mit ihrer Behauptung Recht gehabt, dass das gebückte Gehen und der Buckel nur gespielt seien. Und von wegen Vater und Sohn hätten den Kontakt zueinander abgebrochen! Nun konnte man sehen, dass alles nur Gerede gewesen war und dass Vater und Sohn sofort Seite an Seite kämpften, wenn es drauf ankam. Aber wie auch immer. Aus tiefstem Herzen wünschte ich ihnen Glück. Ich hoffte, dass sie mit Galle fliehen konnten, dass sie ihr Ziel erreichten. Sicher fand ich es auch ein bisschen schade, dass die vielen Schlachtpläne, die Gugu wegen der beiden entworfen hatte, nun vertane Zeit gewesen sein sollten. Wang Beins Floß hatte einen gewaltigen Auftrieb. Trotz der Last lag es leicht im Wasser und hatte uns alle schnell überholt. Aus den Dörfern zu beiden Seiten des Flusses ließen die Bauern Flöße und kleine Boote zu Wasser. Als wir am Dorf Dongfeng vorbeikamen, in dem Gugu einmal blutig geschlagen worden war, reihten sich in der Mitte des Flusses schon viele Hundert Flöße und genauso viele Boote zu einem breiten Band auf, um gemeinsam stromabwärts zu fahren. Mein Blick folgte unablässig dem Floß der Wangs, ich wollte es nicht aus den Augen verlieren. Obwohl es uns überholt hatte, konnte ich es noch die ganze Zeit über vor mir ausmachen. Zweifelsohne war ihr Floß an diesem Tag das stolzeste von allen. Als würde ein Hummer Predator in einem Autokonvoi zwischen lauter billigen Taxis fahren. Es war ein stolzes Floß; dazu war es geheimnisvoll. Wer es an der Flussbiegung beobachtet hatte, wusste natürlich, welches Geheimnis dieser Plastikvorhang verbarg. Aber auch jeder, der den Vorhang auf dem Floß zum ersten Mal sah, blickte verstohlen hin und machte sich seine Gedanken. Denn wie auch immer man es betrachtete, eines musste jedem sonnenklar sein: Dieses Floß hatte keine Pfirsiche geladen. Wenn ich heute daran zurückdenke, wie Gugu mit ihrem zur Durchsetzung der Geburtenpolitik zur Verfügung gestellten Motorboot in voller Fahrt an unseren Flößen vorbei durchs Wasser stob, bekomme ich immer noch heftiges Herzklopfen. Dieses Patrouillenboot war nicht mehr der alte, simple Kahn von 1970, sondern ein hellbeiges, stromlinienförmiges Schnellboot. An der Vorderseite des halb geschlossenen Führerhäuschens blinkten glasklare Acrylscheiben; der Bootsführer war derselbe, immer noch Qin Strom, aber sein Haupthaar war inzwischen schlohweiß. Gugu und meine frischgebackene Ehefrau Shizi standen an Bord und hielten sich am Gestänge des Führerhäuschens fest. Der Fahrtwind presste ihnen die Kleidung eng an den Körper. Ich sah auf Shizis kugelrunde, volle Brüste. Tausend verworrene Gefühle bestürmten mich. Hinter ihnen auf den Bänken zu beiden Seiten saßen vier Männer. Die hochschießenden Bugwellen des dahinfliegenden Bootes bespritzten unsere Flöße. Durch den Schwall der Heckwelle gerieten sie gefährlich ins Schwanken. Ich bin mir sicher, dass Shizi mich gesehen haben musste, als das Patrouillenboot unmittelbar an meinem Floß vorbeistob. Aber sie grüßte mich nicht einmal. Die Shizi, die mich erst zwei Tage zuvor geheiratet hatte, war eine vollkommen andere. Traumbilder ergriffen von mir Besitz, ich fühlte, wie mir die Wirklichkeit entglitt; an alles, was geschehen war, erinnerte ich mich nur noch schemenhaft. Shizis Kälte ließ mich sofort Partei für die Verfolgten ergreifen. »Galle! Flieh, so schnell du kannst! Wang Bein, stake schneller!« Gugus Boot schnitt unseren Konvoi und preschte auf das allen voran treibende Floß der Wangs zu. Qin Strom drosselte den Motor und ging längsseits. Es waren kaum noch Motorengeräusche zu hören, zwischen Streifenboot und Floß gab es nur noch wenige Meter Abstand. Das Patrouillenboot näherte sich dem Floß immer mehr. Offenbar wollte Gugu es so ans Ufer drängen. Wang Bein wandte sich zur Seite und stieß sich mit dem Staken von der Breitseite des Motorboots ab. Er hatte wahrscheinlich die Falle durchschaut, aber die Wechselwirkung seiner Bewegungen führte nur dazu, dass sein Floß erst recht aus dem schnell fließenden Wasser der Flussmitte an den Rand gedrängt wurde. Einer der Männer an Bord des Patrouillenbootes nahm eine Stange mit einem Enterhaken und angelte damit nach der Plastikplane. Er erwischte sie und zog mit kräftigem Ruck. Geräuschvoll riss sie entzwei. Er hantierte noch ein paar Mal, bis auf dem Floß alles deutlich zum Vorschein kam. Wang Bein trommelte mit seinem Staken wild auf den Mann ein. Der parierte die Schläge mit seiner Stange. Wang Leber und Chen Nase griffen sich jeder schnell ein Ruder, setzten sich zu beiden Seiten auf den Rand des Floßes und ruderten wie von Sinnen. Zwischen beiden saß die winzige Wang Galle, die mit dem linken Arm ihr Töchterchen Ohr schützte, das sein Gesicht unter der Achsel der Mutter vergraben hatte. Mit dem rechten Arm hielt sie ihren kugelrunden Schwangerenbauch umfasst. Zwischen dem lauten Krachen der wild aufeinanderschlagenden Staken und den platschenden, spritzenden Wassermassen ertönte Galles schrilles Kreischen: »Gugu, ich flehe dich an, lass Gnade walten! Lass uns am Leben!« Als das Floß begann, sich Stückchen für Stückchen vom Patrouillenboot zu entfernen, sprang Kleiner Löwe entschlossen in Floßrichtung in den Fluss. Mit lautem Plumpsen fiel sie ins Wasser. Sie konnte nicht schwimmen. Sie sank, trieb, schien zu ertrinken. Gugu schrie um Hilfe, jemand solle sie retten. Chen Nase und Wang Leber nutzten die Chance und ruderten, was sie konnten. Das Floß erreichte wieder das schnell fließende Wasser in der Flussmitte. Shizi zu Hilfe zu kommen, kostete Zeit. Einer der Männer an Bord streckte ihr den Enterhaken hin, damit sie ihn ergreifen konnte, sie griff jedoch nach seinem Bein, so dass er ebenfalls ins Wasser fiel. Auch er war so ein Exemplar von Nichtschwimmer. Den übrigen Männern blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls von Bord in den Fluss zu springen, um den Kameraden zu retten. Der Bootsführer Qin Strom verlor zunehmend die Kontrolle über das Boot, Gugu sprang wutentbrannt darauf herum und herrschte ihre Leute an. Keiner der Bauern auf den Flößen und in den Booten wollte Shizi retten. Aber weil sie schließlich meine Ehefrau war, stakte ich mein Floß kräftig vorwärts, um in ihre Nähe zu kommen. Von der Seite kam ein Floß quer auf mich zugeschossen, fast wäre das meine zerschellt. Ihr Kopf war immer seltener über der Wasseroberfläche zu sehen, immer weniger. Ich zauderte nicht mehr, gab den Staken und die Pfirsiche auf und sprang in die reißende Strömung. Ich kraulte meiner Frau entgegen, um sie zu retten. In dem Moment, als Kleiner Löwe ins Wasser sprang, entstand ein großes Fragezeichen in meinem Herzen. Später berichtete sie mir – und sie tat es in einem Tonfall, als berichte sie mir von einer erfolgreich absolvierten Arbeit –, sie sei genau in dem Moment in den Fluss gesprungen, als sie frisches Blut gerochen habe. Diesen unverwechselbar heiligen, reinen Geruch des Blutes einer Gebärenden. Auch habe sie das Blut an Galles Schenkeln entdeckt. Sie sei mit voller Absicht ins Wasser gesprungen – so konnte man diesen Sprung natürlich auch erklären –, um Zeit zu gewinnen! Sie hatte ihr Leben riskiert. Sie erklärte mir, sie habe für die kleine Seele auf dem Fluss gebetet: ›Galle, beeil dich! Bekomm jetzt dein Baby! Jetzt! Beeil dich! Schnell, ist dein Kind erst durch die Ofentür, so zählt es als Menschenleben, so ist es ein Bürger der VR China, so wird es beschützt. Kinder schmücken unser Vaterland wie Blumen! Kinder sind die Zukunft unseres Vaterlandes!‹ »Natürlich«, fügte sie hinzu, »habe ich mir nicht eingebildet, dass ich Gugu hinters Licht führen könnte. Wenn ich nur einmal nicht gleich pariere, weiß sie sofort, dass ich was auf dem Kerbholz habe.« Als Kleiner Löwe und die anderen über Bord gegangenen Kader der Geburtenplaner endlich wieder alle an Bord waren, hatte sich das Floß der Wangs schon mehrere Kilometer entfernt. Qin Strom war der Bootsmotor ausgegangen, nun war er schweißüberströmt dabei, ihn neu zu starten. Gugu donnerte und tobte. Kleiner Löwe und die Kader saßen im Boot, hielten die Köpfe über den Rand und erbrachen in einem fort Wasser. Plötzlich hielt Gugu inne. Sie polterte nicht mehr, sondern wurde still. Über ihr Gesicht schlich ein bitteres, trostloses Grinsen. Ein Sonnenstrahl kam zwischen den Wolken hervor, huschte über ihr Antlitz und verlor sich in den wogenden Wellen auf dem Wasser. In diesem Moment sah sie aus wie ein Held, der am Ende ist und keinen Ausweg mehr sieht. Sie sagte leise zu Qin Strom: »Hör auf, dich zu verstellen! Schluss mit dem Theater!« Qin Strom schaute sie einen Moment lang überrascht an. Dann zündete er augenblicklich und problemlos den Motor. Das Schnellboot preschte pfeilgeschwind auf das Floß der Wangs zu. Ich klopfte Shizi den Rücken und beobachtete verstohlen die Tante. Sie sah niedergeschlagen aus, die Augen nur einen Spaltbreit geöffnet; ab und an bleckte sie die Zähne und grinste. An was sie wohl dachte? Mir fiel plötzlich ein: Sie ist schon siebenundvierzig! Ihre Jugend und die Blüte ihres Lebens sind vorüber und sie bewegt sich auf dem Weg jenseits ihrer Lebensmitte. In ihren leidgeprüften, lebenserfahrenen Gesichtszügen konnte man schon die Wehmut des Alters lesen. Ich erinnerte mich an das, was meine Mutter uns zu Lebzeiten mehrfach erklärt hatte: »Wozu sind die Frauen geboren? Frauen sind zum Kinderkriegen geboren. Die Frau erwirbt durch das Kinderkriegen Stand und Rang, sie erwirbt durch das Kinderkriegen Respekt und Würde, und sie empfängt durch das Kinderkriegen im höchsten Maße Glück und Ehre. Kann eine Frau keine Kinder bekommen, so ist das eine Tragödie. Denn ohne Kinder ist sie keine richtige Frau. Das Herz einer Frau, die nie Kinder geboren hat, wird hart; und wenn sie keine Kinder geboren hat, altert sie auch besonders schnell.« Mutter hatte damit Gugu gemeint. Aber sie hatte es nie in ihrer Anwesenheit gesagt. Hatte das gealterte Aussehen der Tante wirklich etwas damit zu tun, dass sie niemals Kinder bekommen hatte? Sie war siebenundvierzig. Wenn sie sich jetzt beeilte und heiratete? Könnte sie dann vielleicht noch welche haben? Aber woher einen passenden Mann nehmen? Tantes Boot hatte das Floß der Wangs im Nu eingeholt. Als sie ihm näher kamen, drosselte Qin Strom die Geschwindigkeit und manövrierte das Boot sachte längsseits. Wang Bein stand mit dem Staken in der Hand am Heck, in einer Pose, als wolle er jeden Augenblick bis aufs Blut kämpfen. Wang Leber hatte die kleine Ohr auf dem Arm. Er saß am Bug des Floßes. Chen Nase stand mitten auf dem Floß, hielt seine Frau umfasst, weinte und lachte und brüllte gleichzeitig: »Galle, beeil dich und bring unser Kind zur Welt! Nun mach schon, Liebes. Krieg es jetzt, dann darf es am Leben bleiben! Wenn du’s jetzt kriegst, dann trauen die sich nicht mehr, uns zu töten! Wan Herz! Kleiner Löwe! Ihr habt verloren! Ha! Ihr seid gescheitert!« Tränen liefen diesem hünenhaften Mann über das bärtige Gesicht und rannen in Rinnsalen herab. Zu gleicher Zeit ließ Galle ein mark- und beinerschütterndes Brüllen hören. Als das Patrouillenboot und das Floß zusammenstießen, beugte sich die Tante vor und streckte eine Hand aus. Chen Nase zog ein Messer, er schien wie von Sinnen, wie ein kaltblütiger Mörder: »Nimm deine Teufelskrallen weg!« Gugu sagte ganz ruhig: »Das sind keine Krallen von einem Teufel. Das ist die Hand einer Frauenärztin.« Ich bekam dieses prickelnde Gefühl in der Nase, meine Augen wurden heiß, als ich verstand, was da geschah. Ich schrie aus Leibeskräften: »Chen Nase, lass Gugu an Bord! Hilf ihr rauf! Lass sie Galle helfen, das Kind zu bekommen!« Ich kriegte mit dem Enterhaken den Mast des Floßes zu fassen, und Gugu konnte mit ihrem massigen Körper auf das Floß hinüberwechseln. Kleiner Löwe sprang mit dem Arzttornister in der Hand hinterher. Als sie Galles blutdurchtränkte Hose zerschnitten, drehte ich mich zur Seite, aber meine Hand hielt mit aller Kraft den Staken fest, damit das Patrouillenboot und das Floß zusammenblieben. Einen Augenblick lang sah ich die kleine Galle ganz deutlich vor mir: Sie lag auf dem Floß in einer riesigen Blutlache, ihr zwergenhafter Leib mit dem hoch aufragenden Bauch erinnerte an einen erschreckten Delphin. Der Strom brodelte flussabwärts, ungerührt Tag wie Nacht. Die schwarzen Wolken rissen auf und plötzlich war gleißendes Sonnenlicht. Der Floßkonvoi bewegte sich flussabwärts wie eine Schlange, die mit dem Kopf wackelt und mit dem Schwanz wedelt. Mein Floß war führerlos mittendrin. Ich war voller Erwartung, hörte Galle weiter schreien und war voller Erwartung, hörte die ans Ufer klatschenden Wellen und war voller Erwartung, hörte die Esel vom Ufer her brüllen und war voller Erwartung. Vom Floß her ertönte der Schrei eines Neugeborenen. Ich wandte ruckartig den Kopf und sah Gugu den zu früh geborenen Säugling in beiden Händen halten, während Kleiner Löwe ihm über dem Nabel einen Mullverband anlegte. »Es ist wieder ein Mädchen«, sagte Gugu. Chen Nase blickte deprimiert zu Boden, er sah aus wie ein platter Autoreifen. Mit beiden Fäusten trommelte er wild auf sein Hirn ein, verzweifelt stieß er hervor: »Es ist aus, alles ist aus! Es ist meine Schuld, dass jetzt alles aus ist. Seit fünf Generationen haben wir Chens immer wenigstens einen einzigen männlichen Erben gehabt, und nun werden die Chens mit mir aussterben.« Gugu schnauzte ihn an: »Du Vieh!« Obwohl Gugus Motorboot Wang Galle und ihr Neugeborenes mit Höchstgeschwindigkeit zurück zum Anleger brachte, war Galles Leben nicht zu retten. Kleiner Löwe erzählte, dass Wang Galle kurz vor ihrem Tod noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt habe. Sie hatte zu viel Blut verloren, ihre Gesichtshaut glich dünnem Goldpapier. Sie lächelte Gugu an und schien etwas zu murmeln. Gugu beugte sich über sie und hielt das Ohr dicht an ihren Mund. Kleiner Löwe erklärte, sie habe nicht hören können, was Galle Gugu gesagt habe, aber Gugu habe es deutlich verstanden. Der Goldglanz wich von Galles Antlitz und es nahm eine graue Farbe an. Sie hatte die Augen weit geöffnet, aber sie strahlten nicht mehr. Ihr Körper hatte sich eingerollt und zusammengezogen wie ein zerknitterter leerer Mehlsack, wie der zurückgelassene Kokon, aus dem gerade die Motte entschlüpft ist, um in den Himmel zu fliegen. Gugu saß mit hängendem Kopf neben Galles Leichnam. Eine endlose Zeit verstrich. Als sie sich erhob, seufzte sie schwer. Halb an Shizi gerichtet, halb ins Selbstgespräch versunken, sagte sie: »Was war das nun wieder?« Galles Frühchen Chen Augenbraue überstand schließlich dank guter Pflege durch Gugu und Shizi die kritische Phase, in der man um sein Leben bangen musste, und überlebte. 7 Ich bin wirklich ein in jeder Hinsicht willensschwacher Mann. Ursprünglich dachte ich, dass ich es Renmei schuldig sei, in meiner und Shizis Hochzeitsnacht bis zum Morgengrauen meditierend vor einer roten Kerze zu sitzen. Weil ich ihr nur so meine ehrliche Reumütigkeit und Sehnsucht zeigen könnte. Aber ich habe vor mich hinbrütend nur bis Mitternacht durchgehalten, dann bin ich schwach geworden und habe Arm in Arm mit Shizi im Bett gelegen. Als ich Renmei heiratete, goss es in Strömen, in meiner Hochzeitsnacht mit Shizi goss es in Strömen und es ging ein Sturm. Es war eine Gewitternacht, Blitze zuckten unablässig vom Himmel, grell blauweißes Licht blendete, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern, und der Regen prasselte wie aus Kübeln nieder. Von überall her dröhnte das Klatschen und Prasseln der Wassermassen in unseren Ohren, der feuchte Wind mit dem Geruch von nasser Erde und verfaulten Pfirsichen drang durch die Ritzen der alten Holzfenster ins Hochzeitszimmer. Die rote Kerze war fast heruntergebrannt und flackerte, bis sie verglimmt war. Ich begann mich zu fürchten. Die Blitze zuckten alle paar Sekunden vom Himmel, im zittrigen Lichtschein des Blitzes sah ich Shizis weit geöffnete Augen aufblinken. Ihr Gesicht leuchtete golden auf. Dann folgte der Donner, so nah, als wäre es bei uns auf dem Hof, brenzliger Geruch stach uns in die Nase. Shizi schrie auf, ich nahm sie schnell in die Arme. Ich hatte befürchtet, sie wäre ein Brett, nicht erwartet, dass sie eine Papaya war. Eine fleischige, üppige Papaya, die bei der leisesten Berührung vor Saft triefte. Ihr Fleisch war reifes Papayafleisch und duftete genauso. Es ist schäbig, wenn ein Mann seine erste Frau mit der zweiten vergleicht. Ich zwang mich, keine derart blöden Gedanken zuzulassen, aber mein Kopf gehorchte mir nicht. Als unsere beiden Körper sich vereinten und ich in ihr und sie um mich war, waren auch unsere Herzen vereint. Ich sagte den schamlosen Satz: »Kleiner Löwe, ich finde, wir zwei sind noch mehr Mann und Frau, als ich es mit Renmei war.« Sie schloss mir sofort mit ihrer Hand den Mund: »Es gibt Dinge, die sollten einem nicht über die Lippen kommen.« »Leber hat mir aufgetragen, dir und Gugu etwas zu sagen. Er hat Galle bereits nach Kiautschou gebracht. Sie hat den Überlandbus nach Yantai genommen und ist von dort in die Mandschurei gereist.« Kleiner Löwe drehte sich um und setzte sich auf. Es blitzte wieder, und der Lichtschein flackerte über ihren Körper. Ihr Gesicht, soeben noch voller Leidenschaft, war streng und frostig geworden. Sie legte sich wieder hin und kroch in meine Arme, dann flüsterte sie mir ins Ohr: »Lügt er weiter so, bin ich mir erst recht sicher, dass Galle noch hier ist.« »Und wollt ihr sie«, fragte ich, »jetzt laufen lassen?« »Dazu kann ich nichts sagen. Das hängt von deiner Tante ab.« »Würde Gugu das tun?« »Unmöglich. Wenn sie sie laufen lässt, dann ist sie nicht mehr sie selbst.« »Warum seht ihr tatenlos zu? Worauf wartet ihr? Wisst ihr denn nicht, dass sie schon fast im achten Monat ist?« »Es stimmt nicht, dass Gugu tatenlos zusieht, sie hat viele Spitzel, die für sie im Verborgenen Nachforschungen anstellen.« »Habt ihr es herausbekommen?« »Was das angeht ...« Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich brauche ja wohl keine Geheimnisse vor dir zu haben. Sie halten sie bei Yanyans Oma versteckt. Sie befindet sich in dem Erdloch, in dem sie auch Renmei versteckt hatten.« »Und was wollt ihr jetzt machen?« »Ich höre auf Gugu.« »Was will Gugu denn tun? Dasselbe wie beim letzten Mal?« »Nein, so dumm ist sie nicht.« »Was dann?« »Gugu hat bereits jemanden zu Chen Nase geschickt, um ihm ausrichten zu lassen, dass wir wissen, wo Galle sich versteckt hält. Und dass er den Wangs bestellen soll, wenn sie Galle nicht herausgeben, kommen wir mit dem Kettentrecker und planieren ihr Gehöft und die Gehöfte ihrer vier Nachbarn.« »Yanyans Großvater und Großmutter werden sich stur stellen. Ihr wollt doch nicht wirklich die Häuser der Leute niederreißen und planieren?« »Gugu geht nicht davon aus, dass die Wangs Galle ausliefern. Sie will, dass Nase sie aus eigenem Antrieb dort wegholt. Sie hat Nase versprochen, dass er sein gesamtes Geld zurückbekommt, sobald er Galle zu ihr bringt und sie das Kind wegmachen lässt. Achtunddreißigtausend Yuan – ich bin überzeugt, dass wir ihn mit diesem Angebot weich klopfen können.« Ich seufzte tief: »Warum wollt ihr das Leben des Kindes vernichten, es ausmerzen ... Renmei habt ihr schon getötet. Reicht euch das nicht?« »Wang Renmei war selbst schuld, es war doch nur gerecht«, sagte Kleiner Löwe ungerührt. Ich spürte, dass ihr Körper plötzlich kühl geworden war. 8 Der Himmel war ständig bewölkt, es regnete ununterbrochen. Die Straßen waren überschwemmt und der Fluss führte Hochwasser. Die Lastwagen, die sonst aus den angrenzenden Provinzen kamen, um uns die großen Pfirsiche abzukaufen, die wir in Gaomi anbauen, kamen nicht. Alle hatten ihre Pfirsichernte eingebracht. Die vollen Körbe hatte man wie kleine Hügel übereinander gestapelt und zum Schutz vor dem Regen mit Folie abgedeckt. Andere Pfirsiche lagen unordentlich aufgetürmt in den Pfützen im Hof herum und litten unter dem prasselnden Dauerregen. Chinesische Saftpfirsiche lassen sich nicht gut lagern, deshalb war im letzten Jahr der Lastwagen des Händlers, der uns die Pfirsiche abkauft, direkt zu uns an die Plantage herangefahren. Wir pflückten, wogen gleich vor dem Auto und luden auf. Die Fahrer scheuten keine Mühen und fuhren die Fracht über Nacht zum Verkauf in fünfhundert Kilometer und noch entfernter gelegene Städte. In diesem Jahr wollte uns der Himmel nach Jahren reichen Pfirsichglücks offensichtlich eine Strafe erteilen. Seit die Pfirsiche reif waren, gab es keinen einzigen Tag mehr mit blauem Himmel. Nur noch Regenwetter, mal regnete es Bindfäden, mal nieselte es. Hätten wir die Pfirsiche nicht gepflückt, wären sie am Baum verrottet. Aber wenn wir sie schon gepflückt bereithielten, blieb uns der leise Hoffnungsschimmer: Sobald die Wolken aufreißen, rauf mit ihnen auf den Laster und ab in die Stadt! Aber jener Tag ließ auf sich warten. Es gab keinerlei Hinweis auf einen Wetterumschwung. Wir hatten nur noch dreißig Pfirsich- und Aprikosenbäume, weil mein Vater schon alt war, sich mit der Baumpflege nicht gut auskannte und weil der Ertrag meist gering war; doch dreitausend Kilo waren doch zusammengekommen. Wir besaßen auch nur wenige Obstkörbe, gerade mal sechszehn hatten wir gefüllt und im Seitenhaus auf den Gang gestellt. Die restlichen Früchte lagen aufgehäuft unter einer Plastikplane im Hof. Ständig trieb es meinen Vater in den Regen hinaus, wo er die Plane hochhob und prüfend einen der Pfirsiche in die Hand nahm. Jedes Mal, wenn er sie lüftete, roch es faulig. Seit ich mit Shizi verheiratet war, lebte meine Tochter bei meinem Vater. Immer wenn er durch den Regen in den Hof ging, lief meine Tochter mit einem kleinen Kinderregenschirm, der mit Tierbildern bedruckt war, hinterher. Meine Tochter behandelte mich und meine Frau kühl, aber einigermaßen höflich. Wenn Kleiner Löwe Süßigkeiten für sie hatte, verschränkte sie beide Hände auf dem Rücken, sagte aber trotzdem: »Danke, Tante.« Ich fiel ihr ins Wort: »Mama sollst du sagen.« Meine Tochter warf mir einen überraschten Blick zu. Kleiner Löwe sagte sofort: »Nicht nötig. Du brauchst mich nicht so zu nennen! Die anderen nennen mich Kleiner Löwe.« Sie zeigte auf einen kleinen Löwen auf dem bunten Regenschirm. »Nenn du mich Großer Löwe.« »Frisst du Kinder?«, fragte meine Tochter. »Ich fresse keine Kinder. Mein Beruf ist es, Kinder zu beschützen.« Vater kam wieder zur Tür herein, seinen Bambusstrohhut hatte er mit angefaulten Pfirsichen gefüllt. Während er sie mit einem rostigen Messer schälte, seufzte er in einem fort. »Wenn wir schon welche essen, können wir doch die guten nehmen«, sagte ich. »Die sind bares Geld!«, erwiderte Vater: »Heutzutage fühlt sich keiner mehr dem Volk verpflichtet.« »Vater!« Kleiner Löwe tat sich noch etwas schwer mit dieser Anrede, es klang aufgesetzt. »Die Regierung wird sich in jedem Fall darum kümmern, man wird bestimmt größten Einsatz zeigen.« »Ach was, die Regierung ist mit der Geburtenplanung beschäftigt, was anderes kümmert die doch gar nicht«, erwiderte Vater ausgesprochen vorwurfsvoll. Da ertönte aus den Lautsprechern der Dorfparteizentrale in schrillen Tönen eine Nachricht. Vater, in Sorge, dass er etwas verpassen könnte, eilte sofort hinaus auf den Hof und horchte. Es war eine Lautsprecherdurchsage, dass die Kommune mit den Städten Qingdao und Yantai die Abnahme der Pfirsiche geregelt habe und dass diese Lastwagenkonvois zu dem fünfundzwanzig Kilometer entfernten Fähranleger in Wujiaqiao schicken würden, um dort die Pfirsiche aus dem Nordosten Gaomis anzukaufen. Die Kommune rufe alle dazu auf, die Pfirsiche zu Wasser wie zu Lande nach Wujiaqiao zu befördern. Der Abnahmepreis betrage zwar nur die Hälfte des Vorjahrespreises, das sei aber immer noch besser, als alle Pfirsiche verderben zu lassen. Die Durchsage war kaum zu Ende, da brodelte es im gesamten Dorf. Ein geschäftiges Treiben begann, ich wusste, dass diese Geschäftigkeit nun alle Dörfer in ganz Nordost-Gaomiland erfassen würde. Obwohl wir hier am Fluss leben, besaßen wir nur wenige Boote. Ursprünglich hatte zwar jede Produktionsbrigade ihr eigenes kleines Holzboot gehabt, aber als die familienverantwortlichen Ablieferungsquoten eingeführt wurden, verschwanden die Boote schnell. In jedem Menschen schlummert eine schier unermessliche Schöpferkraft. Dieser Ausspruch stimmt haargenau. Vater ging ins Seitenhaus und holte vom Gebälk vier Kalebassen herunter, dann schleppte er vier Bretter herbei, besorgte auch noch einen Strick und band alle Teile zu einem Floß zusammen. Ich zog meine Jacke aus und half ihm in Hose und Unterhemd bei der Arbeit. Kleiner Löwe hielt mit dem aufgespannten Schirm den Regen von mir ab. Meine Tochter hatte ihren kleinen Kinderschirm ebenfalls aufgespannt und rannte im Hof hin und her. Ich forderte meine Frau auf, den Schirm über meinen Vater zu halten, um lieber ihn vor dem Regen zu schützen, aber er wehrte ab. Er hatte sich eine Plastikplane um die Schultern gebunden, sein Kopf war dem Regen ungeschützt ausgesetzt. Schweiß und Wasser mischten sich und liefen in Rinnsalen über sein Gesicht. So ein alter Bauer wie mein Vater ist bei der Arbeit immer voller Konzentration, packt immer gezielt und kraftvoll zu, tut keinen einzigen überflüssigen Handgriff. Das Floß war schnell zusammengebunden. Als wir es hinaustrugen, herrschte am Flussdeich schon Hochbetrieb. Die verschwundenen Holzboote waren plötzlich alle wieder aufgetaucht. Außer ihnen wurden rund dreißig Flöße zu Wasser gelassen. Man hatte Kalebassen, prall gefüllte Autoreifen und Kunststoff unter die Flöße gebunden. Und ein Holzbottich schaukelte auch auf dem Wasser. Wer den wohl zu Wasser gelassen hatte? Die Schiffe und Flöße waren alle an dem alten Weidenbaum am Ufer vertäut. Aus den Gassen kamen die Bauern mit ihren Körben voller Pfirsiche eilig gelaufen. Diejenigen, die Maultiere oder Esel besaßen, hatten die Tragkörbe ihrer Lasttiere schon zu beiden Seiten mit Pfirsichen beladen. Dreißig oder vierzig standen in einer Reihe am Flussdeich bereit. Ein Kommunekader, der durch den Fluss hergeschwommen war, stand in Regenkleidung, mit aufgekrempelten Hosenbeinen und Sandalen in der Hand triefend am Flussdeich und rief lauthals irgendetwas. Ich bemerkte direkt vor dem unseren ein prächtiges Floß. Vier Spießtannenstämme waren mit Rindslederriemen zu einem viereckigen Rahmen zusammengefügt. Den Raum innerhalb des Rahmens füllten akkurat nebeneinandergelegte Rundhölzer aus. Unter das Floßholz waren vier prall gefüllte Reifen eines Pferdewagens gebunden. Obwohl auf dem Floß bereits mehr als zehn Körbe standen, tauchte es kaum ins Wasser ein. Durch die vier Reifen erfuhr es einen gewaltigen Auftrieb. In der Mitte und in jeder der vier Ecken hatte man noch fünf senkrecht stehende Hölzer aufgebunden, über die eine hellblaue Plastikplane gespannt war, die vor Sonne und Regen schützte. Ein solches Floß war nicht innerhalb eines Vormittags schnell zusammengezimmert worden! Wang Bein trug sein Palmstrohcape und seinen Bambushut und hockte vorn auf dem Floß: fast wie ein Fischer beim Angeln. Unser Floß hatte nur sechs Körbe Pfirsiche geladen und tauchte schon gefährlich tief ins Wasser ein. Aber Vater bestand darauf, noch zwei weitere aufzuladen. Ich sagte: »Wenn du noch zwei auflädst, kommst du besser nicht mit. Ich stake allein.« Ich vermutete, dass mein Vater unbedingt selbst das Floß führen wollte, weil ich gerade erst geheiratet hatte. Darum sagte ich: »Ach, komm schon, Vater, schau dir all diese Leute auf dem Fluss an. Kein einziger in deinem Alter ist dabei.« Vater gab nach: »Dann sei aber vorsichtig, mein Sohn!« »Sei beruhigt, Vater. Und wenn ich was kann, dann schwimmen!« »Falls Wind aufkommt und die Wellen höher schlagen, schmeiß die Pfirsiche ins Wasser«, meinte Vater. »Sei ganz beruhigt«, sagte ich noch und winkte Shizi zu, die mit meiner Tochter an der Hand am Ufer stand. Sie winkte zurück. Vater machte den Strick vom Baum los und warf ihn mir aufs Floß zu. Ich fing ihn, wickelte ihn auf, nahm den Staken und stieß mich vom Ufer ab. Ich stakte mit aller Kraft vorwärts; das schwere Floß kam langsam in Fahrt. »Sei vorsichtig!« »Verlass dich auf mich!« Ich blieb in Ufernähe. Die Mulis und Esel am Ufer kamen im gleichen maßvollen Tempo voran wie wir Flößer. Mit den schweren Tragkörben konnten die Tiere nur mühsam Schritt vor Schritt setzen. Einige der Bauern hatten es sich nicht nehmen lassen, ihren Lasttieren bimmelnde Glocken um den Hals zu hängen. Die Alten und die Kinder begleiteten die Karawane ein Stück zum Dorf hinaus. Dann kehrten sie um. Der große Fluss macht am Dorfausgang eine scharfe Biegung. Hier müssen Boote und Flöße die Stromschnellen überwinden. Wang Bein, der die ganze Zeit über vor mir stakte, verließ unseren Konvoi und wendete sein Floß flussabwärts, um in das ruhige Wasser der Flussbiegung zu gelangen. Dort am Ufer wächst dichtes, grünes Gebüsch. Unmengen von Zikaden sitzen laut zirpend in den Zweigen. Schon vom ersten Augenblick an, als mir dieses Luxusfloß der Wangs aufgefallen war, hatte ich die Vorahnung, dass etwas passieren würde. Und wirklich: Wang Bein warf die Pfirsichkörbe ins Wasser. Sie trieben auf der Wasseroberfläche. Es war offensichtlich, dass er keine Pfirsiche darin gehabt hatte. Er stocherte mit dem Staken im Gebüsch. Da sah ich den riesigen Chen Nase mit seiner schwangeren Frau Galle auf dem Arm auf das Floß springen. Hinter ihm stand Wang Leber mit der kleinen Ohr auf dem Arm; auch er sprang auf das Floß. Als sie dann die hellblaue Plastikplane an den Floßmasten herunterließen, wurde daraus ein undurchsichtiger Vorhang. Wang Bein stand mit dem langen Staken in der Hand in derselben respekteinflößenden Pose auf dem Floß, wie er einst mit der Peitsche in der Hand auf dem Karren über der Deichsel gestanden und das Muli angetrieben hatte. Er war so imposant wie früher. Mit kerzengeradem Rückgrat! Gugu hatte mit ihrer Behauptung Recht gehabt, dass das gebückte Gehen und der Buckel nur gespielt seien. Und von wegen Vater und Sohn hätten den Kontakt zueinander abgebrochen! Nun konnte man sehen, dass alles nur Gerede gewesen war und dass Vater und Sohn sofort Seite an Seite kämpften, wenn es drauf ankam. Aber wie auch immer. Aus tiefstem Herzen wünschte ich ihnen Glück. Ich hoffte, dass sie mit Galle fliehen konnten, dass sie ihr Ziel erreichten. Sicher fand ich es auch ein bisschen schade, dass die vielen Schlachtpläne, die Gugu wegen der beiden entworfen hatte, nun vertane Zeit gewesen sein sollten. Wang Beins Floß hatte einen gewaltigen Auftrieb. Trotz der Last lag es leicht im Wasser und hatte uns alle schnell überholt. Aus den Dörfern zu beiden Seiten des Flusses ließen die Bauern Flöße und kleine Boote zu Wasser. Als wir am Dorf Dongfeng vorbeikamen, in dem Gugu einmal blutig geschlagen worden war, reihten sich in der Mitte des Flusses schon viele Hundert Flöße und genauso viele Boote zu einem breiten Band auf, um gemeinsam stromabwärts zu fahren. Mein Blick folgte unablässig dem Floß der Wangs, ich wollte es nicht aus den Augen verlieren. Obwohl es uns überholt hatte, konnte ich es noch die ganze Zeit über vor mir ausmachen. Zweifelsohne war ihr Floß an diesem Tag das stolzeste von allen. Als würde ein Hummer Predator in einem Autokonvoi zwischen lauter billigen Taxis fahren. Es war ein stolzes Floß; dazu war es geheimnisvoll. Wer es an der Flussbiegung beobachtet hatte, wusste natürlich, welches Geheimnis dieser Plastikvorhang verbarg. Aber auch jeder, der den Vorhang auf dem Floß zum ersten Mal sah, blickte verstohlen hin und machte sich seine Gedanken. Denn wie auch immer man es betrachtete, eines musste jedem sonnenklar sein: Dieses Floß hatte keine Pfirsiche geladen. Wenn ich heute daran zurückdenke, wie Gugu mit ihrem zur Durchsetzung der Geburtenpolitik zur Verfügung gestellten Motorboot in voller Fahrt an unseren Flößen vorbei durchs Wasser stob, bekomme ich immer noch heftiges Herzklopfen. Dieses Patrouillenboot war nicht mehr der alte, simple Kahn von 1970, sondern ein hellbeiges, stromlinienförmiges Schnellboot. An der Vorderseite des halb geschlossenen Führerhäuschens blinkten glasklare Acrylscheiben; der Bootsführer war derselbe, immer noch Qin Strom, aber sein Haupthaar war inzwischen schlohweiß. Gugu und meine frischgebackene Ehefrau Shizi standen an Bord und hielten sich am Gestänge des Führerhäuschens fest. Der Fahrtwind presste ihnen die Kleidung eng an den Körper. Ich sah auf Shizis kugelrunde, volle Brüste. Tausend verworrene Gefühle bestürmten mich. Hinter ihnen auf den Bänken zu beiden Seiten saßen vier Männer. Die hochschießenden Bugwellen des dahinfliegenden Bootes bespritzten unsere Flöße. Durch den Schwall der Heckwelle gerieten sie gefährlich ins Schwanken. Ich bin mir sicher, dass Shizi mich gesehen haben musste, als das Patrouillenboot unmittelbar an meinem Floß vorbeistob. Aber sie grüßte mich nicht einmal. Die Shizi, die mich erst zwei Tage zuvor geheiratet hatte, war eine vollkommen andere. Traumbilder ergriffen von mir Besitz, ich fühlte, wie mir die Wirklichkeit entglitt; an alles, was geschehen war, erinnerte ich mich nur noch schemenhaft. Shizis Kälte ließ mich sofort Partei für die Verfolgten ergreifen. »Galle! Flieh, so schnell du kannst! Wang Bein, stake schneller!« Gugus Boot schnitt unseren Konvoi und preschte auf das allen voran treibende Floß der Wangs zu. Qin Strom drosselte den Motor und ging längsseits. Es waren kaum noch Motorengeräusche zu hören, zwischen Streifenboot und Floß gab es nur noch wenige Meter Abstand. Das Patrouillenboot näherte sich dem Floß immer mehr. Offenbar wollte Gugu es so ans Ufer drängen. Wang Bein wandte sich zur Seite und stieß sich mit dem Staken von der Breitseite des Motorboots ab. Er hatte wahrscheinlich die Falle durchschaut, aber die Wechselwirkung seiner Bewegungen führte nur dazu, dass sein Floß erst recht aus dem schnell fließenden Wasser der Flussmitte an den Rand gedrängt wurde. Einer der Männer an Bord des Patrouillenbootes nahm eine Stange mit einem Enterhaken und angelte damit nach der Plastikplane. Er erwischte sie und zog mit kräftigem Ruck. Geräuschvoll riss sie entzwei. Er hantierte noch ein paar Mal, bis auf dem Floß alles deutlich zum Vorschein kam. Wang Bein trommelte mit seinem Staken wild auf den Mann ein. Der parierte die Schläge mit seiner Stange. Wang Leber und Chen Nase griffen sich jeder schnell ein Ruder, setzten sich zu beiden Seiten auf den Rand des Floßes und ruderten wie von Sinnen. Zwischen beiden saß die winzige Wang Galle, die mit dem linken Arm ihr Töchterchen Ohr schützte, das sein Gesicht unter der Achsel der Mutter vergraben hatte. Mit dem rechten Arm hielt sie ihren kugelrunden Schwangerenbauch umfasst. Zwischen dem lauten Krachen der wild aufeinanderschlagenden Staken und den platschenden, spritzenden Wassermassen ertönte Galles schrilles Kreischen: »Gugu, ich flehe dich an, lass Gnade walten! Lass uns am Leben!« Als das Floß begann, sich Stückchen für Stückchen vom Patrouillenboot zu entfernen, sprang Kleiner Löwe entschlossen in Floßrichtung in den Fluss. Mit lautem Plumpsen fiel sie ins Wasser. Sie konnte nicht schwimmen. Sie sank, trieb, schien zu ertrinken. Gugu schrie um Hilfe, jemand solle sie retten. Chen Nase und Wang Leber nutzten die Chance und ruderten, was sie konnten. Das Floß erreichte wieder das schnell fließende Wasser in der Flussmitte. Shizi zu Hilfe zu kommen, kostete Zeit. Einer der Männer an Bord streckte ihr den Enterhaken hin, damit sie ihn ergreifen konnte, sie griff jedoch nach seinem Bein, so dass er ebenfalls ins Wasser fiel. Auch er war so ein Exemplar von Nichtschwimmer. Den übrigen Männern blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls von Bord in den Fluss zu springen, um den Kameraden zu retten. Der Bootsführer Qin Strom verlor zunehmend die Kontrolle über das Boot, Gugu sprang wutentbrannt darauf herum und herrschte ihre Leute an. Keiner der Bauern auf den Flößen und in den Booten wollte Shizi retten. Aber weil sie schließlich meine Ehefrau war, stakte ich mein Floß kräftig vorwärts, um in ihre Nähe zu kommen. Von der Seite kam ein Floß quer auf mich zugeschossen, fast wäre das meine zerschellt. Ihr Kopf war immer seltener über der Wasseroberfläche zu sehen, immer weniger. Ich zauderte nicht mehr, gab den Staken und die Pfirsiche auf und sprang in die reißende Strömung. Ich kraulte meiner Frau entgegen, um sie zu retten. In dem Moment, als Kleiner Löwe ins Wasser sprang, entstand ein großes Fragezeichen in meinem Herzen. Später berichtete sie mir – und sie tat es in einem Tonfall, als berichte sie mir von einer erfolgreich absolvierten Arbeit –, sie sei genau in dem Moment in den Fluss gesprungen, als sie frisches Blut gerochen habe. Diesen unverwechselbar heiligen, reinen Geruch des Blutes einer Gebärenden. Auch habe sie das Blut an Galles Schenkeln entdeckt. Sie sei mit voller Absicht ins Wasser gesprungen – so konnte man diesen Sprung natürlich auch erklären –, um Zeit zu gewinnen! Sie hatte ihr Leben riskiert. Sie erklärte mir, sie habe für die kleine Seele auf dem Fluss gebetet: ›Galle, beeil dich! Bekomm jetzt dein Baby! Jetzt! Beeil dich! Schnell, ist dein Kind erst durch die Ofentür, so zählt es als Menschenleben, so ist es ein Bürger der VR China, so wird es beschützt. Kinder schmücken unser Vaterland wie Blumen! Kinder sind die Zukunft unseres Vaterlandes!‹ »Natürlich«, fügte sie hinzu, »habe ich mir nicht eingebildet, dass ich Gugu hinters Licht führen könnte. Wenn ich nur einmal nicht gleich pariere, weiß sie sofort, dass ich was auf dem Kerbholz habe.« Als Kleiner Löwe und die anderen über Bord gegangenen Kader der Geburtenplaner endlich wieder alle an Bord waren, hatte sich das Floß der Wangs schon mehrere Kilometer entfernt. Qin Strom war der Bootsmotor ausgegangen, nun war er schweißüberströmt dabei, ihn neu zu starten. Gugu donnerte und tobte. Kleiner Löwe und die Kader saßen im Boot, hielten die Köpfe über den Rand und erbrachen in einem fort Wasser. Plötzlich hielt Gugu inne. Sie polterte nicht mehr, sondern wurde still. Über ihr Gesicht schlich ein bitteres, trostloses Grinsen. Ein Sonnenstrahl kam zwischen den Wolken hervor, huschte über ihr Antlitz und verlor sich in den wogenden Wellen auf dem Wasser. In diesem Moment sah sie aus wie ein Held, der am Ende ist und keinen Ausweg mehr sieht. Sie sagte leise zu Qin Strom: »Hör auf, dich zu verstellen! Schluss mit dem Theater!« Qin Strom schaute sie einen Moment lang überrascht an. Dann zündete er augenblicklich und problemlos den Motor. Das Schnellboot preschte pfeilgeschwind auf das Floß der Wangs zu. Ich klopfte Shizi den Rücken und beobachtete verstohlen die Tante. Sie sah niedergeschlagen aus, die Augen nur einen Spaltbreit geöffnet; ab und an bleckte sie die Zähne und grinste. An was sie wohl dachte? Mir fiel plötzlich ein: Sie ist schon siebenundvierzig! Ihre Jugend und die Blüte ihres Lebens sind vorüber und sie bewegt sich auf dem Weg jenseits ihrer Lebensmitte. In ihren leidgeprüften, lebenserfahrenen Gesichtszügen konnte man schon die Wehmut des Alters lesen. Ich erinnerte mich an das, was meine Mutter uns zu Lebzeiten mehrfach erklärt hatte: »Wozu sind die Frauen geboren? Frauen sind zum Kinderkriegen geboren. Die Frau erwirbt durch das Kinderkriegen Stand und Rang, sie erwirbt durch das Kinderkriegen Respekt und Würde, und sie empfängt durch das Kinderkriegen im höchsten Maße Glück und Ehre. Kann eine Frau keine Kinder bekommen, so ist das eine Tragödie. Denn ohne Kinder ist sie keine richtige Frau. Das Herz einer Frau, die nie Kinder geboren hat, wird hart; und wenn sie keine Kinder geboren hat, altert sie auch besonders schnell.« Mutter hatte damit Gugu gemeint. Aber sie hatte es nie in ihrer Anwesenheit gesagt. Hatte das gealterte Aussehen der Tante wirklich etwas damit zu tun, dass sie niemals Kinder bekommen hatte? Sie war siebenundvierzig. Wenn sie sich jetzt beeilte und heiratete? Könnte sie dann vielleicht noch welche haben? Aber woher einen passenden Mann nehmen? Tantes Boot hatte das Floß der Wangs im Nu eingeholt. Als sie ihm näher kamen, drosselte Qin Strom die Geschwindigkeit und manövrierte das Boot sachte längsseits. Wang Bein stand mit dem Staken in der Hand am Heck, in einer Pose, als wolle er jeden Augenblick bis aufs Blut kämpfen. Wang Leber hatte die kleine Ohr auf dem Arm. Er saß am Bug des Floßes. Chen Nase stand mitten auf dem Floß, hielt seine Frau umfasst, weinte und lachte und brüllte gleichzeitig: »Galle, beeil dich und bring unser Kind zur Welt! Nun mach schon, Liebes. Krieg es jetzt, dann darf es am Leben bleiben! Wenn du’s jetzt kriegst, dann trauen die sich nicht mehr, uns zu töten! Wan Herz! Kleiner Löwe! Ihr habt verloren! Ha! Ihr seid gescheitert!« Tränen liefen diesem hünenhaften Mann über das bärtige Gesicht und rannen in Rinnsalen herab. Zu gleicher Zeit ließ Galle ein mark- und beinerschütterndes Brüllen hören. Als das Patrouillenboot und das Floß zusammenstießen, beugte sich die Tante vor und streckte eine Hand aus. Chen Nase zog ein Messer, er schien wie von Sinnen, wie ein kaltblütiger Mörder: »Nimm deine Teufelskrallen weg!« Gugu sagte ganz ruhig: »Das sind keine Krallen von einem Teufel. Das ist die Hand einer Frauenärztin.« Ich bekam dieses prickelnde Gefühl in der Nase, meine Augen wurden heiß, als ich verstand, was da geschah. Ich schrie aus Leibeskräften: »Chen Nase, lass Gugu an Bord! Hilf ihr rauf! Lass sie Galle helfen, das Kind zu bekommen!« Ich kriegte mit dem Enterhaken den Mast des Floßes zu fassen, und Gugu konnte mit ihrem massigen Körper auf das Floß hinüberwechseln. Kleiner Löwe sprang mit dem Arzttornister in der Hand hinterher. Als sie Galles blutdurchtränkte Hose zerschnitten, drehte ich mich zur Seite, aber meine Hand hielt mit aller Kraft den Staken fest, damit das Patrouillenboot und das Floß zusammenblieben. Einen Augenblick lang sah ich die kleine Galle ganz deutlich vor mir: Sie lag auf dem Floß in einer riesigen Blutlache, ihr zwergenhafter Leib mit dem hoch aufragenden Bauch erinnerte an einen erschreckten Delphin. Der Strom brodelte flussabwärts, ungerührt Tag wie Nacht. Die schwarzen Wolken rissen auf und plötzlich war gleißendes Sonnenlicht. Der Floßkonvoi bewegte sich flussabwärts wie eine Schlange, die mit dem Kopf wackelt und mit dem Schwanz wedelt. Mein Floß war führerlos mittendrin. Ich war voller Erwartung, hörte Galle weiter schreien und war voller Erwartung, hörte die ans Ufer klatschenden Wellen und war voller Erwartung, hörte die Esel vom Ufer her brüllen und war voller Erwartung. Vom Floß her ertönte der Schrei eines Neugeborenen. Ich wandte ruckartig den Kopf und sah Gugu den zu früh geborenen Säugling in beiden Händen halten, während Kleiner Löwe ihm über dem Nabel einen Mullverband anlegte. »Es ist wieder ein Mädchen«, sagte Gugu. Chen Nase blickte deprimiert zu Boden, er sah aus wie ein platter Autoreifen. Mit beiden Fäusten trommelte er wild auf sein Hirn ein, verzweifelt stieß er hervor: »Es ist aus, alles ist aus! Es ist meine Schuld, dass jetzt alles aus ist. Seit fünf Generationen haben wir Chens immer wenigstens einen einzigen männlichen Erben gehabt, und nun werden die Chens mit mir aussterben.« Gugu schnauzte ihn an: »Du Vieh!« Obwohl Gugus Motorboot Wang Galle und ihr Neugeborenes mit Höchstgeschwindigkeit zurück zum Anleger brachte, war Galles Leben nicht zu retten. Kleiner Löwe erzählte, dass Wang Galle kurz vor ihrem Tod noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt habe. Sie hatte zu viel Blut verloren, ihre Gesichtshaut glich dünnem Goldpapier. Sie lächelte Gugu an und schien etwas zu murmeln. Gugu beugte sich über sie und hielt das Ohr dicht an ihren Mund. Kleiner Löwe erklärte, sie habe nicht hören können, was Galle Gugu gesagt habe, aber Gugu habe es deutlich verstanden. Der Goldglanz wich von Galles Antlitz und es nahm eine graue Farbe an. Sie hatte die Augen weit geöffnet, aber sie strahlten nicht mehr. Ihr Körper hatte sich eingerollt und zusammengezogen wie ein zerknitterter leerer Mehlsack, wie der zurückgelassene Kokon, aus dem gerade die Motte entschlüpft ist, um in den Himmel zu fliegen. Gugu saß mit hängendem Kopf neben Galles Leichnam. Eine endlose Zeit verstrich. Als sie sich erhob, seufzte sie schwer. Halb an Shizi gerichtet, halb ins Selbstgespräch versunken, sagte sie: »Was war das nun wieder?« Galles Frühchen Chen Augenbraue überstand schließlich dank guter Pflege durch Gugu und Shizi die kritische Phase, in der man um sein Leben bangen musste, und überlebte. DAS VIERTE BUCH Verehrter Yoshito Sugitani san! Es sind fast unmerklich schon ganze drei Jahre verstrichen, seit wir wieder nach Gaomi zurückgezogen sind, nachdem ich in den Ruhestand gegangen bin. Obwohl in diesen drei Jahren das Schicksal etliche Windungen und Wendungen mit sich gebracht und uns einiges abgefordert hat, haben wir schlussendlich doch noch große Freude erleben dürfen. Dass Sie, lieber Freund, so voll des Lobes über mein drittes Paket mit Berichten über meine Tante sind, erfüllt mich mit Sorge und Ehrfurcht zugleich. Sugitani san, Sie sagen, dass ich diese Berichte nur ein wenig überarbeiten müsste, und schon könnte ich sie als Roman veröffentlichen. Aber da kommen mir doch starke Zweifel. Ich fürchte, dass sich kein Verlag für einen Roman mit einem solchen Thema interessiert. Zudem befürchte ich, dass Gugu sich ärgert, wenn ich das alles veröffentlichen lasse. Obwohl ich manches aus Respekt vor ihrem Alter totschweige und sie dadurch schütze, werden in diesen Berichten immer noch sehr viele, sie verletzende Details von mir ans Licht gezerrt. Was mich selbst betrifft, sind meine Berichte an Sie eine Methode, die mir gestattet, meine Verbrechen zu bereuen, und sie gibt mir Hoffnung, doch noch einen Weg zu finden, meine Sünden zu büßen. Sie haben mir durch Ihre klärenden Worte und durch Ihren Trost Erleichterung verschafft. Dass ich mit meinem Schreiben meine Sünden sühnen kann, treibt mich unentwegt an. Und weil man nur durch ehrliche, wirklich aufrichtige Schriftstellerei ein Verbrechen sühnt, deswegen schreibe ich auch immer ehrlich. Vor fünfzehn Jahren habe ich gesagt, dass man beim Schreiben die empfindlichsten Orte in der eigenen Seele nicht schonen darf; in der schmerzhaftesten Wunde des Herzens muss man rühren, das zu Papier bringen, an das allein die Erinnerung schon unerträglich erscheint. Heute meine ich, man soll von Vorfällen schreiben, die einem wirklich peinlich sind, bei denen man sich so in Verlegenheit gebracht hat, dass man sich dauerhaft dafür schämt. Man muss das eigene Ich auf den Seziertisch legen und genauestens unter die Lupe nehmen. Vor zwanzig Jahren habe ich großspurig getönt: Ich schreibe für mich selbst. Schreiben, um die eigenen Verbrechen zu sühnen, darf natürlich als Schreiben um der eigenen Person willen gelten. Aber das reicht nicht aus! Denn jetzt denke ich: Für diejenigen, die Verbrechen erdulden mussten, die Verletzungen erlitten, für diese Menschen muss ich schreiben. Und außerdem muss ich für diejenigen schreiben, deren Verletzungen und deren Verbrechen ich habe erdulden müssen. Ich bin ihnen dankbar, weil ich bei jedem neuen Unrecht, das sie mir zufügten und zufügen, an jene erinnert wurde und werde, denen ich selbst Leid zufügte und zufüge. Ich schicke Ihnen jetzt meine gesamten Aufzeichnungen, die ich innerhalb des letzten Jahres niederschrieb. Damit, so meine ich, soll Gugus Geschichte nun zu Ende gehen. Jetzt will ich mich mit der Fertigstellung des Schauspiels sputen, in dem ich meine Tante als archetypische Hauptfigur fungieren lasse. Jedes Mal, wenn ich meiner Tante begegne, sagt sie mir, wie sehr sie sich wünscht, dass Sie uns wieder besuchen kommen. Sie fragte sogar, ob die Tatsache, dass Sie noch nicht wiedergekommen sind, den Grund haben kann, dass Sie das Flugticket nicht bezahlen können. In diesem Fall sollen Sie ihr bitte Bescheid geben, denn sie möchte es dann sehr gern für Sie kaufen. Weiter sagte sie mir, es gebe so vieles, das sie keinem einzigen Menschen anvertrauen könne. Wenn Sie, liebster Freund, aber kämen, dann wolle sie sich Ihnen offenbaren und nichts mehr verschweigen. Die Sache betreffe Ihren verblichenen, sehr verehrten Herrn Vater; er habe ihr ein großes Geheimnis anvertraut, das sie bisher niemanden verraten habe. Wenn Sie, Sugitani san, es erführen, würde es Sie gewiss bis ins Mark entsetzen, das sagte sie. Bester Sugitani san, ich kann mir gut vorstellen, um was es sich bei diesem Geheimnis handelt, aber wir warten natürlich, bis Sie, mein bester Freund, uns wieder besuchen, dann wird meine Tante sich Ihnen anvertrauen und es Ihnen berichten. Eine andere Sache möchte ich noch ansprechen. Obwohl ich mein Material schon zur Post gebracht habe, lieber Sugitani san, und es also an Sie unterwegs ist, möchte ich an dieser Stelle noch Folgendes anfügen: Bester Freund, Sie wissen, dass ich die Sechzig bereits überschritten habe, und doch bin ich kürzlich Vater eines wunderhübschen Kindes geworden! Sugitani san, es ist vollkommen gleichgültig, wie es dazu gekommen ist, dass ich dies tatsächlich noch einmal erfahren durfte, und auch, wie viele Umstände der kleine Säugling noch machen wird, ist unerheblich. Ich möchte Sie, verehrter, teurer Freund, hier und jetzt von Herzen bitten, ihm Glück zu wünschen und für ihn einen Namen auszusuchen! Kaulquappe Gaomi, im Oktober 2008 Verehrter Yoshito Sugitani san! Es sind fast unmerklich schon ganze drei Jahre verstrichen, seit wir wieder nach Gaomi zurückgezogen sind, nachdem ich in den Ruhestand gegangen bin. Obwohl in diesen drei Jahren das Schicksal etliche Windungen und Wendungen mit sich gebracht und uns einiges abgefordert hat, haben wir schlussendlich doch noch große Freude erleben dürfen. Dass Sie, lieber Freund, so voll des Lobes über mein drittes Paket mit Berichten über meine Tante sind, erfüllt mich mit Sorge und Ehrfurcht zugleich. Sugitani san, Sie sagen, dass ich diese Berichte nur ein wenig überarbeiten müsste, und schon könnte ich sie als Roman veröffentlichen. Aber da kommen mir doch starke Zweifel. Ich fürchte, dass sich kein Verlag für einen Roman mit einem solchen Thema interessiert. Zudem befürchte ich, dass Gugu sich ärgert, wenn ich das alles veröffentlichen lasse. Obwohl ich manches aus Respekt vor ihrem Alter totschweige und sie dadurch schütze, werden in diesen Berichten immer noch sehr viele, sie verletzende Details von mir ans Licht gezerrt. Was mich selbst betrifft, sind meine Berichte an Sie eine Methode, die mir gestattet, meine Verbrechen zu bereuen, und sie gibt mir Hoffnung, doch noch einen Weg zu finden, meine Sünden zu büßen. Sie haben mir durch Ihre klärenden Worte und durch Ihren Trost Erleichterung verschafft. Dass ich mit meinem Schreiben meine Sünden sühnen kann, treibt mich unentwegt an. Und weil man nur durch ehrliche, wirklich aufrichtige Schriftstellerei ein Verbrechen sühnt, deswegen schreibe ich auch immer ehrlich. Vor fünfzehn Jahren habe ich gesagt, dass man beim Schreiben die empfindlichsten Orte in der eigenen Seele nicht schonen darf; in der schmerzhaftesten Wunde des Herzens muss man rühren, das zu Papier bringen, an das allein die Erinnerung schon unerträglich erscheint. Heute meine ich, man soll von Vorfällen schreiben, die einem wirklich peinlich sind, bei denen man sich so in Verlegenheit gebracht hat, dass man sich dauerhaft dafür schämt. Man muss das eigene Ich auf den Seziertisch legen und genauestens unter die Lupe nehmen. Vor zwanzig Jahren habe ich großspurig getönt: Ich schreibe für mich selbst. Schreiben, um die eigenen Verbrechen zu sühnen, darf natürlich als Schreiben um der eigenen Person willen gelten. Aber das reicht nicht aus! Denn jetzt denke ich: Für diejenigen, die Verbrechen erdulden mussten, die Verletzungen erlitten, für diese Menschen muss ich schreiben. Und außerdem muss ich für diejenigen schreiben, deren Verletzungen und deren Verbrechen ich habe erdulden müssen. Ich bin ihnen dankbar, weil ich bei jedem neuen Unrecht, das sie mir zufügten und zufügen, an jene erinnert wurde und werde, denen ich selbst Leid zufügte und zufüge. Ich schicke Ihnen jetzt meine gesamten Aufzeichnungen, die ich innerhalb des letzten Jahres niederschrieb. Damit, so meine ich, soll Gugus Geschichte nun zu Ende gehen. Jetzt will ich mich mit der Fertigstellung des Schauspiels sputen, in dem ich meine Tante als archetypische Hauptfigur fungieren lasse. Jedes Mal, wenn ich meiner Tante begegne, sagt sie mir, wie sehr sie sich wünscht, dass Sie uns wieder besuchen kommen. Sie fragte sogar, ob die Tatsache, dass Sie noch nicht wiedergekommen sind, den Grund haben kann, dass Sie das Flugticket nicht bezahlen können. In diesem Fall sollen Sie ihr bitte Bescheid geben, denn sie möchte es dann sehr gern für Sie kaufen. Weiter sagte sie mir, es gebe so vieles, das sie keinem einzigen Menschen anvertrauen könne. Wenn Sie, liebster Freund, aber kämen, dann wolle sie sich Ihnen offenbaren und nichts mehr verschweigen. Die Sache betreffe Ihren verblichenen, sehr verehrten Herrn Vater; er habe ihr ein großes Geheimnis anvertraut, das sie bisher niemanden verraten habe. Wenn Sie, Sugitani san, es erführen, würde es Sie gewiss bis ins Mark entsetzen, das sagte sie. Bester Sugitani san, ich kann mir gut vorstellen, um was es sich bei diesem Geheimnis handelt, aber wir warten natürlich, bis Sie, mein bester Freund, uns wieder besuchen, dann wird meine Tante sich Ihnen anvertrauen und es Ihnen berichten. Eine andere Sache möchte ich noch ansprechen. Obwohl ich mein Material schon zur Post gebracht habe, lieber Sugitani san, und es also an Sie unterwegs ist, möchte ich an dieser Stelle noch Folgendes anfügen: Bester Freund, Sie wissen, dass ich die Sechzig bereits überschritten habe, und doch bin ich kürzlich Vater eines wunderhübschen Kindes geworden! Sugitani san, es ist vollkommen gleichgültig, wie es dazu gekommen ist, dass ich dies tatsächlich noch einmal erfahren durfte, und auch, wie viele Umstände der kleine Säugling noch machen wird, ist unerheblich. Ich möchte Sie, verehrter, teurer Freund, hier und jetzt von Herzen bitten, ihm Glück zu wünschen und für ihn einen Namen auszusuchen! Kaulquappe Gaomi, im Oktober 2008 1 Ich hatte immer den Eindruck, dass Gugu über grenzenlosen Mut verfügt, dass es auf dieser Welt nichts und niemanden gibt, vor dem sie sich fürchtet. Dennoch haben ich und Kleiner Löwe mit eigenen Augen beobachtet, wie sie beim Anblick eines Frosches so in Panik geriet, dass sie krampfte, ihr der weiße Schaum vor dem Mund stand und sie bewusstlos zu Boden sank. Es geschah an einem Vormittag im April, ich war mit meiner Frau einer Einladung Chen Backes und meines Cousins Jin Xiu in die Froschzuchtstation gefolgt, die die beiden gemeinschaftlich eröffnet hatten. Es hat kaum ein paar Jahre gedauert, da hatte sich unser rückständiges, abgelegenes Nordost-Gaomiland völlig verändert. Beide Ufer unseres großen Flusses hatte man mit weißen, soliden Mauern befestigt. Auf die Grünstreifen an den Ufern hatte man alle möglichen seltenen Blumen und Büsche gepflanzt. Außerdem waren zu beiden Seiten des Flusses an die fünfzehn neue Viertel entstanden. Vielstöckige Plattenbauten wechselten sich ab mit Einzelhäusern im europäischen Stil. Diese Viertel am Flussufer waren inzwischen bis an die Kreisstadt herangewachsen. Bis zum Flugplatz von Tsingtao waren es nur vierzig Autominuten. Koreanische und japanische Handelsreisende kamen in Scharen, um bei uns in den Bau von Fabriken zu investieren. Der Großteil des Ackerlandes war inzwischen zu Rasen geworden, der zum Golfplatz der Metropolregion Weifang Kiautschou gehörte. Obwohl man unser Nordost-Gaomi inzwischen in Bezirk Chaoyang umbenannt hat, habe ich die alte Gewohnheit, meine Heimat Nordost-Gaomi zu nennen, nicht abgelegt. Von dem Viertel, in dem wir nun wohnen, bis zur Froschzuchtfarm sind es zweieinhalb Kilometer. Mein Cousin wollte uns mit dem Auto abholen, aber das schlugen wir aus. Wir nahmen den Fußweg am Flussufer. Als wir dort entlanggingen, begegneten uns ab und an junge Frauen, die ihren Säugling im Kinderwagen spazieren fuhren. Wir gingen unmittelbar aneinander vorüber, denn der Fußweg war schmal. Diese jungen Frauen hatten, eine wie die andere, mit Feuchtigkeitscreme gepflegte Gesichter, einen reservierten Blick, und ihnen entströmte der edle Duft teurer Parfums. Die Babys in den Kinderwagen saugten brav am Schnuller, manche schliefen fest, andere schauten mit ihren schwarzen Knopfäuglein aus dem Wagen. Alle Babys hatten diesen feinen, süßen Babygeruch. Immer, wenn ein Kinderwagen auf uns zukam, hielt Kleiner Löwe die Leute an, beugte sich mit ihrem üppigen Körper in den Wagen hinunter, streckte ihre Hand nach dem Säugling aus und streichelte die kleinen Patschhändchen und die weichen Gesichtchen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie sich mit jeder Faser ihres Herzens an den Babys erfreute. Eine blonde, blauäugige Ausländerin schob einen Zwillingskinderwagen mit zwei kleinen eurasischen Babys auf uns zu. Die entzückenden Kleinen trugen Seersuckersonnenhütchen und waren niedlich wie zwei Barbiepüppchen. Kleiner Löwe streichelte beide abwechselnd, murmelte leise Worte, ihre Augen wurden feucht. Ich sah das höflich lächelnde Gesicht der jungen Ausländerin und wie sie dann den Arm ausstreckte und Shizi an der Bluse zupfte: »Passen Sie auf, dass meine Kinder nicht Ihre Spucke aufs Gesicht bekommen!« Shizi seufzte: »Wie kommt es wohl, dass wir uns früher gar nicht für die Kleinen interessiert haben und sie nun plötzlich so niedlich finden? Das zeigt wohl, dass wir alt geworden sind!« »Nicht unbedingt!«, meinte die Ausländerin. »Die Kinder sind im Zuge unseres steigenden Lebensstandards auch viel hübscher als früher geworden, ihre Qualität ist sozusagen gestiegen.« Auf dem Weg trafen wir auch ein paar alte Bekannte von früher. Man schüttelte sich die Hände, redete ein paar Brocken miteinander, pure Höflichkeitsfloskeln, sonst nichts, und beendete diese Kurzgespräche immer mit einem gemeinsamen Seufzer und zwei Sätzen wie: »Alt sind wir geworden!« – »Richtig, die Zeit vergeht wie im Fluge, kaum versieht man sich’s, und es sind wieder zehn Jahre vergangen!« Auf dem Fluss sahen wir ein buntes Kreuzfahrtschiff gemächlich vorbeiziehen, wie ein sich vorbeischiebendes Ehrentor . Der Wind trug besinnliche Musik an unser Ohr, im Inneren des Schiffes konnten wir Musikerinnen in historischen Kostümen chinesische Zither und Hsiao-Flöte spielen sehen, ein Bild wie von einer altchinesischen Seidenmalerei. Ab und an sauste ein Motorboot vorbei, der Bug bäumte sich über dem Wasser auf, so dass die weißen Möwen sich vor den hochspritzenden Wellen erschreckten. Wir hielten uns an den Händen. Von außen betrachtet, hinterließen wir einen sehr vertrauten Eindruck. Aber jeder von uns war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Kleiner Löwe mochte vielleicht an die niedlichen Kinder denken, mir tauchten vor dem geistigen Auge die zwanzig Jahre alten Bilder von der furchtbaren Verfolgungsjagd auf, die mir immer noch Herzklopfen verursachten. Wir gingen auf dem Bürgersteig der brandneuen, gerade fertiggestellten großartigen Schrägseilbrücke und überquerten den breiten Kiaulai. Es gab unter den Autos, die die Brücke passierten, viele BMWs oder Mercedes Benz, stromlinienförmig geschnittene Limousinen, wie große Möwen, die ihre Flügel ausbreiten und abheben. Auf der anderen Seite der Brücke sahen wir rechter Hand den Metropol-Golfplatz, linker Hand den Niangniang-Tempel der großen Himmelsmutter Tianhou . Nach dem Mondkalender war es der 18. des vierten Monats, Buddhas Geburtstag, und man feierte das traditionelle Fest im Niangniang-Tempel. Im Viertel rund um den Tempel fand man keinen einzigen freien Parkplatz mehr. An den Nummernschildern konnten wir sehen, dass die Autos größtenteils aus den umliegenden Kreisstädten gekommen waren, aber sogar aus angrenzenden Provinzen waren Gläubige mit dem Auto da. Das Viertel war früher ein Dorf gewesen, das sich rund um den Tempel entwickelt hatte. Der Tempel hatte dem Dorf seinen Namen gegeben. Schon als Kind war ich mit meiner Mutter hierhergekommen, um Räucherwerk zu verbrennen. Obwohl es wirklich viele Jahre her war, obwohl in der Zwischenzeit so viel geschehen war, konnte ich mich noch gut daran erinnern. Während der Kulturrevolution hatten sie den Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Der wieder aufgebaute Tempel war noch imposanter als der alte, er besaß eine majestätische Halle und purpurne Mauern mit glasierten gelben Veluriyam-Ziegeln, wie ein chinesischer Palast. Entlang den zwei Wegen zum Tempel drängten sich Räucherwerk- und Kerzenverkäufer und zahlreiche Stände mit Niwawa-Püppchen, hinter denen die Standbesitzer mit lauter Stimme ihre Tonkinder anpriesen: Tonkinder für eure roten Wunschbändchen! Niwawa-Püppchen für eure roten Wunschbändchen! Einer der Standbesitzer trug eine lange, senfgelbe Mönchstracht und hatte einen kahlgeschorenen Schädel, unschwer war zu erkennen, dass es sich bei ihm um einen Mönch handeln musste. Er schlug im richtigen Tempo und mit den richtigen Pausen den Rhythmus auf dem Holzfisch und sang dazu: Rotes Band am Hals des Puppenkinds, zu Hause freu’n sich alle schon aufs Kind. Eben noch am roten Band ins Haus geholt, vergeh’n zwei Jahr, da ruft es Papa, Mama schon. Meine Tonkindchen sind besonders fein, des Künstlers Hand gab’s ganze Herzblut rein. Niwawa-Püppchen von mir sind hübsch und bunt mit Aprikosenwangen und ’nem Kirschenmund. Meine Tonkindchen könnt ihr sehen in allen unsern 108 Kreisen, weil wir Shandonger sie am meisten wegen ihrer Zauberkraft preisen. Hast du ein rotes Band um eine einzige Puppe geschwungen, hast du alsbald einen schönen Jungen entbunden. Bei einem Niwawa-Puppenpärchen kriegst du Buben und Mädchen als Drachen- und Phönixpärchen. Bei drei Bändern mit drei Niwawa-Puppen winken dir die drei Glücksgestirnschnuppen mit Glück, hohem Alter, Beamtenrang. Wählst du vier Bänder und vier von den Kindern, nennst du alsbald die vier Lokapalas Himmelskönige deine dir treuen Söhne. Bei Fünfen werden dir fünf überragende Führerpersönlichkeiten in den Leib der Mutter wiedergeboren, sechs auf einen Streich gebe ich dir nicht, da fürcht’ ich, dass deine Frau ein Schnütchen zieht ... Die Stimme kam mir bekannt vor. Von Nahem erkannte ich ihn: Dieser falsche Mönch war doch tatsächlich Wang Leber. Er war gerade dabei, seine Niwawa-Püppchen an ein paar Frauen – waren es Koreanerinnen oder Japanerinnen? – zu verkaufen. Ich sinnierte noch darüber, dass es wohl besser wäre, Kleiner Löwe erst gar nicht hinzulassen, damit Leber nicht verletzt wäre, als sie – zwei Seelen, ein Gedanke, wie man so schön sagt – sich aus meiner Hand freimachte und zu Leber hinlief. Ich blickte ihr nach. Schlagartig war mir klar, dass sie gar nicht zu Wang Leber, sondern zu seinen Niwawa-Püppchen wollte. Leber hatte nicht zu viel versprochen. Die Tonkinder seines Standes waren von einer einzigartigen Schönheit. Links und rechts neben ihm verkaufte man auch Tonkinder, die grellbunt bemalt waren, und, ob es nun Mädchen oder Buben waren, alle gleich aussahen. Seine Tonkinder waren kräftig bunt, wirkten dabei aber natürlich; jedes einzelne war unterschiedlich. Jede Puppe war eine eigene Persönlichkeit; die eine war lebhaft, die andere ein vorwitziger Spaßmacher, die nächste bezaubernd naiv, wieder welche muffelig, und nicht zuletzt waren da die übermütigen, die laut lachend losprusteten. Ein Blick und ich wusste sofort, das mussten die Tonkinder von Hao Große Hand, dem berühmten Lehm- und Tonskulpturenkünstler aus Nordost-Gaomi sein. 1999 hatten er und meine Tante geheiratet. Er verkaufte seine Tonkinder seit vielen Jahrzehnten immer auf seine sehr eigene Art und Weise. Wie war das möglich, dass er sie Wang Leber zum Verkauf überlassen hatte? Leber stand neben den Tonkindern seines Stands und redete mit leiser Stimme eindringlich auf die Frauen ein, die ein Figürchen kaufen wollten. »Die Puppen da drüben sind ohne Frage kostengünstiger. Aber sie sind mit einem Model gemacht. Meine hier sind teurer, die hat der Gaomier Tonskulpturengroßmeister Qin Strom mit geschlossenen Augen aus einem Tonklumpen herausgeknetet. An diesen Tonkindern sieht man, was lebensecht heißt! Die Haut erscheint so zart, als ob sie schon die leiseste Berührung verletzten könnte!« Leber nahm ein Tonkind mit kleinem Mündchen in die Hand, das aussah, als sei es in Wut geraten, und erklärte: »Die Wachsfiguren der französischen Madame Tussaud und die Tonkinder unseres Großmeisters Qin sind gleichrangige Kunstwerke. ›Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase.‹ Schon mal gehört? ›Nüwa, die große Urahnin und Mutter des Menschengeschlechts, greift sich einen Batzen Lehm vom Gelben Fluss und knetet daraus einen Menschen.‹ Schon mal gehört? Erde ist das allerwundersamste Element. Die Erde, die unser Meister Qin verwendet, holt er aus zwei Metern Tiefe aus dem Kiaulai-Fluss herauf. Sie besteht aus dreitausend Jahre alten Sedimenten. Sie ist Schlamm vom Grund des Kiaulai. Aus ihr besteht unsere Zivilisation, unsere Geschichte, einfach alles. Diesen Flussschlamm holt er ans Tageslicht, trocknet ihn an der Sonne, setzt ihn dem Mondlicht aus, um ihn schließlich, angereichert mit der Essenz von Sonne und Mond, auf dem Mahlstein zu zerkleinern. Dann fügt er klares Wasser hinzu aus den Tiefen des Flusses, gewonnen bei der ersten Morgenröte, und Wasser vom Grund eines Brunnens, gewonnen zum Zeitpunkt des Mondaufgangs, um alles zum einer griffigen Masse zu kneten und danach mit einem Wäschebleuel zu bearbeiten, bis die Erde teigig wie ein Mehlfladen ist. Erst dann beginnt er, die Tonkinder zu formen. Außerdem sollt ihr noch wissen, dass er jedes Mal, wenn er ein Niwawa-Kindchen fertig hat, ihm mit dem Zahnstocher oben in den Schädel, da, wo die Fontanelle ist, ein kleines Loch piekst, um, nachdem er sich mit der Nadel in die Fingerkuppe des Mittelfingers gestochen hat, einen Tropfen seines eigenen Blutes einzufüllen. Das kleine Loch schließt er vorsichtig mit der Fingerspitze. Dann stellt er das Tonkind zum Trocknen an einen luftigen, kühlen Ort. 7 x 7 = 49 Tage Genau die Zeit, in der die Seele des Toten in der Zwischenwelt verharrt, um dann wiedergeboren werden zu können. Dann erst wird die Niwawa bemalt. So entstehen Tonkinder, die wirklich eine kleine Seele besitzen. Ich will euch auch nicht verschweigen – zu fürchten braucht ihr euch nicht, wenn ich es euch jetzt verrate –, dass des Meisters Tonkinder in Vollmondnächten zu tanzen beginnen, wenn sie Flötenspiel hören. Sie tanzen und klatschen in die Hände und lachen fröhlich miteinander. Gerade so laut wie der Ton, den wir aus dem Handy hören, wenn wir mit jemandem telefonieren. Nicht sehr laut, aber sehr deutlich. Glaubt ihr mir nicht, dann nehmt ein paar Tonkinder am roten Band mit nach Haus. Wenn sie keinen Zauber besitzen, bringt sie wieder und werft sie mir hier vor meinem Stand in Scherben vor die Füße. Ich bin mir sicher, keiner von euch wird auch nur ein einziges dieser zauberhaften Kinder missen wollen. Denn ihr würdet, wenn ihr sie zu Boden werft, Blut fließen sehen, würdet ihr Weinen hören ...« Nachdem Wang Leber so das Blaue vom Himmel heruntergeredet hatte, kaufte jede der beiden Frauen, die zum Tempelfest angereist waren, zwei Tonkinder. Leber holte vier Präsentkartons unter dem Tisch hervor und packte die Tonkinder sorgfältig ein. Erst als die beiden Reisenden zufrieden von dannen gezogen waren, grüßte er uns und winkte uns zu sich heran. Er hatte uns vermutlich längst erkannt. Wenn nicht mich, so zumindest Shizi, in die er doch fast fünfzehn Jahre lang hoffnungslos verliebt gewesen war. Aber er tat, als hätte er uns gerade eben erst entdeckt und rief uns wie elektrisiert entgegen: »Ach ihr! Ach, ihr beide seid es!« »Sei gegrüßt, alter Freund! Haben wir uns lange nicht gesehen!«, sagte ich. Kleiner Löwe lächelte ihn an und murmelte irgendetwas, das ich nicht deutlich verstand. Leber und ich schüttelten uns mit aller Kraft die Hände. Dann ließen wir los und zündeten uns sofort Zigaretten an, ich mir eine von seinen, Marke Eight Happiness, er sich eine von meinen »General-Zigaretten«. Kleiner Löwe schaute sich in Ruhe die Niwawa-Tonkinder an. »Ich hatte es schon läuten hören, dass ihr beide wieder nach Hause gezogen seid. In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist, denn jede Stadt hat ihre besondere Art, Hühner aufzuschneiden, nicht wahr?« »Richtig, der Fuchs steckt den Kopf in den Bau, wenn ihn der Tod ereilt, denn ohne Heimat sein heißt leiden. Und der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Da, wo ich geboren bin, will ich auch begraben werden«, antwortete ich ihm. »Aber wir haben Glück, dass wir in dieser Epoche leben. Überleg mal, wenn wir die Zeit jetzt fünfundvierzig Jahre zurückdrehen müssten. Ich wage nicht, darüber nachzudenken.« »In der Vergangenheit wurde der Mensch im Käfig gehalten. Und wenn er raus sollte, dann nur an der Leine, jetzt sind wir doch freier. Hast du Geld, kannst du dir eigentlich alles erlauben, solang du dich an die Gesetze hältst.« »Was du da gerade zum Besten gegeben hast! Alle Achtung! Dass du den Leuten so einen blauen Dunst vormachst!« Und während ich mit dem Finger auf die Tonkinder zeigte: »Haben die wirklich solche Zauberkraft?« »Du meinst, ich scher mich nicht drum und lüge, dass sich die Balken biegen?« Mit ernster Miene fuhr er fort: »Ich sage nur die Wahrheit. Das bisschen, das ich da hinzugedichtet habe, sollte ja wohl erlaubt sein. Selbst Staatsmedien gestatten Übertreibungen, solange sich das in einem vernünftigen Rahmen bewegt.« »Ich kann rhetorisch nicht mit dir mithalten«, entgegnete ich nur. »Sag mal, sind die Tonpuppen wirklich von Qin Strom?« »Wie kommst du darauf, dass das nicht stimmen könnte?«, fragte Leber verwundert. »Also, dass die Kinder bei Vollmond und Flötenspiel tanzen, das war übertrieben. Aber dass Qin Strom sie mit geschlossenen Augen modelliert, das ist hundertprozentig wahr. Wenn du da Zweifel hegst, dann komm mit und schau es dir an, sobald du mal ein bisschen Zeit hast.« »Ist Qin Strom jetzt bei uns im Dorf gemeldet?« »Heutzutage? Was heißt es da noch, eine Meldebescheinigung zu beantragen und sich da niederzulassen, wo der Wohnsitz registriert wurde? Das ist Firlefanz von gestern! Heute bleibst du da, wo es dir passt.« Wang Leber fuhr fort: »Wo deine Tante wohnt, da wohnt auch Qin Strom. Seine hartnäckige Liebesverblendung bezüglich Gugu ist einmalig auf der Welt. Und in der Unterwelt!« Kleiner Löwe hielt ein hübsches Tonkind in den Armen, eines ohne Schlitzaugen mit hohem Nasenrücken, es ähnelte einem europäisch-chinesischen Mischlingsbaby: »Dieses Kind möchte ich.« Ich musterte es. Ich hatte ein vages Gefühl, genauer gesagt ein Déjà-vu! Ich kannte es. Woher kannte ich das Mädchen? Wer war es? Himmel! Es war Galles Tochter Chen Augenbraue! Gugu und Kleiner Löwe hatten die Kleine ein halbes Jahr bei sich gehabt, dann hatten sie die kleine Augenbraue ihrem Vater Nase zurückgeben müssen. Ich erinnerte mich deutlich an den Abend, an dem Chen Nase zu uns kam und seine Tochter zurückverlangte. Es ging auf das Chinesische Neujahr zu, wir feierten gerade das Herdgottfest. Überall waren Böller gezündet worden und die Luft hing voller Rauchschwaden und Salpetergeruch. Kleiner Löwes Antrag auf Familiennachzug war vom Militär bereits bewilligt worden, so dass sie die Kommunekrankenstation verlassen durfte. Nach dem Neujahrsfest wollte ich zusammen mit ihr und Yanyan im Zug nach Peking reisen. In einer großen Wohneinheit der Armee war ein Appartement mit zwei Zimmern frei geworden, das unser neues Heim werden sollte. Mein Vater hatte es abgelehnt mitzukommen. Er hatte seinerzeit auch nicht meinem großen Bruder in die Kreisstadt folgen, sondern auf seinem Grund und Boden bleiben wollen. Nur gut, dass mein Bruder auf Kreis- und Dorfebene arbeitete, da würde er sich jederzeit um Vater kümmern können. Nach Wang Galles Tod hatte Chen Nase zu trinken begonnen. Oft rannte er in volltrunkenem Zustand weinend und lachend durch die Straßen. Zuerst bedauerte man ihn noch. Mit der Zeit wurde es den Leuten aber zu viel. Als man Galle polizeilich hatte suchen lassen, um sie wie einen Schwerverbrecher festzunehmen, hatten die Dörfler Lohnzulagen aus Nases Bankguthaben erhalten. Nachdem sie gestorben war, hatten die meisten ihm sein Geld zurückgegeben. Die Kommune hatte ihm danach auch keine Lebenshaltungskosten mehr von seinem Bankguthaben abgezogen, so dass er, großzügig geschätzt, mindestens dreißigtausend Yuan besitzen musste, genug, um sich einige Jahre über Wasser zu halten. Er hatte den kleinen Säugling Augenbraue, den Gugu und ihre Gehilfin auf die Krankenstation getragen und um dessen Überleben sie erfolgreich gekämpft hatten, so gut wie vergessen, hatte er doch Galle, als er sie schwängerte, dem für sie lebensbedrohlichen Risiko zum zweiten Mal ausgesetzt, um seiner Familie vielleicht doch noch einen männlichen Nachkommen zu bescheren. Als er gesehen hatte, dass alle Mühen umsonst gewesen waren, dass sein zweites Kind, das seine Frau unter diesen wahnsinnigen Umständen zur Welt gebracht hatte, wieder nur ein Mädchen war, hatte er unter Schluchzen wie toll mit beiden Händen auf seinen Gehirnkasten eingetrommelt: »Mit mir ist es aus! Jetzt sterben wir Chens aus!« Den Vornamen Augenbraue hatte Gugu für seine zweite Tochter ausgesucht. Weil sie ein so hübsch geschnittenes Gesicht hatte und weil sie eine Schwester hatte, die Ohr hieß. Gugu hatte bestimmt: »Augenbraue! So soll sie heißen.« Kleiner Löwe hatte in die Hände geklatscht und voller Bewunderung gerufen: »Was für ein wunderschöner Name!« Gugu und Kleiner Löwe hatten Augenbraue adoptieren wollen, aber weil sie Schwierigkeiten hatten, das Kind ins Melderegister eintragen zu lassen, war es auch schwierig mit dem Antrag auf Adoption geworden. Deswegen besaß Augenbraue bis zu dem Zeitpunkt, an dem Chen Nase sie von uns zu Haus wegholte, keine Meldebestätigung im Melderegister. Sie war ein schwarz geborenes Kind ohne Registereintrag, sie gehörte zu den illegitimen Kindern der Chinesischen Volksrepublik. Wie viele solcher schwarzen Kinder damals in China zur Welt kamen, darüber gibt es keine statistischen Erhebungen, aber es wird sich um eine astronomische Zahl gehandelt haben. Bei der vierten großen Volkszählung 1990 löste man das Problem der fehlenden Meldebestätigung der schwarz geborenen Kinder so: Man setzte ein Zwangsgeld fest für die überzähligen Kinder, wie sie auch genannt werden – eine astronomisch hohe Summe, die da eingenommen werden sollte! Wie viel Geld genau im Staatssäckel landete, ließ sich damals und lässt sich heute nicht nachvollziehen, denn es gibt darüber keine ordnungsgemäßen Belege. Welche Anzahl an schwarz geborenen Kindern die Volksmassen in den gerade vergangenen fünfzehn Jahren in die Welt setzten, steht in den Sternen. Es ist wohl anzunehmen, dass es sich erneut um eine gigantische Zahl handelt. Das Zwangsgeld, das man jetzt in solchen Fällen verhängt, ist noch fünfzehnmal höher als das von vor circa zwanzig Jahren. Wenn die nächste allgemeine staatliche Volkszählung wieder die schwarz geborenen Kinder ermittelt und die Regierung dann wieder ein Zwangsgeld gegen die Eltern verhängt, und wenn die Eltern dann in der Lage sein sollten, dieses in Gänze zu zahlen, dann ... Shizis Mutterinstinkte waren damals vollends erwacht. Sie hatte Augenbraue im Arm gehalten, hatte sie geherzt, ihr stundenlang zugeschaut. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat sogar versucht, Augenbraue die Brust zu geben. Ich habe damals nämlich bemerkt, dass ihre Brustwarzen sich verändert hatten. Ob sie auch tatsächlich Milch für die kleine Augenbraue hatte, ist ungewiss. Allerdings hat es derlei Wunder immer mal wieder gegeben. Als ich noch klein war, sah ich ein Theaterstück, das die Geschichte einer Familie erzählte, die plötzlich in Not geraten war. Vater und Mutter waren gestorben, übrig geblieben waren nur die achtzehnjährige Schwester und der in Windeln gewickelte kleine Bruder. In ihrer großen Not hatte die Schwester dem kleinen Bruder ihre jungfräuliche Brust gegeben und wenige Tage später war tatsächlich Milch geflossen. Derartige Vorfälle sind in der heutigen Zeit natürlich schwer nachvollziehbar. »Wie soll das angehen, dass die große Schwester schon achtzehn ist, aber der kleine Bruder noch gestillt wird?« Meine Mutter hat auf solche Fragen immer geantwortet: »In früheren Zeiten passierte es öfters, dass Schwiegermutter und Schwiegertochter zu ein und derselben Zeit das Wochenbett hüteten.« Trotzdem ist es aber gerade heute wieder wahrscheinlich und möglich geworden. Eine Kommilitonin meiner Tochter hat kürzlich eine kleine Schwester bekommen. Ihr Vater besitzt eine Kohlemine und bergeweise Geld. Die Bauern rackern sich als Bergmänner unter Todesgefahr in seiner Grube für ihn ab. Er wohnt in Peking und hat auch in Shanghai, Los Angeles, San Francisco, Melbourne und Toronto Nobelvillen, in denen er mit seinen Zweit- und Drittfrauen Kinder in die Welt setzt. – Ich merke, ich muss mich am Riemen reißen, damit ich nicht abschweife. Ich erinnere mich wieder an unser Herdgottfest damals. Ich gab gerade eine Portion Teigtäschchen in den Wok mit sprudelndem Wasser, meine Tochter Yanyan klatschte in ihre Händchen und sang: Eine Schar dicker weißer Gänschen hopsen mit Gespritz in den Fluss, und wenn die Flut dreimal gestiegen ist, strecken sie die Schwänzchen lustig in die Höh’. Kleiner Löwe stand mit der brabbelnden Augenbraue auf dem Arm daneben. Da kam Chen Nase in seiner schweinsledernen Jacke, eine Schirmmütze mit zwei Ohrenklappen auf dem Kopf, quer über die Straße angelaufen und zu uns ins Haus. Die kleine Ohr folgte ihm, eine Hand fest an seinem Jackenzipfel. Sie trug eine wattierte Jacke, aus der sie schon herausgewachsen war. Aus den viel zu kurzen Ärmeln lugten ihre vor Kälte roten Hände hervor. Ihr Haar stand wirr vom Kopf ab, die Nase lief, wahrscheinlich hatte sie eine Erkältung. »Ihr kommt gerade richtig.« Ich wendete die Teigtäschchen. »Setzt euch, wir essen zusammen Teigtäschchen.« Chen Nase ließ sich auf unserer Türschwelle nieder. Der Feuerschein leuchtete flackernd auf seinem Gesicht, seine Riesennase sah aus wie aus einem Stück gefrorenem Rettich geschnitzt. Ohr stand neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter, und schaute mit großen Augen ängstlich umher. Neugierig beäugte sie abwechselnd die schwimmenden Teigtäschchen im Wok, Shizi mit dem Baby auf dem Arm und Yanyan, deren Blick sie einlud, mit ihr zu plaudern. Yanyan gab ihr ein Stück Schokolade ab. Ohr legte den Kopf schief und sah ihren Vater forschend an, um dann zu uns aufzuschauen. »Nimm es ruhig! Wenn Yanyan es dir gibt, dann nimm es«, forderte ich sie auf. Sie streckte zaghaft ein Händchen aus. Nase herrschte sie scharf an: »Chen Ohr!« Erschrocken zog sie die Hand wieder zurück und fing an zu weinen. »Nase, nicht doch! Sie ist ein Kind!« Ich ging ins Schlafzimmer und holte einen Riegel Schokolade, den ich Ohr in die Tasche ihrer wattierten Jacke steckte. Nase stand auf und sagte zu Shizi: »Gib mir mein Kind.« Sie schaute ihn ungläubig an: »War es nicht so, dass du sie gar nicht wolltest?« »Wer erdreistet sich zu sagen, ich will mein Kind nicht?« Er fing vor Wut an zu keuchen. »Es ist mein eigen Fleisch und Blut! Wie könnte ich es nicht wollen?« »Der Spruch passt nicht zu dir! Als sie geboren wurde, war sie wie ein krankes Kätzchen. Ich habe sie gepflegt, so dass sie überlebte.« »Ihr habt Galle auf dem Fluss gejagt. Deswegen hatte sie eine Frühgeburt«, entgegnete Nase. »Sie wäre nicht gestorben, wenn ihr uns nicht gejagt hättet. Ihr steht bei mir mit einem Leben in der Schuld!« »Völliger Schwachsinn!«, konterte Kleiner Löwe. »So wie Galle gebaut war, durfte sie eigentlich gar nicht schwanger werden. Du denkst doch an nichts anderes als an einen Stammhalter. Ihr Leben ist dir immer ziemlich egal gewesen. Galle ist durch deine Hand gestorben.« »Das sagst ausgerechnet du?« Nase fing an zu brüllen. »Das sagst du nicht ungestraft. Ihr werdet jedenfalls kein Neujahrsfest mehr haben!« Nase griff sich neben dem Herd einen Knoblauchstößel und zielte damit auf unsern Wok. »Nase!«, rief ich. »Hast du sie noch alle? Wir sind von klein auf immer beste Freunde gewesen.« »Wo gibt’s schon Freunde in der heutigen Zeit? Als Galle sich bei deinem Schwiegervater verstecken musste, hast du sie wahrscheinlich bei deiner Tante verpfiffen?« »Das hat mit ihm nichts zu tun«, warf Kleiner Löwe sofort ein. »Das hat Xiao Oberlippe uns verraten.« »Mir ist scheißegal, wer wen verraten hat. Du gibst mir heute mein Kind zurück.« »Ich denk nicht im Traum dran! Ich lass doch das Kind nicht unter deinen Händen sterben. Du bist für die Vaterrolle ungeeignet!« »Ihr verdammten Scheißweiber! Waschlappen! Ihr doppeltgeschwänzten Zwitter, Monster, ihr! Die es nicht zuwege bringen, selber Kinder zu kriegen! Deswegen sollen dann andere auch keine haben! Weil ihr selber keine kriegen könnt! Deswegen vergreift ihr euch an den Kindern anderer Leute und nehmt ihnen ihre Kinder weg!« »Nase, halt dein Drecksmaul! Was fällt dir ein!« Ich kochte vor Zorn. »Uns das Herdgottfest verderben und unser Haus verwüsten wollen? Nur zu! Schmeiß den Stößel in den Wok!« »Du glaubst doch nicht etwa, ich trau mich nicht?« »Schmeiß ihn rein!« »Wenn ihr mir nicht sofort mein Kind wiedergebt, bin ich zu allem fähig, Mord und Totschlag und Brandstiftung!« Vater, der die ganze Zeit über im Schlafzimmer geblieben war und sich nicht gemuckst hatte, kam heraus und sagte: »Mein Junge, so wahr ich hier – bei meinem Bart – der Älteste bin, so wahr ich mit deinem Vater seit langen Jahren immer gute Freundschaft pflege, ich sage dir jetzt eins: Leg den Stößel weg!« »Dann sag ihm, er soll mir mein Kind wiedergeben.« »Es ist dein Kind. Keiner kann dir dein Kind wegnehmen«, erklärte mein Vater. »Aber du musst mit den beiden alles in Ruhe besprechen. Denn wären sie nicht gewesen, wäre dein Kind längst seiner Mutter gefolgt.« Chen Nase schmiss den Stößel auf den Boden, setzte sich wieder auf die Türschwelle und begann laut zu weinen. Ohr klopfte ihm die Schulter und rief tränenüberströmt: »Papa! Du sollst nicht weinen!« Als ich das mit ansah, musste ich schlucken und spürte, wie auch mir die Augen feucht wurden: »Kleiner Löwe, ich denke, wie sollten ihm sein Kind wiedergeben.« »Glaubt bloß nicht, dass ich das tue! Wie ein Findelkind habe ich Augenbraue aufgelesen und zu mir genommen!« »Ihr seid gemein und böse! Es ist Unrecht, mir mein Kind nicht wiederzugeben«, lamentierte Nase. »Hol deine Tante«, wies mich mein Vater an. »Nicht nötig. Bin schon da!«, rief Gugu von draußen. Ich stürzte sofort vor die Tür, um sie wie einen Retter in der Not hereinzuholen. »Nase, steh auf! Das hätte noch gefehlt, dass du den Stößel in den Wok wirfst! Das hätte ich mit eigenen Augen sehen wollen!«, herrschte meine Tante ihn an. Brav erhob sich Nase sofort. »Nase, weißt du, welches Verbrechen du begangen hast?«, fragte Gugu ihn in messerscharfem Ton. »Welches Verbrechen habe ich begangen?« »Du hast dich des Verbrechens der Kindesaussetzung schuldig gemacht. Wir haben die kleine Augenbraue mitgenommen. Wir haben sie mit Reisschleim und Milchpulver gefüttert und haben sie gerettet. Über ein halbes Jahr ist vergangen und du hast dich hier nicht ein einziges Mal blicken lassen. Diese Tochter hast du gezeugt. Da besteht kein Zweifel. Aber bist du ihr auch ein Vater gewesen?« Nase brummelte: »Sie gehört sowieso mir.« »Gehört dir?«, fragte Kleiner Löwe barsch. »Frag sie doch mal, ob ihr das recht ist. Wenn sie es möchte, kannst du sie mitnehmen!« »Ich werde besser nicht mit dir reden, denn mit dir kann man nicht vernünftig reden.« Dann sagte Chen Nase, Gugu zugewandt: »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich sehe es ein und werde mich bessern. Bitte gib mir meine Tochter zurück!« »Kein Problem«, erwiderte Gugu sofort. »Aber zuerst gehst du zur Kommune, bezahlst das Bußgeld und beantragst für dein Kind einen Eintrag im Melderegister.« »Wie hoch ist das Bußgeld?«, fragte Nase. »Fünftausendachthundert Yuan«, antwortete Gugu. »So viel? Ich habe nicht so viel Geld!« »Du hast kein Geld? Dann schlag dir das mit dem Kind aus dem Kopf.« »Fünftausendachthundert Yuan habe ich nicht, mein Leben kann ich anbieten.« »Dein Leben kannst du behalten. Genauso wie du dein Geld behalten kannst zum Saufen, zum Fleischessen und für den Puff.« »So was habe ich nie getan.« Aus Scham und Wut brüllte Chen Nase jetzt wieder. »Ich werde euch anzeigen! Wenn ich bei der Kommune damit nicht durchkomme, gehe ich vors Kreisgericht. Wenn ich beim Kreis den Prozess nicht gewinne, geh ich vors Provinzgericht. Wenn ich da nicht gewinne, klage ich vor dem Obersten Volksgerichtshof der Volksrepublik China!« »Und wenn es beim Obersten Gerichtshof auch nicht klappt?« Gugu lachte kalt. »Dann gehst du zum Internationalen Gerichtshof der UNO nach Den Haag!« »Zur UNO, klar. Zur UNO kann ich auch gehen.« »Du hast es ja echt drauf«, sagte Gugu, »und jetzt verzieh dich! Wenn du den Prozess gewonnen hast, kannst du ja wiederkommen und dein Kind abholen. Aber lass dir gesagt sein, selbst wenn du den Prozess gewinnst, möchte ich deine schriftliche Zusicherung, dass du für dein Kind gut sorgen wirst. Außerdem wirst du mir und Löwe, jedem von uns beiden, fünftausend Yuan für die bisher geleistete Arbeit zahlen müssen.« Zum Fest des Herdgottes hatte er Augenbraue noch nicht mitnehmen können. Aber gleich am Tag nach dem Lampionfest am 15. des ersten Mondmonats, als das Chinesische Neujahr vorüber war, kam er, brachte den Beleg über die bezahlte Geldbuße und holte sein Kind ab. Je fünftausend Yuan für geleistete Arbeit war natürlich nur in der Wut dahergeredet gewesen. Gugu verlangte nicht, dass er dafür bezahlte. Löwe weinte so heftig, dass sie sich am ganzen Körper verkrampfte, als hätte man ihr das eigen Fleisch und Blut entrissen. Gugu ermahnte sie schroff: »Was heulst du? Wenn du so gern Kinder willst, dann krieg doch selber eins!« Löwes Weinen wollte kein Ende nehmen. Gugu nahm sie bei der Schulter und sagte in einem Ton, in dem ich sie zuvor nie hatte sprechen hören: »Kind, mein Leben ist gelaufen. Aber ihr habt noch alles vor euch! Hör zu, die Arbeit ist jetzt zweitrangig. Jetzt wirst du erst mal ein Baby bekommen, das du dann zu mir bringst und mir in die Arme legst!« Als wir dann in Peking wohnten, versuchten wir’s, denn wir wünschten uns so sehr ein Kind. Aber unglücklicherweise hatte Chen Nase recht gehabt. Löwe konnte keine Kinder bekommen. Sie war lieb zu meiner Tochter, aber sie war in all ihren Träumen und Gedanken immer bei Chen Augenbraue. Deshalb hatte sie jetzt dieses coole Mischlingstonkind mit der hohen Nase und den Klimperaugen ausgesucht. Es hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Augenbraue. Ich konnte Kleiner Löwe gut verstehen. Sie sprach zu Wang Leber, aber eigentlich galt der Satz mir: »Dieses Kind möchte ich.« »Wie viel kostet es?«, fragte ich Leber. »Was willst du damit sagen, Renner?« Leber war empört. »Bin ich in deinen Augen so wenig wert, dass du ...« »Nun krieg das mal nicht in den falschen Hals, Leber«, beeilte ich mich zu antworten. »Ein Tonkind muss man ehrlich aus ganzem Herzen am roten Faden mit nach Haus nehmen. Wenn ich nicht bezahlen wollte, könnte ich meinen ehrlichen Willen nicht unter Beweis stellen.« Leber widersprach: »Erst das Geld führt zur Unehrlichkeit«, und dann leiser: »Das, was du für Geld kaufst, ist nur ein Stück Lehm. Ein Kind gibt es für Geld aber nicht zu kaufen.« »Ist ja gut«, sagte ich, »wir wohnen im Uferviertel, Block 9, Nr. 902. Wir freuen uns sehr, wenn du uns besuchen kommst.« »Ich komm vorbei. Ich wünsche euch, dass ihr mir bald von einem freudigen Ereignis berichtet!« Ich lachte etwas müde und nahm Abschied. Kleiner Löwe zog ich hinter mir her ins Gedränge. Wir betraten die große Halle des Niangniang-Tempels. Der gusseiserne Räucherdreifuß vor der Tempelhalle war in weißen Qualm gehüllt, intensiver Sandelholzduft erfüllte den Hof. Auf den Tischen mit den Kerzenständern neben dem Räucherdreifuß brannten dicht an dicht zahllose rote Kerzen, die Flammen flackerten und Wachs tränte an den Kerzen herunter. Viele Frauen, darunter hochbetagte wie verdorrtes Holz, hübsche wie Hibiskusblüten, die einen schäbig gekleidet, andere mit Gold und Jade behängt, drängten sich auf dem Hof und in der Halle. Hier gab es die unterschiedlichsten Frauen, die alle eines gemeinsam hatten: Sie machten andächtige Gesichter mit einem Schimmer der Hoffnung, während sie, ihr Tonkind auf dem Arm, Räucherwerk und rote Kerzen entzündeten. Die große Tempelhalle ragte weit in den Himmel empor. Neunundvierzig weiße Stufen führten zur ihr hinauf. Ich hob den Kopf und schaute mir die geschwungenen Dachvorsprünge an sowie die Inschriftentafel unter der Traufe, auf der vier goldene Schriftzeichen prangten, jedes eine Elle hoch: 德 育 群 嬰 »Tugend folgt Kindersegen«. Windspiele mit Glöckchen schmückten die Dachvorsprünge, jeder Windzug schickte ein Bimmeln der Glöckchen in den Tempelhof. Treppauf, treppab waren Frauen mit ihren Niwawa-Tonkindern auf dem Arm unterwegs. Ich war Zuschauer in einem Heer von Frauen, als Außenstehender betrachtete ich alles eingehend. Eine Zunahme der Fruchtbarkeit: wie erhaben und wie irdisch, unheilig. Wie ernst und wie zügellos ausschweifend! Ich konnte nichts dafür, dass ich mich unversehens meiner Kinderzeit erinnerte; hatte ich doch damals mit eigenen Augen dabei zugesehen, wie die Roten Garden unserer ersten Kreismittelschule, und zwar die Einsatzgruppe zur Durchsetzung der Kampagne Die Vier Alten zerschlagen und die Vier Neuen aufbauen, den Niangniang-Tempel und die Gottheiten darin brutal zerstörten. Die Jungen und Mädchen aus den Reihen dieser Einsatztruppe der Roten Garden zerrten die Kinder schenkende Himmelsmuttergöttin Niangniang aus dem Tempel und warfen sie in den Fluss. Dann riefen sie Parolen wie: Geburtenplanung, die ist gut, mal sehen ob Niangniang schwimmen tut! Die alten Weiber aus unserem Dorf, alle mit schlohweißen Haaren, knieten in Reih und Glied am Ufer und flüsterten Gebete. Ob sie darum beteten, dass die Göttin diese unverschämten Kinder bestrafte? Oder dass sie der Menschheit ihre wüsten Beleidigungen vergeben sollte? Ich habe es nicht erfahren. Ein Sprichwort bei uns sagt: Auf dreißig Jahre ostwärts folgen dreißig Jahre westwärts, so ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf beständig. An der gleichen Stelle, an der einst der alte Tempel gestanden hatte, wurde der neue errichtet, noch imposanter als der ursprüngliche. In der großen Tempelhalle schimmerte wieder golden die Statue der Göttin. Man trug unsere alten Traditionen weiter, und gleichzeitig kamen neue Moden auf: So wurde man einerseits den spirituellen Bedürfnissen der Volksmassen gerecht und weckte andererseits sogar das Interesse der Touristen aus aller Welt. Die Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen ergab eine positive Bilanz. Es scheint in China tatsächlich zu stimmen, dass sich der Bau eines Tempels mehr rentiert als der einer Fabrik. Meine alten Nachbarn und Freunde leben alle für diesen Tempel und von diesem Tempel. Ich schaute zur Skulptur der Göttin Niangniang auf. Sie hatte ein Antlitz wie der Vollmond und sturmwolkenschwarzes Haar, schmale Augenbrauen, die seitlich fast bis zum Haaransatz reichten, dazu einen gütigen Blick. Sie war mit einem langen weißen Gewand bekleidet, um den Hals trug sie eine Key¯ura, ein Collier aus Edelstein- und Perlenketten, wie der Buddha es trägt. In der Rechten hielt sie einen langstieligen Palmblattfächer, der mit der Oberkante ihre Schulter berührte, mit der Linken streichelte sie den Kopf eines auf einem Fisch reitenden Bübchens. Links und rechts von ihr drängten sich zwölf Knaben in verschiedenen Posen. Sie hatten lebendige Gesichtszüge, sprühten im ausgelassenen Spiel vor Lebenslust, dass es eine Freude war, sie anzuschauen. Ich dachte bei mir, dass bei uns in Nordost-Gaomi nur zwei Künstler in der Lage waren, solche Knabenskulpturen zu erschaffen, und das waren Hao Große Hand und Qin Strom. Wenn man Wang Leber Glauben schenken konnte, dann entsprachen diese Skulpturen eher dem Stil von Qin Strom. Denn beim Anschauen, und dieser Gedanke kam mir wie ein Verbrechen vor, fielen mir unwillkürlich die Gesichtszüge meiner Tante ein. Gestalt und Gesicht der Niangniang im weißen Gewand glichen denen meiner Tante in jungen Jahren. Vor der Statue knieten auf den Gebetskissen neun Frauen. Sie knieten lange und regungslos, ohne aufzustehen, machten wieder und wieder Kotau, die Hände zur Niangniang aufschauend, betend erhoben, in stille Gebete versunken. Auch der Marmorboden hinter den Gebetskissen war mit knienden Frauen besetzt. Die Frauen auf den Gebetskissen und auch die auf dem Boden knienden hatten alle ihr Tonkind vor sich gestellt, damit die Niangniang es sehen konnte. Auch Kleiner Löwe kniete am Boden. Sie beugte ihr Haupt zum Kotau, mit aufrichtigem Respekt; wenn ihr Kopf den Boden berührte, hörte man den Schädel auf den Boden pochen. Ihre Augen waren voller Tränen; denn wie liebte sie die Kinder! Aber ich wusste, dass ihr Wunschtraum, ein Kind zu gebären, unerfüllbar blieb. Im Jahr 1950 geboren, war sie, als wir den Niangniang-Tempel besuchten, 55 Jahre alt. Obwohl ihre Brüste noch üppig waren, war ihre Regelblutung damals bereits versiegt. Während ich damit beschäftigt war, mir die betenden Leute anzuschauen, gab es bestimmt auch solche, die mich beobachteten. Ich tat es meiner Frau nach und kniete neben ihr vor der Göttin Niangniang nieder. Wer uns betrachtete, mochte denken, dass wir als älteres Ehepaar das Tonkind für unsere Kinder geholt hätten und an deren Stelle um Kindersegen baten. Waren die Frauen mit ihrem Gebet zu Ende, steckten sie Geldscheine in den roten Gongde-Holzkasten vor der Niangniang-Statue. Diejenigen, die wenig Geld gaben, steckten es hastig hinein, solche, die viel gaben, ließen sich deutlich Zeit, damit andere sie dabei sehen konnten. Nach der Gabe band eine Nonne den Tonkindern ein rotes Band um den Hals. Zwei Nonnen in grauer Tracht schlugen mit gesenktem Blick und nur einen Spaltbreit geöffneten Augen den Holzfisch. Dabei rezitierten sie heilige Worte. Sie blickten scheinbar nie zur Seite, aber wenn eine Einhundert-Yuan-Banknote im Schlitz des roten Holzkastens verschwand, war der Schlag auf den Holzfisch besonders geräuschvoll. Wir hatten ursprünglich nicht vorgehabt hierherzukommen und deshalb auch kein Geld bei uns. In ihrer Verlegenheit streifte sich Kleiner Löwe ihren goldenen Ring vom Finger und warf ihn als Spende in den roten Kasten. Der Holzfisch der Nonnen wurde dreimal schnell hintereinander geschlagen und dies sehr laut. Fast so laut wie die Schüsse der Startpistole bei dem Marathonwettkampf, an dem ich als Schuljunge einmal teilgenommen habe. In den seitlich und hinter der großen Tempelhalle gelegenen Gebetsräumen dieses taoistischen Niangniang-Tempels wurde noch weiteren Verkörperungen der Niangniang gehuldigt: der Feen-Niangniang, der Niangniang der Weitsicht, der Enkel schenkenden Niangniang, der Pocken-Niangniang, der Muttermilch spendenden Niangniang, der verborgenen Niangniang, der Fruchtbarkeit auf dem Acker schenkenden Niangniang, der wehenfördernden Niangniang und der Geburtshilfe-Niangniang. In jedem Gebetsraum kniete der Betende nieder und huldigte; in jedem Raum gab es einen Holzfisch, den eine wachhabende Nonne schlug. Ich sah nach der Sonne und überredete Kleiner Löwe, doch ein anderes Mal wiederzukommen. Sie wollte eigentlich nicht, nickte aber trotzdem mit dem Kopf. Draußen waren seitlich entlang des Wegs, der zum Ausgang führte, viele kleine Zellen aufgereiht, aus deren Türen die Nonnen, wenn wir vorbeigingen, den Kopf herausstreckten und uns zuriefen: »Wohltäterin, lassen Sie Ihrem Kind ein Langes-Leben-Schloss machen!« »Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Morgenrötehemdchen über!« »Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Paar Wolkenholzpantinen an!« Wir hatten kein Geld, deswegen konnten wir uns immer nur entschuldigen. Eilig machten wir uns davon. Als wir wieder auf der Straße waren, war es gerade Mittagszeit. Mein Cousin rief mich auf dem Handy an, um nachzufragen, warum wir so lange auf uns warten ließen. In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben, wie die Ameisen wuselten hier die Menschen durcheinander, es gab viel zu kaufen und anzuschauen, aber wir hatten keine Zeit mehr, die Auslagen zu betrachten und durch die Geschäfte zu bummeln. Wir schoben uns nun eilig durch das Menschengewühl. Mein Cousin hatte gesagt, er warte östlich des Festtreibens schon mit dem Auto auf uns, er stehe vor der gerade heute ihre Tore öffnenden Mutter-und-Kind-Klinik, die ein chinesisch-amerikanisches Joint Venture sei. Als wir dort eintrafen, war die Feier zur Einweihung der Klinik schon vorüber. Die Hülsen und Schnüre der Böllerschlangen lagen noch auf dem Bürgersteig und der Straße herum. In der Eingangshalle hatte man an die fünfzehn Körbe mit Blumen aufgestellt, wie ihre Flügel lüftende Phönixe. Sehr reichhaltig war die Blumenpracht. Im Foyer schwebten zwei große Luftballons, an denen Spruchbänder mit Parolen hingen. Die Architektur war bogenförmig, in Blauweiß gehalten, so dass das Gebäude wirkte, als träte man in zwei ausgebreitete Arme ein, kühle und erhabene Arme. Ein demonstrativer Gegensatz zum Niangniang-Tempel, der westlich der Klinik gelegenen war. Wir entdeckten meinen Cousin, im westlichen Anzug und mit Lederhalbschuhen, und meine Tante zur gleichen Zeit. Viele Leute hatten sich aus den Blumengestecken in den Körben einfach ein paar Blumen herausgezogen. Gugu war mitten unter den Eröffnungsgästen. Sie hielt einen Rosenstrauß in den Händen, ein Dutzend frischer weißer, roter und gelber Knospen. Obwohl sie uns den Rücken zuwandte, erkannten wir sie gleich. An ihrem Rücken hätten wir sie unter zehntausend haargenau gleich gekleideten Leuten immer sofort erkannt, ohne auch nur genauer hinsehen zu müssen. Wir entdeckten bei ihr einen jungen Kerl von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren, der ihr ein in weißes Papier eingeschlagenes Paket aushändigte, gleich auf dem Absatz kehrtmachte und sich blitzschnell entfernte. Gugu öffnete das weiße Paket und schnellte in die Höhe, wobei sie einen markerschütternden Schrei ausstieß. Ihr schwerer Körper schwankte, sie verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber bewusstlos zu Boden. Auf dem Fußboden entdeckten wir einen schwarzen, mageren Frosch, der an Gugu vorbei- und davonhüpfte. 2 Draußen vor dem großen Tor der Froschzuchtfarm stand ein schwergewichtiger junger Mann Wache. Er gehörte zum Sicherheitsdienst der Farm. Dem sich nähernden Wagen meines Cousins entbot er eilfertig einen militärischen Gruß. Sodann öffnete sich das ferngesteuerte Tor und Jin Jinxiu ließ seinen VW-Passat langsam durch die Einfahrt auf den Hof des Firmengeländes rollen. Yuan Backe, früher unser Wahrsager und nebenberuflicher Kurpfuscher, war zum Geschäftsführer Yuan avanciert und leitete das Mutterunternehmen und den Hauptsitz der Firma für Froschzucht, die die beiden zusammen gegründet hatten. Er stand neben einer lackschwarzen, monumentalen Plastik im Eingangsbereich seiner Firma und erwartete uns bereits. Die Plastik stellte einen schwarzen Frosch dar. Von weitem betrachtet meinte man, ein gepanzertes Militärfahrzeug zu erkennen. Auf dem marmornen Sockel der Statue waren die Worte eingraviert: Amerikanischer Ochsenfrosch (Rana catesbeiana) Amphibium, Froschlurch, echter Frosch. Sein Ruf ist laut und durchdringend und ähnelt dem Muhen eines Ochsen. »Schnell ein Foto!« Yuan Backe war eifrig um uns bemüht. »Erst das Foto, dann die Besichtigung, danach das Essen.« Ich musterte dieses Exemplar von einem Riesenfrosch. Mir wurde zugegebenermaßen etwas mulmig. Nur der Rücken war lackschwarz, das Maul war grasgrün, und um die Augen herum hatte er goldene Ringe. Sein Bauch dagegen war gesprenkelt und wies pickelige Unebenheiten auf, so wie es manche Seegemüse haben. Sein durchdringender, finsterer Blick aus den zwei großen vorstehenden Augen schien mir Signale aus archaischen Zeiten zu senden. »Xiaobi! Hol mal den Fotoapparat her!«, rief mein Cousin laut. Eine schlanke Schöne mit einer roten Brille und einem knöchellangen Streifenrock kam angelaufen und brachte eine schwere Kamera. »Darf ich vorstellen? Xiaobi, Meisterschülerin des Departments Freie Künste der Ost-Shandong-Universität. Wir haben sie als unsere Büroleiterin engagiert«, stellte uns mein Cousin die Schöne vor. »Aber Xiaobi ist nicht nur eine Schönheit! Sie ist besonders begabt, singt und tanzt exzellent, fotografiert und bildhauert, und da sie vom Fach ist, hat sie professionelle Erfahrung. Dazu ist sie auch noch trinkfest!« »Chef, das war zu viel des Lobes.« Xiaobi war bis über beide Ohren rot geworden. »Xiaobi, das ist mein alter Schulkamerad Wan Fuß. Er ist eine berühmte Persönlichkeit! Als er noch klein war, dachten wir alle, er würde bestimmt einmal einen Weltmeistertitel im Laufen holen. Aber keiner hätte erwartet, dass aus ihm ein herausragender Theaterschriftsteller werden würde. Sein Nachname lautet Wan, sein Vorname Fuß, als Kind hatte er den Spitznamen Kleiner Renner. Jetzt nennt er sich Kaulquappe.« »Kaulquappe ist nur mein Schriftstellername«, fiel ich ein. »Das ist Lehrer Kaulquappes Gattin«, stellte mein Cousin meine Frau vor und machte eine entsprechende Handbewegung, »Xiao Shizi mit Namen. Spezialistin im Fach Gynäkologie.« Kleiner Löwe hielt ihr Tonkind auf dem Arm. Sie nickte nur geistesabwesend. »Von den Geschäftsführern Jin und Yuan habe ich schon von Anfang an viel über dich gehört«, sagte Xiaobi. »Wirklich Weltklasse hat diese Froschplastik!«, sagte Yuan Backe sichtlich zufrieden. »Das ist eine Bildhauerarbeit von Xiaobi«, ergänzte mein Cousin. Ich lobte die Plastik mit einem Seufzer der Bewunderung. »Lehrer Kaulquappe, ich bin begierig danach, Ihr kritisches Urteil zu hören.« Wir umkreisten alle zusammen die Riesenfroschstatue. Einerlei, von welcher Seite man sich ihr näherte, immer hatte man das Gefühl, dass die dunklen schwarzen Froschaugen einem tief in die Seele blickten. Sie starrten einen an, egal in welchem Winkel zur Plastik man sich befand. Nachdem wir uns gegenseitig davor fotografiert hatten, machten wir in Begleitung Yuan Backes und meines Cousins einen Rundgang durch die Farm: an den Aufzuchtbecken vorbei, dem Kaulquappenbecken, dem Becken für die Metamorphose zum Froschlurch und dem Becken mit den kleinen Fröschen. Schließlich besichtigten wir noch die Futteraufbereitung und die Herstellung der Froschprodukte. Nach der Besichtigung begegneten mir in meinen Träumen regelmäßig Bilder von solchen Froschbecken. Sie hatten alle eine ungefähre Größe von vierzig Quadratmetern. Die Wassertiefe des darin eingelassenen trüben Wassers betrug circa einen halben Meter. Die Froschmännchen schwammen an der Wasseroberfläche, pumpten ihre weißen Schallblasen auf und stießen ihren einem Ochsenmuhen ähnlichen dumpfen Paarungsruf aus. Die Froschweibchen streckten gelassen alle Viere von sich und ließen sich an die Wasseroberfläche treiben, um sich in aller Ruhe den Männchen zu nähern. Jede Menge andere Frösche lagen schon paarweise fest übereinander. Die Froschweibchen berührten die Männchen, sowie sie an der Wasseroberfläche durch das Becken schwammen. Dann umfasste das Froschmännchen mit seinen Vorderbeinen das Weibchen und umklammerte es, während die Hinterbeinchen unaufhörlich gegen den Unterleib des Weibchens traten. Zeitgleich mit dem Austreten der großen Klumpen des glasklaren, gallertartigen Laichs aus der Kloake des Froschweibchens spritzte das Froschmännchen seine durchsichtige Samenflüssigkeit ins Wasser. Bei den Fröschen findet die Befruchtung ja außerhalb des Leibes statt. Wahrscheinlich hatte es mein Cousin gesagt, oder war es Backe gewesen? Jedenfalls soll ein Froschweibchen bei jedem Paarungsakt achttausend bis hunderttausend Eier ausstoßen. Es ist also um einiges tüchtiger als die Menschen! Das ganze Becken hallte wieder von dem Fröschequaken. Die Aprilsonne hatte das Wasser in den Becken so erwärmt, dass es lauwarm war. Ein penetranter Fischgeruch, der bei ausnahmslos jedem Menschen einen starken Brechreiz hervorruft, hing über allem. »Hier haben wir sozusagen das Liebesnest der paarungswilligen Frösche auf Partnersuche. Es ist der Ort der Fortpflanzung zur Zucht üppiger Nachkommenschaft. Um die Ovulation der Froschweibchen anzuregen, geben wir dem Futter follikelstimulierende Hormone zu, sogenannte Follitropine.« – Quak! Quak Quak! Quak Quak Quak! – Die Ohren summten uns vom lauten Fröschequaken, die Bilder von den massenhaften Fröschen hatten wir noch vor Augen, da führte man uns in ein exklusiv ausgestattetes Luxusrestaurant. Eine Serviererin, die eine Uniform in Rosé trug, goss Tee ein, brachte uns Hors d’œuvres und kredenzte uns einen Aperitif und Schnaps. »Wir genießen heute ein Festessen mit Froschgerichten in allen Variationen«, erklärte Backe. Ich nahm die Speisekarte, die auf dem Tisch lag, zur Hand und las: Knusprige Froschschenkel frittiert; kurzgebratene Froschschenkel mit grüner Paprika; Froschhaschee mit Trockenbambussprossen; Kaulquappen Blau; Cremesuppe mit Froschlaichhäubchen; Gefüllte Eier mit Froschlaich ... »Entschuldigt bitte. Ich esse keine Frösche«, sagte ich nur. »Ich auch nicht«, sagte Kleiner Löwe. »Ach? Warum denn nicht?« Backe war erstaunt. »So was Köstliches. Das verschmäht ihr?« Ich war fleißig bemüht, die vorstehenden Augen der Frösche zu vergessen; die schleimige Haut und den strengen, fischigen Geruch, der ihnen anhaftete, aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber es klappt bis heute nicht. Gequält schüttelte ich den Kopf. »Koreanische Wissenschaftler konnten kürzlich aus der Froschhaut wertvolle Peptide extrahieren, die entscheidende Funktionen im menschlichen Organismus erfüllen. Sie wirken als Antioxidantien und sind im menschlichen Körper als Radikalfänger unterwegs. Also natürliches Antiaging!« Mein Cousin beugte sich zu mir herüber und sagte geheimnisvoll: »Natürlich hat Froschfleisch noch vielfältige andere mystische Wirkungsweisen, besonders was die Wahrscheinlichkeit von Zwillings- und Mehrlingsgeburten bei Frauen angeht. Sie wird durch unser Froschfleisch um ein Vielfaches erhöht.« »Möchtest du nicht doch probieren?«, fragte mich Yuan Backe. »Sei mutig! Trau dich! Wer Skorpione, Ameisen, Würmer und Giftschlangen verspeist, wird sich doch trauen, einen kleinen Frosch zu essen?« »Hast du vergessen, dass ich mit meinem Schriftstellernamen Kaulquappe heiße?« »Du hast ja Recht, mein Guter!« Backe wies den Service an: »Räumt den ganzen Tisch wieder ab, schafft alles Essen raus und deckt neu. Alle Gerichte noch einmal, nur ohne Froschfleisch.« Das Essen wurde frisch serviert, und der Schnaps floss reichlich, während wir uns zuprosteten. Ich fragte Backe: »Alter Fuchs, wie bist du auf die Idee gekommen, Frösche zu züchten?« »Wenn man richtig Geld verdienen will, muss man was anfangen, worauf andere im Traum nicht kommen!« Selbstzufrieden paffte er Kringel in die Luft. »Du bist verdammt fähig!«, sagte ich, indem ich die Stimme eines Darstellers aus einer Vorabendserie nachahmte. Etwas Ironie kam durch: »Du bist ja von klein auf was Besonderes gewesen. Ist ja nicht verkehrt, Frösche zu züchten, aber wer soll den Kühen jetzt die Nägel aus dem Magen holen? Wer auf dem Markt nach dem I Ging und den acht Triagrammen wahrsagen, wer aus den Gesichtern die Zukunft lesen? Ist es nicht schade, das alles aufzugeben?« »Kaulquappe schlägt zu, aber nicht ins Gesicht, er rügt scharf, aber taktvoll, oder wie soll ich das jetzt verstehen?«, entgegnete Yuan Backe. Kleiner Löwe sagte frostig: »Eins war da doch noch: den Frauen mit einem Haken die Spiralen entfernen!« »Meine Gute, Teure! Autsch! Das tut jetzt aber weh! Wie kannst du mir so was wieder auftischen? Gefühlte tausend Jahre ist das her! Damals hatten wir alle wenig Durchblick! Damals war ich zu gutherzig. Ich konnte nicht Nein sagen, wenn mich die Frauen belagerten, wenn sie wie die Wahnsinnigen dahinterher waren, einen Stammhalter in die Welt zu setzen. Auch war es eine aus materieller Not geborene Tugend.« »Würdest du dir das heute noch zutrauen?«, fragte ich. »Was meinst du?« Backe schaute mich irritiert an. »Eine Spirale rausnehmen!« »Das fragst du mich? Ist das dein Ernst? Du weißt doch, dass ich jahrelang zur Umerziehung im Laogai-Arbeitslager war. Mensch, ich war im chinesischen Gulag! Jetzt bin ich ein anständiger Bürger, lasse mir nichts zuschulden kommen und muss mich nicht schämen. Ich gehe einer ordentlichen Arbeit nach, an der nichts zu verheimlichen ist. Alles, was gesetzlich erlaubt ist, kann ich mir als Arbeit vorstellen. Sachen, die am Gesetz vorbeigehen, da kann man mir die Pistole auf die Brust setzen, die mache ich nicht.« »Wir halten uns diszipliniert an die Gesetze, führen ordentlich unsere Bücher und bezahlen regelmäßig alle Steuern. Wir haben eine dem städtischen Allgemeinwohl dienliche feine Firma und arbeiten mit Feuereifer«, ergänzte mein Cousin. Auch beim Essen ließ Kleiner Löwe ihr Tonkind kein einziges Mal los. Backe sagte: »Dieser verdammte Bastard Qin Strom ist das, was ich ein echtes Genie nenne! Er hat vorher nie etwas dergleichen gemacht. Und plötzlich, von einem auf den anderen Tag, beginnt er, Tonkinder zu modellieren, und übertrifft noch Hao Große Hand in seiner Kunst.« Xiaobi, die bisher nur still lächelnd dabeigesessen hatte, meldete sich zu Wort: »Die Kunstwerke von Lehrer Qin Strom sind alle von seiner tiefen Liebe beseelt.« »Braucht man denn Liebe, um Tonkinder zu kneten?«, fragte Backe. »Aber sicher doch«, so Xiaobi. »Jedes fertiggestellte Werk ist für den Künstler wie ein leibliches Kind.« »Dann ist dieser fette Frosch bei uns im Foyer also dein Kind?« Xiaobi errötete und schwieg von nun an. »Cousine Shizi, du magst wohl gerne Niwawa-Tonkinder?«, fragte mein Cousin. Yuan Backe griff sofort ein: »Das, was deine Cousine Xiao Shizi mag, sind nicht die Tonkinder. Sie wünscht sich ein echtes, eigenes Kind.« »Na, dann lasst uns das zusammen anpacken!«, rief mein Cousin sofort ganz aufgeregt. »Und der gute Kaulquappe ist bestimmt mit von der Partie!« »Ich soll mit euch zusammen Frösche züchten? Bestimmt nicht, ich bekomme ja beim bloßen Anschauen schon Gänsehaut.« »Renner, wir züchten hier nicht nur Frösche, wir ...« »Komm, lass es gut sein, Jin Jinxiu! Wir wollen deinen Cousin mal nicht in Bockshorn jagen!«, unterbrach ihn Backe. »Alter Freund, lass uns trinken! Auf ex! Weißt du noch, wie sich der Vorsitzende Mao damals durch die Landverschickung seine ›Elitejugend‹ herangezogen hat? Grenzenlos weit ist die Welt auf dem Lande. Da wird aus dir was, da kannst du ins Volle greifen! 3 »Die Liebe ist eine schwere Krankheit gewesen«, hatte Wang Leber gesagt. Wie wahr ist doch die Lehre, die er damals, als ihm die Sinnlosigkeit seines Liebeskummers bewusst wurde, aus der Erfahrung gezogen hat. Denkt man an ihn und die Ausmaße seiner Verliebtheit während dieser langen Jahre zurück, kann man sich schwer vorstellen, dass er weiterleben wollte, nachdem Kleiner Löwe mich geheiratet hatte. Schließt man von ihm auf Qin Strom, ist wohl klar, dass die Liebestollheit, mit der jener Gugu verfallen war, ebenfalls krankhafte Züge hatte. Als Gugu Hao Große Hand heiratete, sprang aber auch Qin Strom weder in den Fluss, noch erhängte er sich. Er transformierte seinen Kummer in Kunst. Gugus Heirat machte aus ihm einen überragenden Volkskünstler, als wäre dem Schlamm ein Neugeborenes entsprungen. Wang Leber hielt mir die Freundschaft und besuchte uns oft. Manchmal kam er von sich aus auf seine langjährige »Krankheit« zu sprechen. Dabei witzelte er, als spräche er von jemand anderem. Mich machte es froh, wie er damit umging. Das schlechte Gewissen, das mir viele Jahre keine Ruhe gelassen hatte, rumorte weniger. Es machte ihn mir vertrauter, er erwarb sich bei mir großen Respekt. Sugitani san, teurer Freund, Sie werden vielleicht nicht glauben, was ich Ihnen jetzt über Wang Leber schreibe: Er erzählte uns einmal, Kleiner Löwe sei barfuß am Flussufer unterwegs gewesen, und da habe er ihre Fußabdrücke im Sand gefunden. Er sei ihnen wie ein Hund auf allen Vieren schnüffelnd gefolgt. Dabei habe er den Geruch durch die Nase eingesogen, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. »Erzähl weiter solche Märchen«, sagte Kleiner Löwe damals mit rotem Kopf. »Aber es ist wahr!«, beharrte Leber mit Inbrunst: »Wenn daran auch nur ein Wort gelogen ist, sollen mir auf der Stelle Furunkel aus den Haarspitzen wachsen!« »Hört, hört!«, rief Shizi und dann, zu mir gewandt: »Dass ich nicht lache, wie sollen aus den Haarspitzen Furunkel wachsen? Da kann er ja gleich wetten, dass sein Schatten sich eine Grippe holt.« Ich merkte natürlich sofort an: »Welch ein schönes Detail! Das nehm ich in mein Theaterstück auf.« »Besten Dank«, konterte Leber. »Schreib diesen Bockmist, den der Narr namens Wang Leber so getrieben hat, ruhig auf. Ich hab hier noch Material in Hülle und Fülle.« »Wenn du das tust«, drohte Kleiner Löwe prompt, »werfe ich dein Manuskript ins Feuer.« »Auf Papier Geschriebenes kannst du verbrennen. Verse, die ich im Kopf habe, kriegst du nicht verbrannt.« »Ich merk schon, du bist wieder eifersüchtig.« Dann wandte sie sich Wang Leber zu: »Leber! Wenn ich’s mir recht überlege, hätte ich damals wohl besser dich geheiratet. Du hast doch wenigstens über meinen Fußabdrücken geweint.« »Werte Gattin meines Freundes! Reiß hier bitte keine exotischen Witze! Du und Renner passen wie der Topf zu seinem Deckel.« »Das kannst du wohl sagen. Topf und Deckel! Der Deckel kam drauf, aber der Topf blieb leer! Kein Kind, kein gar nix!« »Themawechsel, bitte! Jetzt reden wir mal von deinen Heiratsplänen, Leber! Hast du dir schon eine ausgeguckt?« »Seit ich von meiner Krankheit genesen bin, hab ich festgestellt, dass ich mich gar nicht in Frauen verlieben kann.« »Bist du homosexuell?«, fragte Kleiner Löwe spöttisch. »Ich bin gar nichts von alledem, ich liebe nur mich. Ich liebe meine Arme, meine Beine, meine Hände, meinen Kopf, Augen, Ohren, Nase, Mund, meine Eingeweide und inneren Organe, sogar meinen Schatten liebe ich. Mit ihm unterhalte ich mich übrigens regelmäßig.« »Dich hat’s wohl wieder erwischt? Ist eine neue Krankheit im Anmarsch?« »Liebt man einen anderen Menschen, so ist der Preis hoch. Liebt man sich selbst, zahlt man nicht dafür. Wie und wie viel ich mich liebe, ist meine Sache. Ich entscheide. Ich bin mein eigener Herr ...« Leber nahm mich und meine Frau mit zu dem Quartier, das er gemeinsam mit Qin Strom bewohnte. Über der Eingangstür hing ein hölzernes Türschild mit den Schriftzeichen für »Meisteratelier«: 大師工作坊 Zur Zeit der Volkskommunen hatte man hier Zugtiere und anderes Vieh gehalten. Ich war oft zum Spielen hierher hergekommen. Ich erinnere mich noch immer gut an den Geruch von Kuhmist und Mulidung, den ich jedes Mal in der Nase hatte. Auf dem Hof stand neben dem Brunnen noch die große Wanne als Tränke, zu der der alte Stallknecht Fang jeden Morgen alle Tiere einzeln am Strick geführt und dort angebunden hatte. Der junge Stallknecht Du hatte damals immer dabei gestanden und in einem fort Wasser aus dem Brunnen geschöpft, das er in die Wanne nachgoss. Der Stall war groß und luftig gewesen, mit einer Abflussrinne in der Mitte und zwanzig Steintrögen. Die zwei großen ganz vorne hatten den Mulis gehört, die hinteren den Rindern. Als wir den Hof betraten, sah ich, dass die zwanzig Anbinder der Mulis und Rinder noch da waren, auch die Parolen an der Wand konnte man noch entziffern, ja sogar der Geruch war geblieben. »Die wollten das hier alles schon abreißen«, sagte Wang Leber. »Aber dann wurde bekannt, dass von oben eine Inspektion angeordnet worden sei. Man wollte ein Dorf aus der Zeit der Volkskommunen als Ausflugsziel für die Städter erhalten. So kam es, dass der Stall blieb.« »Will man hier in Zukunft noch mal Rinder und Pferde halten?«, fragte Kleiner Löwe. »Ich schätze eher nicht.« Leber rief laut: »Qin Strom! Lehrer Qin! Meister! Gäste sind da!« Es blieb still. Wir folgten Leber und traten ein. An den Wänden waren noch immer die Rillen von den Tritten der Mulis und der angetrocknete Kuhmist zu sehen. Der große Wok, worin das Futter für die Pferde und Rinder gekocht worden war, stand noch unverändert an Ort und Stelle. Der Kang, auf dem die Fangs mit ihren sechs Söhnen geschlafen hatten, war auch noch da. Früher hatte ich ein paar Nächte auf diesem Kang verbracht. Es war im Januar kurz vor Neujahr gewesen, in der kältesten Jahreszeit, in der das Wasser sogar noch beim Heruntertropfen gefriert. Die Fangs waren arm. Sie hatten keine Steppdecken besessen. Damit ich nicht frieren musste, hatte der alte Fang die ganze Nacht über den Kang befeuert. Davon war dieser heiß wie eine Bratpfanne geworden. Seine Jungs waren das gewohnt gewesen, sie hatten wunderbar geschlafen, nur ich hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Jetzt lagen auf dem Kang zwei gefaltete Steppdecken. Darüber klebten an der Wand zwei Neujahrsbilder. Auf dem einen stand: Das chinesische Einhorn bringt Babys, und auf dem zweiten: Der Zhuangyuan, der Prüfling, der in Peking bei Hofe den ersten Platz belegt, macht einen Stadtbummel. Wir entdeckten eine dicke Platte aus Holz, die über zwei Steintrögen lag, darauf matschige Erde und Werkzeug. Dahinter stand eine Holzbank, auf der unser guter alter Qin Strom saß. Er trug einen langen blauen chinesischen Übermantel, die Ärmel und der Brustlatz waren mit Farbklecksen übersät. Sein Haar war schlohweiß, immer noch in der Mitte gescheitelt, sein Gesicht mit den großen, melancholisch dreinblickenden Augen glich dem eines Fohlens. Als er uns eintreten sah, schaute er auf. Sein Blick streifte uns kurz und sein Mund bewegte sich unmerklich; das war der Gruß, der uns galt. Dann stützte er sein Gesicht sofort wieder in beide Hände und starrte weiter grübelnd die Wand an. Unwillkürlich hielten wir den Atem an und begannen zu flüstern, versuchten leise aufzutreten, weil wir fürchteten, Lärm zu machen und den Meister beim Nachdenken zu stören. Leber führte uns zu Qin Stroms Kunstwerken, die wir alle besichtigen durften. Seine halbfertigen Figuren hatte er in den alten Steintrögen der Rinder zum Trocken aufgestellt. Die fertig durchgetrockneten standen auf ein paar langen Brettern, die er an der Nordwand wie Bänke aufgestellt hatte. Kinder in allen nur möglichen Posen grüßten uns aus den Rindertrögen. Obwohl sie noch nicht bemalt worden waren, wirkten sie beseelt. Leber flüsterte uns zu, dass der Meister dort viele Tage unbeweglich sitzend und grübelnd zubringe. Selbst nachts gehe er oft nicht schlafen. Aber wie eine Maschine mit Zeitschaltuhr fange er zu gegebener Zeit an, die Erde auf seiner Arbeitsplatte zu kneten, damit sie weich und geschmeidig bleibe. Manchmal sitze er aber auch den ganzen Tag über nur stumm und steif da, ohne einen Finger zu rühren. Kein einziges Tonkind bringe er dann zuwege. Aber wenn er einmal zu modellieren begonnen habe, dann arbeite er in rasender Geschwindigkeit. »Ich bin zuständig für den Vertrieb seiner Tonkinder, und ich führe ihm den Haushalt. Ich habe endlich die Arbeit gefunden, die mir wirklich liegt. Genau wie der Meister, der nun seine Bestimmung gefunden hat. Er stellt keinerlei Ansprüche ans tägliche Leben. Was ihm vorgesetzt wird, das isst er. Natürlich kaufe ich ihm die nahrhaftesten, gesündesten Lebensmittel, schließlich ist er Nordost-Gaomis ganzer Stolz, er ist der Stolz unseres ganzen Kreises.« Leber erzählte weiter: »Eines Nachts bemerkte ich plötzlich, dass er verschwunden war, denn er schlief nicht mehr auf dem Kang. Ich ging hastig los, um ihn zu suchen. Im Hof war er auch nicht. Wo konnte er hin sein? Ich war vor Angst schweißgebadet. Wenn ihm nun tatsächlich etwas zugestoßen sein sollte ... Dann würde man im Kreisamt sagen: Welch ein Verlust für unser Gaomiland! War doch der Kreisvorsteher mit dem leitenden Kader des Kulturamts und mit dem leitenden Kader des Büros für Touristik schon dreimal bei uns gewesen! Wisst ihr eigentlich, wer jetzt unser Kreisvorsteher ist? Der Sohn unseres alten Kreisparteisekretärs Yang Lin, dem bei uns in Gaomi so furchtbar mitgespielt wurde und der zu Gugu diese undurchsichtige Beziehung hatte. Er heißt Yang Stattlich, nämlich Yang Xiong, ein super Typ mit elektrisierenden Augen und schneeweißen Zähnen, dazu verbreitet er den intensiven Duft von Markenzigaretten. Man erzählt sich, er habe in Deutschland seinen Universitätsabschluss gemacht. Er ist es auch, der zum einen beschloss, den Viehstall nicht abzureißen, und der zum anderen den Meister zu einem Kreisbankett einlud. Der Meister folgte der Einladung zwar nicht, weil er sich nicht traute, ganz wie unser Sprichwort sagt: Er kam mit dem Halfter in der Hand, denn allein wäre er nicht hingegangen. Darin ähnelt er unseren Männern, die sich von Gugu nicht sterilisieren lassen wollten. Und drittens brachte Kreisvorsteher Yang Stattlich dem Künstler Qin Strom eine Plakette und eine Urkunde, eine Art Meisterbrief, auf dem geschrieben steht, dass er ein Großmeister im Kunstgewerbe und der Bildenden Kunst ist.« Wang Leber fischte die vergoldete Kupferplakette und den dazugehörigen blau-samtenen Meisterbrief aus einem der Tröge heraus. Natürlich hatte Hao Große Hand auch eine Plakette und einen Meisterbrief bekommen. Auch er war zu diesem Bankett eingeladen gewesen. Er war natürlich auch nicht hingegangen. Wäre er sonst Große Hand gewesen? »Dass die beiden sich rar machten, ließ sie in den Augen Yang Stattlichs noch mal in einem ganz anderen Licht erscheinen: vollendete Respektspersonen!« Leber holte aus seiner Hosentasche ein Bündel Visitenkarten hervor, dem er drei Karten entnahm: »Schaut euch die an! Jedes Mal, wenn Yang Stattlich hier war, hat er mir seine Visitenkarte gegeben. Immer mit den Worten: ›Unser Gaomi gehört noch zu den wundersamen Orten, an denen sich Drachen und Tiger im Verborgenen aufhalten. Leber, du gehörst auch zu diesen Talenten und Helden!‹ Ich habe erwidert, ich sähe doch immer schäbig und abgerissen aus, hätte so viele Schwachstellen, außer dass ich mal so eine Schau mit meiner Liebestollheit abgezogen hätte, sei ja nichts gewesen, und jetzt sei ich Marktschreier und trüge Tonkinder zu Markte. Was denkt ihr wohl, was er geantwortet hat? Er hat gesagt, jemand, der den Mumm habe, ein halbes Menschenleben lang für seine große Liebe zu kämpfen, der sei ja wohl ein außergewöhnlicher Mann. Und: ›Unser Nordost-Gaomi hat schon viele wertvolle und wundersame Menschen hervorgebracht. Ich finde, du bist einer von ihnen.‹ Dieser Typ ist durch und durch ein Kader der neuen Generation. Keiner der Regierungsbeamten, die mir bis heute begegnet sind, ist wie er. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich euch mit ihm bekannt machen. Er hat mir die Aufgabe übertragen, mich um den Meister zu kümmern, um alles, was er zum täglichen Leben braucht, und um seine Sicherheit. Deshalb lief mir sofort eiskalt der Schweiß über den Rücken, als ich mitten in der Nacht bemerkte, dass der Meister nicht in seinem Bett lag. Was, wenn ihm etwas zugestoßen wäre? Wie sollte ich das dem Kreisvorsteher jemals beibringen? Ich saß vor dem Herd und starrte ins Leere. Wie Wasser floss das Mondlicht durch Fenster und Türritzen herein. Im Schummerlicht des Herdfeuers zirpten zwei Grillen; sie erzählten mir von Traurigkeit und Einsamkeit. Da hörte ich aus dem Pferdetrog ein bitteres Lachen. Ich schnellte hoch und schaute hinüber. Da lag der Meister doch mit dem Gesicht himmelwärts im Trog. Weil der zu kurz war, hielt er seine Beine im Schneidersitz überkreuz und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Er machte einen friedvollen und gelassenen Eindruck. Auf seinem Antlitz lag ein ruhiges Lächeln. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass er schlief. Er musste wohl im Traum so bitter gelacht haben. Ihr wisst vielleicht, dass wir in Nordost-Gaomi ein paar Genies haben, die unter schweren Schlafstörungen leiden, der mit Namen Leber ist zwar kein echtes Genie, hat aber diese Krankheit auch. Leidet ihr beiden eigentlich auch an einer Schlafstörung?« Ich und Kleiner Löwe schauten einander an. Wir schüttelten den Kopf: »Wir haben so was nicht. Sobald der Kopf das Kissen berührt, beginnen unsere Nasen mit den typischen Schlafgeräuschen, und wir sind im Reich der Träume. Wir sind keine Genies.« »Es ist nicht so, dass die Schlaflosen alle Genies wären. Aber umgekehrt leiden die Genies hier fast alle unter dieser Krankheit«, meinte Leber. Gugus Schlafstörung war berühmt im ganzen Dorf: Nach Mitternacht, wenn alles schlief, konnte man weit draußen im Freien eine rauchige Stimme singen hören. Gugus Gesang. Während sie des Nachts stundenlang umherstreifte, knetete Große Hand Niwawa-Kinder. Die Schlafstörung der beiden war zyklisch und verschlimmerte oder verbesserte sich mit den Mondphasen. Bei Vollmond war gar nicht an Schlafen zu denken, bei Neumond fanden sie Ruhe. Deswegen nannte Yang Stattlich, der gern anderen Ehrungen verschafft, die von Hao Große Hand stammenden Tonkinder Mondlichtkinder und rief sogar das regionale Fernsehen, das den Meister filmte, wie er in einer milchigweißen Vollmondnacht im Mondschein Kinder modelliert. »Habt ihr die Sendung im Fernsehen nicht gesehen? Wenn nicht, nicht tragisch! Die Sendung lief als erste Folge der Reihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis. Sie begann mit den Mondlichtkindern, damit wollte man Zuschauer für diese Reihe gewinnen. Die zweite Folge trug den Namen Der Großmeister im Pferdetrog, die dritte Das außergewöhnliche Redetalent, die vierte Die Sängerin bei den Froschkonzerten. Wenn ihr die Folgen der Reihe sehen wollt, sagt mir Bescheid, ein Anruf beim Sender genügt, und sie bringen die DVD vorbei. Die ungeschnittenen Fassungen! Ich werde ihnen empfehlen, noch eine Folge mit euch abzudrehen. Den Titel habe ich mir schon ausgedacht: Einhalt und Umkehr der Heimgekehrten.« Ich und Kleiner Löwe blickten uns an und lachten. Wir wussten, dass mit Wang Leber mal wieder die Lust am Fabulieren durchgegangen war. Wir mussten ihn nicht entlarven. Wozu auch? Viel lieber wollten wir ihm weiter zuhören. Leber fuhr fort: »Nach jahrelanger Schlaflosigkeit war der Großmeister nun endlich im Pferdetrog eingeschlafen, fest und tief, wie ein sorgloser Säugling. Wie das Neugeborene aus dem hölzernen Pferdetrog, den uns der Fluss vor Jahren zugeführt hatte. Ich war von Qin Stroms Anblick so ergriffen, dass mir die Tränen kamen. Nur wer selbst an Schlaflosigkeit leidet, weiß um die Qual des Wachliegens, nur wer die Schlaflosigkeit kennengelernt hat, weiß die Süße des Schlafs zu würdigen. Ich blieb neben dem Trog, hielt Wache, hielt den Atem an aus Angst, ein Geräusch zu machen und ihn womöglich wieder aus dem Schlaf zu reißen. Die Tränen verschleierten meinen Blick. Es war mir, als läge ein schmaler Weg zu meinen Füßen, zu beiden Seiten stünde das Gras hoch in der Aue, Wildblumen blühten in allen Farben und schwängerten die Luft mit ihrem süßen Duft, Schmetterlinge flatterten, Bienen summten und ein Ton würde mich locken. Es war der Gesang einer Frau mit einer tiefen, rauchigen Stimme, sie war mir so vertraut und so lieb. Ihr Gesang lockte mich immer weiter in die Aue. Ihren Oberkörper sah ich nicht, nur bis zur Taille erblickte ich sie, einen üppigen, ausladenden, ja ballonförmigen Hintern, schlanke Waden, rosige Fersen und zarte Fußabdrücke, die ihre Füße im nassen Sand hinterlassen hatten. Sie waren unfassbar deutlich. Sogar die Papillarleisten der Fußsohlen konnte man im Sand erkennen. Ich bin ihr gefolgt, immer weiter, der Pfad schien kein Ende zu nehmen ... Allmählich spürte ich, dass ich mit dem Meister zusammen unterwegs war, wann und von woher er gekommen war, blieb mir unklar. Wir folgten den rosigen Fersen durch die Aue, bis wir den Rand eines Moores erreichten. Der Wind trug aus dessen Mitte den Geruch von fauligem Gras und Matsch herüber. Zu unseren Füßen wuchsen Seggen und Riedbüschel, in einiger Entfernung sah man hohes Schilfrohr, Kalmus und Rohrkolben, viele Binsen und andere wundersame Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Aus der Mitte des Moors hörte man Kinderstimmen ausgelassen lachen und lärmen. Die Frau, die nur bis zur Taille zu sehen war, rief mit ihrer betörend schönen Stimme über das Moor: Ihr großen und kleinen Dämonen und Geister! In Goldner Robe mit jadenem Gürtel! Erfuhrt ihr Güte, gebt sie zurück und seid dankbar! Ist man sie euch schuldig geblieben, treibt eure Schulden ein! Kaum war sie zu Ende, liefen ganze Heerscharen kleiner Nackedeis herbei, alle nur mit einem roten Lätzchen bekleidet. Manche hatten mitten auf dem Kopf einen einzelnen Zopf, der nach oben abstand, manche hatten den Kopf kahlgeschoren, manche den traditionellen Drei-Backstein-Kopf mit drei Haarzipfeln auf dem geschorenen Schädel, und alle riefen freudig durcheinander, während sie auf die Stimme zustürmten. Die Kleinen schienen nicht gerade leicht zu sein, denn die elastische Oberfläche des Moores wippte auf und ab, als sie darüberrannten. Ein wenig sahen sie aus wie eine Horde Kängurus. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umringten mich und den Meister. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umklammerten unsere Beine, kletterten uns auf die Schultern, packten uns an den Ohren, hielten unsere Haare fest, hauchten uns an den Hals. Einige sabberten uns in die Augen. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – warfen uns zu Boden und krabbelten auf uns herum. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – wühlten im Matsch und machten Matschebatzen, die sie uns auf den Körper schmierten. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – beschmierten sich dann selbst mit Matsche ... Und später, ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit dazwischen vergangen sein mochte, wurden die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – plötzlich ganz still. Sie umringten uns in einem Halbkreis. Von denen, die sich vor uns befanden, hatten sich einige auf den Bauch gelegt, andere saßen, wieder andere knieten, manche hielten das Kinn in beide Hände gestützt, manche knabberten an den Fingernägeln, manche hatten den Mund aufgesperrt. Sie sprühten vor Leben in allen nur möglichen Posen. Krass! Als stünden sie dem Meister Modell!, schoss es mir durch den Kopf. Ich bemerkte, dass der Meister längst begonnen hatte zu arbeiten. Er studierte ein Kind, und während er das tat, nahm er vom Boden einen Erdbatzen auf und begann zu kneten. Es wurde ein nach dem lebenden Abbild geschaffenes Tonkind. Als er mit dem ersten fertig war, guckte er sich ein weiteres Kind aus, und erneut nahm er einen Batzen Matsch und begann zu kneten. Wieder schuf er ein lebensechtes Tonkind ... Der Hahn krähte. Ich erschrak bis ins Mark und war sofort wach. Ich war auf der Kante des Pferdetrogs eingeschlafen, aus meinem Mundwinkel war Spucke auf den Brustlatz des Meisters getropft. Für jemanden wie mich, der an einer Schlafstörung leidet, ist die Erinnerung an einen Traum der einzige Weg zu erfahren, ob er geschlafen hat oder nicht. Wenn einem das, was man gerade erlebt hat, noch lebendig vor Augen steht, ist es der Beweis dafür, dass man geschlafen hat. Ich, der jahrelang schlaflose Leber, war auf dem Rand des Pferdetrogs eingenickt. Diese Freudennachricht, die gefeiert werden musste, war wirklich einen kaiserlichen Peitschenknall wert, wie er bei den morgendlichen Sitzungen im Palast ertönt. Natürlich war die Nachricht darüber, dass der Meister eingeschlafen war, einen noch kräftigeren Peitschenknall wert. Der Meister nieste. Er blinzelte und öffnete die Augen. Als wäre ihm gerade etwas furchtbar Wichtiges eingefallen, schnellte er aus dem Pferdetrog hoch. Draußen graute der Morgen, und schimmernd kam erstes rosa Morgenlicht durchs Fenster. Qin Strom war bereits pfeilschnell an die Arbeitsplatte gestürzt, hatte das große Paket mit der gründlich in Frischhaltefolie eingewickelten Erde geöffnet, ein Stück davon abgerissen und war auch schon dabei zu kneten und zu modellieren. Er knetete, und bald war ein nacktes Tonkind mit einem Lätzchen und einem kleinen senkrechten Zöpfchen auf dem Kopf entstanden. Mich übermannten die Gefühle, ich vermeinte die betörend schöne Stimme der Frau aus meinem Traum zu hören. Wer mochte sie sein? Natürlich niemand anderes als die gnadenreiche, an Mitleid und Barmherzigkeit reiche Niangniang!« Als Wang Leber den Namen Niangniang aussprach, waren Lebers Augen tränenumflort, und ich bemerkte, dass auch in Shizis Augen Tränen glitzerten. Sie hatte ihm seine Geschichte wirklich geglaubt. Leber fuhr fort: »Ich habe dann so schnell ich konnte den Fotoapparat geholt. Ich traute mich nicht, mit Blitz zu fotografieren, aber auch ohne Blitz habe ich eindrucksvolle Bilder davon geschossen, wie der Meister voller Schaffensdrang bei der Arbeit ist. Natürlich war es Quatsch, auf den Blitz zu verzichten, denn man hätte Gewehrsalven neben ihm abfeuern können, er hätte sie nicht gehört, so versunken war er in seine Arbeit. Sein Gesichtsausdruck änderte sich ständig, mal war er todernst, mal spiegelte er tiefschürfende Gedanken wider, mal war er heiter verschmitzt, dann schien er geheimnisvoll, als hecke er etwas aus. Dann wieder zeigte er wüste Verlassenheit. Ich beobachtete, dass sein Gesicht die Gefühlslage des Tonkindes wiedergab, das er gerade modellierte. Er schlüpfte in die Haut des Kindes, das er erschuf. Er ist mit seinen Schöpfungen aufs engste verbunden. Als wären sie sein eigen Fleisch und Blut. Die Zahl der Tonkinder auf seiner Arbeitsplatte wuchs. Er stellte die Bübchen – und natürlich auch die Mädchen – im Halbkreis vor sich auf, ihm zugewandt, so wie ich es im Traum erlebt hatte. Genauso! Ich war völlig überrascht, als ich das sah. Auf einmal wurde es mir klar! Es war also möglich, dass zwei Menschen ein und denselben Traum hatten. Konnte es anders sein? Angeblich beschreiben die Alten mit dem Vers In meinem Herzen habe ich ein zaubermächtiges Horn , wodurch unsere Seelen auf immer miteinander verbunden sind die Liebe zwischen Mann und Frau, aber ich finde, er passt genau auf den Meister und mich. Wir haben zwar keine gemeinsame Liebesgeschichte, aber wir haben eine gemeinsame Leidensgeschichte. Nachdem ich euch so viel über ihn erzählt habe, versteht ihr bestimmt, warum keins der von ihm geschaffenen Tonkinder dem anderen gleicht. Er betrachtet die Kinder nicht nur im realen Leben genau, er kann sich sogar noch in seinen Träumen Kinder anschauen. Ich habe nie gelernt, meine Hände zu benutzen, und kann so etwas nicht. Aber ich besitze eine überbordende Phantasie. Meine Augen haben die Fähigkeiten von Videokameras, ich kann mir das Abbild eines einzelnen Kindes genauso merken wie das von zehn, hundert oder tausend Kindern. Mit Hilfe von Träumen kann ich die in meinem Hirn gespeicherten Kinderbilder an den Meister übertragen und durch die geschickten Hände des Meisters werden daraus Kunstwerke. Deswegen sind ich und der Meister meiner Meinung nach von Natur aus zur Zusammenarbeit geschaffen. Man kann deshalb auch behaupten, dass die Tonkinder unser Gemeinschaftswerk sind. Nicht dass ich mich erdreisten wollte, seinen Erfolg zu schmälern! Ich bin durch meine Liebesgeschichte für Karriere, Ruhm, Profit und Beamtenstatus unempfindlich geworden; derlei Dinge sind für mich bedeutungslos wie vorbeiziehende Wolken. Ich betone nur dieses Wunder, dass nämlich Träume und Kunst miteinander verknüpft sind – ihr sollt doch wissen, dass meine unerfüllte Liebe für mich ein wertvolles Kapital darstellt. Besonders für Künstler sind eine unerfüllte Liebe, der Liebeskummer und das damit verbundene Leid eine Quelle, durch die sie die höchsten Sphären der Schöpferkraft erreichen.« Während Lebers brandender Redefluss wie eine Endlosschleife weiterlief, verharrte der Meister regungslos, das Kinn auf beide Hände gestützt, als wäre er längst zur Skulptur geworden. 4 Ein Junge brachte uns auf Wang Lebers Geheiß eine DVD mit der Reportagereihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis. Er trug Hosenträgershorts, aus denen seine langen Beine wie die von Pinocchio herausragten. Die Füße steckten in Bergschuhen. Er hatte flachsfarbene Haare, hellblonde Brauen und Wimpern und graublaue Augen. Man sah auf den ersten Blick, dass er ein Ausländer war. Kleiner Löwe suchte sofort nach Süßigkeiten, aber der Junge verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sagte in bester Nordost-Gaomi-Mundart: »Wang Leber hat gesagt, ihr müsst mir mindestens zehn Yuan geben.« Wir gaben dem Jungen zwanzig Yuan. Er machte einen Diener und verschwand pfeifend treppab nach draußen. Vom Fenster aus schauten wir ihm hinterher, wie er einer Comicfigur ähnlich in Riesenschritten zur Achterbahn im Vergnügungspark auf der anderen Seite der Straße rannte. Einige Tage später trafen wir ihn wieder, als wir am Fluss spazieren gingen. Er war mit einer hochgewachsenen Weißen unterwegs, die einen Kinderwagen schob. Der Junge und ein Mädchen, augenscheinlich sein Schwesterchen, hatten Inlineskates an den Füßen, bunte Helme auf den Köpfen, Ellenbogen- und Knieschützer an Beinen und Armen und fuhren vorsichtig ihrer Mutter hinterher. Ihr folgte ein gutaussehender Südchinese um die Vierzig, der in einem angenehmen Hochchinesisch südlicher Prägung auf seinem Handy ein Telefonat führte. Den Schluss dieser Gesellschaft bildete ein dicker Golden Retriever. Ich erkannte den Chinesen auf der Stelle, er war ein berühmter Professor irgendeiner Pekinger Hochschule, ein Promi der Pekinger Gesellschaft, der regelmäßig im Fernsehen auftrat. Kleiner Löwe konnte es mal wieder nicht lassen und hatte sich mit ihrem molligen Gesicht über das blauäugige Baby im Kinderwagen gebeugt. Die Frau lächelte ausgesprochen höflich, der Professor dagegen machte ein unfreundliches Gesicht, aus dem deutliche Geringschätzung sprach. Erschrocken zog ich Shizi am Arm, damit sie dem Kind nicht zu nahe kam. Sie konnte sich nicht von dem Anblick des Kleinen losreißen, der Gesichtsausdruck des Professors war ihr entgangen. Ich nickte ihm entschuldigend zu, er antwortete mir mit einem Lächeln. Meine Frau ermahnte ich, sie solle es unterlassen, sich jedes Mal wie die kinderfressende Baba Jaga an die Kleinen heranzumachen: »Kleiner Löwe, hast du den Gesichtsausdruck der Eltern nicht gesehen? Du möchtest dir immer alle Babys anschauen, übersiehst aber, dass die Leute es nicht gern sehen, wenn du ihre verhätschelten Kinder anfasst.« Kleiner Löwe war schwer beleidigt. Sie schimpfte sofort auf die Reichen, die ausländische Frauen heiraten und rücksichtslos Überzählige Kinder in die Welt setzten, ein Kind nach dem anderen, Jungen und Mädchen. Anschließend war sie zerknirscht und machte sich Vorwürfe, dass sie der Tante damals geholfen hatte, die Geburtenpolitik durchzusetzen. So hartherzig! Knallhart! So viele Kinder hätten sie abgetrieben. Sie hätten sich damit am Himmel versündigt, deswegen hätte der Himmel sie mit Kinderlosigkeit gestraft. Und sie hoffe doch sehr, dass ich mir auch eine Weiße suchen würde, mit der ich viele niedliche Mischlingskinder in die Welt setzen könnte. Sie sagte wörtlich: »Renner. Ich werde es dir nicht neiden und auch nicht eifersüchtig auf diese weiße Frau sein. Kein bisschen! Such dir eine Weiße und heirate sie! Dann bekomm mit ihr nach Herzenslust Kinder! Je mehr, desto besser. Und bring sie zu mir. Ich ziehe sie für euch groß.« Kaum waren diese Worte ihrem Mund entschlüpft, weinte sie. Sie schluchzte so sehr, dass sie keine Luft mehr bekam, ihr üppiger Busen bebte. Ihr von Muttergefühlen übervolles Herz wusste nicht wohin mit all der Liebe. Ich versichere jedem, hätte man ihr einen Säugling gegeben, aus ihren Brüsten wäre zweifellos reichlich Milch geflossen. In dieser Gemütsverfassung steckte ich die DVD, die uns Leber hatte vorbeibringen lassen, in den DVD-Spieler. Leuten, die nicht von hier stammen, tun vielleicht die Ohren weh, wenn sie dies hören müssen, aber wir hier ... Uns kamen sofort die Tränen, als wir die mit unserer heimischen Opernmusik unterlegte Reportage über Gugu und den Lehm- und Tonskulpturenkünstler Hao Große Hand und dessen Leben und Arbeiten in Gaomi sahen. Ich gebe geradeheraus zu, dass ich mich zwar damals mit einer Meinungsäußerung zurückgehalten hatte, als Gugu Hao Große Hand heiratete, dass es mir persönlich aber äußerst missfiel. Mein Vater, mein Bruder und seine Frau waren genau wie ich dagegen. Wir fanden, dass Gugu eine schlechte Partie machte. Wir hatten seit unserer Kinderzeit immer so darauf gewartet, dass Gugu heiratete! Als sie mit Wang Xiaoti zusammen war, was hatte uns das an Ruhm und Ehre eingebracht! Es war großartig gewesen! Und was für ein maßlos grausames Ende es dann genommen hatte! Als später Yang Lin folgte, konnte er zwar Wang Xiaoti bezüglich unserer Vorstellung von einem idealen Ehemann für Gugu nicht das Wasser reichen, aber er war ein hoher Beamter. Selbst wenn sie den in sie vernarrten Qin Strom geheiratet hätte, wäre der doch immer noch besser gewesen als Hao Große Hand. Inzwischen hatten wir uns eigentlich alle damit abgefunden, dass Gugu ihr Leben lang unverheiratet bleiben würde! Wir hatten uns bereits Gedanken darüber gemacht, wer von uns dazu in Frage käme, sie zu versorgen, wenn sie einmal alt und gebrechlich wäre, wer sie bis zuletzt begleiten sollte. Und dann heiratete sie ohne jede Vorwarnung Hao Große Hand ... Ich und Kleiner Löwe hatten noch in Peking gewohnt, als uns die Nachricht erreichte. Zuerst waren wir überrascht, dann fanden wir es grotesk, zuletzt waren wir bitter enttäuscht. Die Folge mit dem Titel Mondlichtkinder gab zwar vor, über den Tonkinder-Künstler Hao Große Hand zu berichten, aber die Hauptdarstellerin war eindeutig Gugu. Von der Begrüßung durch den Reporter bis ganz zum Schluss, als man noch einen Blick in Große Hands Magazin werfen durfte, in dem er fertige und unfertige Tonkinder aufbewahrte, stand Gugu als Hauptdarstellerin im Zentrum eines jeden Bildes. Sie berichtete mit Händen und Füßen farbenprächtig und in allen Stimmlagen, während Hao Große Hand mit undurchdringlichem Blick still an seinem Arbeitstisch saß, wie ein altes Ross in einer Traumwelt. Werden alle Lehmkünstler, wenn sie zu Meistern ihrer Kunst geworden sind, zu alten Rössern in einer Traumwelt? Er besitzt einen großen, klingenden Namen, ist eine Berühmtheit in Gaomiland, aber soweit ich mich erinnere, bekam ich ihn während meines gesamten Lebens nur wenige Mal zu Gesicht. Als mein Bruder ein Festessen gab, weil mein Neffe von der Luftwaffe zum Piloten ausgebildet werden sollte, traf ich Große Hand einmal kurz, aber es war schon dunkel. Viele Bürger Gaomis sahen ihn in dieser Fernsehfolge zum ersten Mal, und dies nur auf dem Bildschirm. Sein Haar war schlohweiß, seine Gesichtsfarbe jedoch rosig. Er sah aus wie ein die Wolken reitender Unsterblicher. Der Film enthüllte uns überraschenderweise auch, warum Gugu ihn geheiratet hatte. Gugu zündete sich darin eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und sprach mit ernster Stimme: »Die Sache mit dem Heiraten ist von der Vorsehung bestimmt. Wenn ich das zu euch jungem Volk sage, sollt ihr nicht meinen, ich hätte dem Materialismus abgeschworen. Ich bin bisher immer eine kämpferische Materialistin gewesen, und ich vertrete bestimmt nicht die Ansicht, dass ihr jetzt etwa dem Idealismus anhängen sollt. Aber mit dem Heiraten ist es so eine Sache: Da muss man die Vorsehung entscheiden lassen, sonst wird das nichts. Fragt ihn.« Sie zeigte mit dem Finger auf Hao Große Hand, der wie eine aus Lehm modellierte Gottheit dasaß. »Fragt ihn, ob er sich auch nur im Traum hätte vorstellen können, einmal mit mir verheiratet zu sein. 1997 bin ich sechzig geworden, da hat mich mein vorgesetzter Kader in den Ruhestand geschickt. Ich war natürlich nicht erpicht darauf. Ich war schon fünf Jahre länger als alle anderen im Dienst. Der Stationsleiter unserer Krankenstation, ihr kennt ihn ja alle, ist ein Vieh, das Hilfsbereitschaft mit Undank lohnt. Er ist der Sohn des Huang Milz aus dem Dorf Hexicun, man nennt ihn Sexgurke, sein richtiger Name lautet Huang Jun. Gerade fällt mir ein, diesen Faun habe ich auch aus dem Leib seiner Mutter geholt. Der ist nur zweieinhalb Tage auf die medizinische Fachschule in Gaomi gegangen. Wenn dieser Hohlkopf jemanden mit dem Stethoskop abhören soll, findet er Lunge und Herz nicht, wenn er Blut abnehmen soll, die Vene nicht, wenn er eine TCM-Pulsdiagnose machen soll, die drei Punkte Cun, Guan, Chi nicht. Und so einer ist Leiter unserer Krankenstation geworden! Als er auf die medizinische Fachschule ging, war ich für ihn beim Gesundheitsamt, bei Amtsleiter Shen, und habe mich für ihn eingesetzt. Aber kaum hatte er die Macht in Händen, kannte er mich nicht mehr. Er kann nichts. Nur zwei Stärken besitzt er: Nr. 1 – Leute einladen, Geschenke machen, sich einschmeicheln und lobhudeln. Nr. 2 – Mit faulen Tricks Frauen ins Bett kriegen.« Hier machte sie eine Pause. Sie wirkte gebrochen. »Ich war völlig verblendet! Ich hatte mir den Wolf ins Haus geholt und damit dem Missbrauch Vorschub geleistet! Die jungen Dinger in unserem Krankenhaus hatte er schnell alle durch. Wang Xiaomei aus Wangjiazhuang war gerade mal siebzehn. Ein wunderhübsches ovales Gesicht, makellose helle Haut und einen dicken Zopf auf dem Rücken, dazu lange Wimpern wie Schmetterlingsflügel, mit denen sie immer klimperte, und große, sprechende Augen. Wer sie sah, sagte sofort, wenn Zhang Yimou die entdecken sollte, würde sie noch berühmter als Gong Li und Zhang Ziyi. Aber es kam nicht dazu, denn erst einmal hatte Sexgurke sie am Wickel. Er fuhr nach Wangjiazhuang und beredete die Eltern der Kleinen, da hätten sogar Tote zu reden begonnen. Sie sollten ihre Tochter die Schule wechseln lassen und sie auf unsere Krankenstation geben, damit sie von mir die Frauenmedizin lernte. Er gab das zwar vor, aber Wang Xiaomei war dann keinen einzigen Tag bei mir auf der Frauenstation. Sexgurke, dieser ständig nach Frischfleisch hungrige Wolf, nahm sie völlig in Beschlag. Sie leistete ihm Tag und Nacht Gesellschaft, nachts hatten sie Sex, da will ich ja mal nichts sagen, aber am helllichten Tage trieben sie es auch miteinander. Viele aus Gaomi haben es mit eigenen Augen gesehen. Wenn es ihm über war, fuhr er mit ihr in die Kreisstadt und gab von öffentlichen Geldern Festessen. Kader und Beamte lud er ein, solche Aktivitäten verlegte er alle in die Stadt. Habt ihr diesen miesen Kerl nie dabei gesehen? Ein langes Gesicht, wie das eines Esels, die Lippen von der Farbe eines Blutergusses, zwischen den Zähnen Zahnfleischbluten, dazu einen üblen Mundgeruch, so stark, dass jedes Pferd davon in die Knie geht. Und nun hatte er tatsächlich noch vor, Vizeleiter des Kreisgesundheitsamts zu werden. Wang Xiaomei musste ihm auf alle drei Arten gefällig sein, mit ihm essen und trinken, mit ihm reden und spaßen und mit ihm tanzen und Sex haben. Es hätte nur noch gefehlt, dass er sie an seine Trinkkumpane auslieh. Er versündigte sich schwer! Er setzte sich schlechte Ursachen! Eines Tages rief er mich zu sich in sein Büro. Die Frauen im Krankenhaus fürchteten nichts mehr, als zu ihm ins Büro gerufen zu werden. Ich natürlich nicht. In meiner Jackentasche hatte ich immer ein kleines Messer dabei. Ich war jederzeit darauf vorbereitet, ihn zu kastrieren. Er goss mir mit einem Scheißlächeln einen Tee nach dem anderen ein und bewirtete mich mit Süßigkeiten. Ich sagte nur: ›Stationsleiter Huang, wenn es etwas gibt, wobei ich helfen soll, dann heraus mit der Sprache. Es wird nicht um den heißen Brei herumgeredet.‹ Er lachte trocken, fast hüstelte er: ›Verehrte Tante!‹ – Wie abartig! Er wagte es doch tatsächlich, mich Tante zu nennen! – Er sagte, er sei von mir auf die Welt gezogen worden, ich hätte ihn aufwachsen sehen, er sei nichts anderes als mein leiblicher Sohn. Ich sagte: ›Nun mal langsam ... das ist zu viel der Ehre. Du bist Stationsleiter des Krankenhauses. Ich dagegen bin eine einfache Frauenärztin. Ich kann dich nicht als meinen Sohn betrachten, diese Ehre gebührt mir nicht. Wenn es etwas gibt, das du mir sagen willst, dann tu es bitte direkt!‹ Er hüstelte wieder. Und dann besaß er doch tatsächlich die Schamlosigkeit zu sagen: ›Ich habe – leitenden Kadern passiert gerade dieses kleine Malheur sehr häufig – nicht aufgepasst und Wang Xiaomei geschwängert.‹ ›Herzlichen Glückwunsch!‹, sage ich nur, ›Wang Xiaomei trägt einen Drachensohn unter ihrem Herzen! Unser Krankenhaus bekommt einen Stammhalter!‹ ›Verehrte Tante! Machen Sie bitte keine Witze! Ich bin so besorgt, dass ich seit Tagen keinen Bissen mehr runterbringe und kein Auge mehr zutue.‹ – Dieses Vieh! Gehört der etwa zu der Spezies, die keinen Bissen mehr runterbringen und kein Auge mehr zutun? – ›Sie verlangt von mir, dass ich mich scheiden lasse. Wenn ich nicht einwillige, will sie mich beim Kreisparteitag verklagen.‹ Ich sage nur: ›Warum das? Bei euch Kadern und Regierungsbeamten ist es doch üblich, eine Zweitfrau zu halten! Kauf ihr ein schönes Haus im Grünen, wo du sie versorgst und es ihr an nichts fehlt. Wo ist das Problem?‹ ›Verehrte Tante, erlauben Sie sich keinen Spaß mit mir! Sich eine Zweitfrau und Drittfrau halten sind doch Dinge, die nur unter dem Tisch bezahlt werden. Wie soll ich unbemerkt so viel Geld zusammenbekommen, dass ich ihr eine Villa kaufen kann?‹ ›Na, dann lass dich doch scheiden!‹ Dieser Esel machte ein langes Gesicht: ›Verehrte Tante, Sie können es sich vielleicht nicht vorstellen, aber mein alter Schwiegervater und seine Brüder, die Schweineschlächter, sind richtige Kriminelle. Wenn die das erfahren, machen sie mich kalt.‹ ›Du bist doch aber Stationschef, ein hoher Kader. Also, wo ist das Problem?‹ ›Verehrte Tante! Sie wissen doch genau, dass ich nur ein zweitrangiger Kader bin, der Leiter der Krankenstation eines winzigen Dorfes! In Ihren werten Augen bin ich doch ein Nichts, nicht mal einen Furz bin ich wert! Hören Sie auf, mich zu verhöhnen! Helfen Sie mir aus der Klemme und tun Sie was!‹ ›Was sollte ich deiner Meinung nach tun?‹ ›Wang Xiaomei vergöttert Sie. Sie hat mir so oft gesagt, wie sehr sie Sie bewundert. Wenn sie auf keinen hört, auf Sie wird sie hören.‹ ›Was willst du von mir?‹ ›Überreden Sie sie, dass sie das Kind aus ihrem Bauch herausnehmen lässt.‹ ›Stationsleiter Huang, für derlei den Himmel beleidigende, sich an Himmel und Erde versündigende Geschäfte stehe ich nicht mehr zur Verfügung. Nie wieder! Ich habe in diesem meinem Leben bereits über zweitausend Kindsabtreibungen vorgenommen! So ein schmutziges Geschäft verrichte ich nicht mehr. Freu dich, dass du Vater wirst! Dieses Mädchen ist ein hübsches Kind! Der kleine Säugling, den sie gebären wird, ist bestimmt entzückend! Eine Tat, an der der Himmel seine Freude hat! Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dann mache ich die Geburtshilfe!‹« Gugu erzählte weiter: »Mit wehenden Ärmeln verließ ich sein Büro. Dem hatte ich’s gegeben! Zurück in meinem Büro trank ich ein Glas Heißwasser, und ich wurde traurig. Diese Missgeburt Sexgurke! So einer sollte gar keine Nachkommenschaft zeugen dürfen! Dass die hübsche Wang Xiaomei mit ihrem makellosen Körper das Kind einer solchen Kreatur gebären sollte, war wirklich schade. Ich habe in meinem Leben so viele Kinder auf die Welt geholt! Am Ende habe ich die Erfahrung gemacht: Ob jemand gut oder böse wird, ist zur Hälfte vererbt und zur anderen Hälfte der Erziehung geschuldet. Ihr könnt mich jetzt als Verfechterin der Lehre von der Blutreinheit und der Eugenik verunglimpfen! Aber meine Erfahrung hat mich nun mal gelehrt, dass es so ist. Aus der Nachkommenschaft eines Huang würde, selbst wenn man den Säugling im Tempel aufzöge, nur ein Mönch, der das Gebot der Keuschheit nicht einhält und im Verborgenen zu Frauen geht. Huang Xiaomei tat mir sehr leid. Aber ihr unter dem Deckmäntelchen politisch intendierter Überzeugungsarbeit ins Gewissen reden? Dieses Päckchen würde ich der Missgeburt Sexgurke nicht abnehmen! Das sollte er mal schön alleine ausbaden! An einem unkeuschen Mönch mehr oder weniger würde die Welt auch nicht zugrunde gehen. Aber letztendlich habe ich der Kleinen doch einen Abort gemacht. Sie selbst hat mich darum gebeten. Sie kniete vor mir, hielt meine Waden umklammert und heulte Rotz und Wasser! Meine Hose wurde davon ganz schmutzig. Jämmerlich weinend flehte sie: ›Gugu, ich bin auf ihn hereingefallen, er hat mich betrogen. Selbst wenn er mit einer von acht Mann getragenen Sänfte ankäme, um mich zu seiner Frau zu machen, würde ich dieses Vieh nicht heiraten. Gugu, mach es mir weg! Diese schlechte Frucht will ich nicht in meinem Leib haben!‹ Also habe ich es getan.« Gugu hatte sich eine neue Zigarette angezündet und machte ein paar tiefe Lungenzüge, so dass weißer Qualm ihr Gesicht verhüllte. »Was für eine zarte Rosenknospe sie einmal war! Er hat sie so zugerichtet, dass aus ihr eine verbrauchte, welke Blume geworden ist.« Gugu wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. »Ich schwor mir, nie mehr im Leben einen derartigen Eingriff vorzunehmen. Ich hielt es nicht mehr aus. Selbst wenn die Frucht im Leib der Schwangeren ein Affe wäre, ich würde nie wieder einen Abort durchführen. Als ich das Geräusch der Saugglocke hörte, dieses Gurren, Gurgeln, war mir, als packte eine Riesenhand mein Herz, drückte zu, fester, noch fester, vor Schmerz verkrampfte ich mich, war schweißnass am ganzen Leib, Sternchen tanzten vor meinen Augen und ich hatte Rotsehen. Als es vorbei war, fiel ich ohnmächtig zu Boden ... Ich bin offenbar sehr alt geworden. Mir fällt auf, dass ich komplett den Faden verloren habe. Dabei wollte ich eigentlich berichten, warum ich Hao Große Hand geheiratet habe.« Gugu erzählte weiter: »Der Tag, an dem mein Ausscheiden aus dem Dienst bekanntgegeben wurde, war nach dem Mondkalender der 15. des siebten Monats, der Tag Allerseelen, an dem der Höllenfürst Yama die Tore der Hölle geöffnet hat. Sexgurke wollte mich bewegen, weiter im Dienst zu bleiben. Ich sollte meine Position behalten dürfen, und er wollte mir jeden Monat achthundert Yuan geben. ›Pfui ...!‹ Ich spuckte ihm ins Gesicht. ›Du Missgeburt, deine alte Großtante sagt dir eins, sie hat genug wertvolle Lebenszeit an dein Krankenhaus verschwendet! In meinen Dienstjahren sind acht von zehn Yuan, die das Krankenhaus verdiente, doch durch mich hereingekommen. Aus ganz Weifang, aus allen vier Bezirken und acht Kreisen kommen die kranken Frauen und Kinder zu mir. Wenn ich Geld bräuchte, wär’s mir ein Leichtes, immer mal tausend oder achthundert Yuan nebenbei zu verdienen. Und da willst du Gurke mich für achthundert Yuan pro Monat kaufen? Dafür bekommst du nicht mal einen Wanderarbeiter! Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Ich will nicht mehr. Nun gehe ich zurück aufs Land und werde mich ausruhen.‹ Das hat mir Sexgurke übelgenommen. In den zwei Jahren zuvor hatte der mich ganz schön drangsaliert. Mich drangsaliert? Ach, was rede ich! ›Gurke, lass es dir gesagt sein‹, erklärte ich ihm, ›deine alte Großtante hat in ihrem Leben schon alles erlebt! Sie hatte selbst als kleines Mädchen nicht mal vor den Japsen Angst. Da wird sie sich mit über siebzig doch nicht von jemandem wie dir, du Missgeburt, ins Bockshorn jagen lassen!‹ Richtig. So ist es abgelaufen. So und nicht anders. Wenn ihr nun wissen wollt, warum ich Große Hand heiratete, muss ich bei den Fröschen beginnen. Am Abend nach meinem offiziellen Eintritt in den Ruhestand hatten ein paar meiner alten Kollegen im Restaurant einen Tisch bestellt. Ich war an jenem Abend betrunken. Der Schnaps war schlecht, ich hatte gar nicht viel getrunken. Jie Xiaoque, der Chef des Restaurants, ein Sohn des Jie Zhuas – 1963 habe ich ihn auf die Welt gezogen, –, holte eine Flasche Wuliangye hervor, um mir Respekt zu erweisen, wie er sagte. Das war, verdammt noch mal, gepanschter Schnaps. Ich trank ein halbes Glas, dann wurde mir so schlecht, dass mir Hören und Sehen verging. Alle am Tisch, die von dem Fusel getrunken hatten, kippten von den Stühlen. Jie Xiaoque erbrach weißen Schaum und verdrehte die Augen.« Gugu erzählte, sie sei dann schwer torkelnd gegangen und hätte eigentlich ins Wohnheim des Krankenhauses zurückgewollt, sei aber versehentlich in die Aue gelaufen und in eine Senke geraten. Einen gewundenen Pfad entlang, zu beiden Seiten mannshohes Schilf, und Wasser sei da gewesen. Das habe im Mondschein hell geschimmert wie Glas. Kröten und Frösche hätten laut gequakt, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Ein auf- und abebbendes Quaken wie die Lieder, die sich die Leute über die Täler im Hochgebirge zusingen. Manchmal sei das Gequake auch von überallher gekommen. Alle hätten in der Riesensenke gleichzeitig gequakt, bis zum Himmel hinauf habe es getönt. Dann habe plötzlich Stille geherrscht. Grabesstille. Bis auf das Summen der Insekten. Gugu betonte, sie sei in den vielen Jahren, in denen sie Hausbesuche gemacht habe, in unzähligen Nächten unterwegs gewesen. Nie habe sie sich vor etwas gefürchtet, aber in jener Nacht habe sie die Furcht gepackt. Man sagt, das Quaken von Fröschen höre sich wie Trommeln an. In jener Nacht habe es sich aber wie Weinen angehört. Wie das Weinen von Tausenden und Abertausenden Neugeborenen. Sie habe ja das Schreien der Neugeborenen immer so gern gehört! Für eine Frauenärztin ist der erste Schrei des Neugeborenen die schönste und bewegendste Musik auf der ganzen Welt! Aber in jener Nacht habe in dem Froschgesang Hass mitgeklungen. Das Schreien von Wesen, die ihrer Würde beraubt wurden, die in äußerster Bedrängnis sind, so habe es geklungen! Als wären es die Neugeborenen, an denen sie sich versündigt hatte, und deren Totengeister nun Anklage erheben würden. Auch der letzte Tropfen Schnaps, den sie bei Tisch getrunken habe, sei ihr auf der Stelle als eiskalter Schweiß aus den Poren gedrungen, als sie das gehört habe. »Denkt nicht, dass das etwa Halluzinationen durch übermäßigen Alkoholgenuss gewesen wären! Der Schnaps hatte den Körper als kalter Schweiß längst wieder verlassen. Ich konnte glasklar denken.« Sie habe dem sie umzingelnden Gequake auf dem matschigen Pfad entfliehen wollen. Doch wie? Wohin hätte sie sich retten können? Wie schnell sie auch gerannt sei, das Quaken, dieses hasserfüllte, wüste Weinen habe sie von überallher bedrängt. Sie erzählte weiter, sie habe wegrennen wollen, habe aber keine Kraft mehr gehabt. Der Pfad sei zu matschig gewesen. Zäher Matsch, wie Kaugummi, das die jungen Leute auf die Straße spucken. So habe der Matsch unter ihren Füßen geklebt. Sie habe ihre Füße nicht mehr heben können. Mit ganzer Kraft habe sie sich abgemüht. Dann habe sie entdeckt, dass sich zwischen ihren Schuhsohlen und der Erde ein dichtes, silbernes Seidengespinst befand. Sie habe versucht, diese Fäden zu durchtrennen. Aber immer, wenn sie ihren Fuß wieder aufgesetzt habe, seien neue Seidengespinste aufgetaucht. Sie habe die Schuhe fortgeworfen und sei barfuß weitergelaufen. Aber barfuß sei das Ziehen noch stärker gewesen. Sie habe es noch viel deutlicher gespürt. Als hätten die Fäden des Gespinsts Saugnäpfe bekommen, hätten sie bombenfest an ihren Fußsohlen geklebt. Die Haut ihrer Fußsohlen habe sich beinahe abgelöst. Gugu berichtete, sie habe schließlich am Boden gekniet. Wie ein Riesenfrosch sei sie vorwärtsgekrochen, aber der Matsch und das Gespinst hätten sich an ihren Knien, an den Waden und an den Handtellern festgesaugt. Sie habe darauf aber keine Rücksicht genommen und sei weiter vorwärtsgekrochen. Dann seien mitten aus dem dichten Schilfröhricht, da wo das silbern schimmernde Wasser zu sehen gewesen sei, zwischen den Seerosen unzählige Frösche herausgesprungen. Grasgrüne seien darunter gewesen, goldgelbe, manche groß wie ein Bügeleisen, andere klein wie Dattelkerne, manche mit Goldsternaugen, manche mit Augen wie die Bohnen für die rote Bohnenpaste. Die Frösche seien wie eine Flutwelle auf sie zugerollt, ihr tosendes, wütendes Quaken sei von überallher gekommen, habe sie umzingelt. Gugu berichtete, sie habe spüren können, wie deren harte, spitze Mäuler ihr in die Haut schnappten. Als wären an ihren Füßen mit den Schwimmhäuten spitze Fingernägel gewesen, so habe es sich angefühlt, als sie sie gekratzt hätten. Sie seien ihr auf den Rücken gehopst, an den Hals, auf den Kopf, bis sie die schwere Last nicht mehr habe tragen können und bäuchlings auf den Boden gedrückt worden sei. Gugu meinte, das Furchterregendste sei gar nicht das Beißen und Kratzen gewesen, sondern dieses unerträglich ekelerregende Gefühl, wenn die kühle, klebrige Bauchhaut der Frösche mit ihrer Haut in Berührung gekommen sei. »Sie haben mich die ganze Zeit über angepinkelt! Vielleicht haben sie auch ihre Samenflüssigkeit auf mich abgespritzt.« Gugu sagte, plötzlich sei ihr das alte Märchen von den Fröschen eingefallen, die einen Menschen zum Narren hielten: Ein Mädchen aus gutem Hause war versehentlich am Fluss eingeschlafen und hatte geträumt, ein junger Mann in grünen Kleidern wäre erschienen und sie hätte mit ihm am Strand geschlafen. Und als sie erwachte, war sie doch wirklich schwanger. Aber was sie gebar, war ein kleiner Frosch! Als ihr das eingefallen sei, sagte Gugu, sei sie auf die Beine gekommen. Diese entsetzliche Vorstellung habe bei ihr enorme Kräfte frei werden lassen. Sie habe gesehen, dass viele an ihr klebende Frösche wie Matsch von ihrem Körper zu Boden gefallen seien. Aber etliche andere hätten sich noch in ihren Kleidern, in ihren Haaren festgeklammert. Zwei hätten sich sogar an ihren Ohrläppchen festgebissen wie ein Paar grässliche Ohrringe. Gugu war weitergerannt, die sie nach unten ziehenden Kräfte waren plötzlich fortgewesen. Sie hatte sich beim Rennen geschüttelt, hatte mit beiden Händen wild auf sich und um sich geschlagen. Wenn sie einen Frosch erwischt hatte, hatte sie schrill aufgeschrien, ihn gepackt und von sich geschleudert. Als sie die zwei Frösche von ihren Ohren abgerissen habe, sagte Gugu, sei es um ihre Ohren beinahe geschehen gewesen, denn sie hätten daran gehangen wie hungrige Säuglinge an den Brustwarzen der Mutter. Sie habe geschrien, während sie weitergerannt sei, aber die Frösche seien ihr dicht auf den Fersen und schwer abzuschütteln gewesen. Sie habe sich beim Rennen kurz umgewandt, und der Anblick habe sie völlig kopflos werden lassen. Tausende, Abertausende von Fröschen seien ihr wie eine Armee quakend, hopsend, rempelnd, drängelnd, wie ein dicker, schmutziger Strom rasend schnell gefolgt. Damit nicht genug seien immer weitere von beiden Seiten auf den Pfad gesprungen. Wie sei sie gerannt! Aber Trupps von Fröschen seien schon vor ihr gewesen und hätten versucht, ihr den Weg abzuschneiden, andere seien angriffslustig aus dem Schilf auf sie zugesprungen. An jenem Abend habe sie, so sagte Gugu, einen dicken schwarzen Seidenrock getragen. Er sei von den Fröschen, die sie hinterrücks überfallen hätten, in Fetzen gerissen worden. Wenn die Frösche ein Stück Seide abgerissen hätten, hätten sie es sofort verschlungen, sie hätten es sich ins Maul gestopft und hinuntergewürgt und dann einen Purzelbaum geschlagen, so dass man den weißen Bauch habe sehen können. Gugu erzählte weiter, sie sei dann zum Fluss gerannt. Als sie die kleine Steinbrücke im Mondlicht habe funkeln sehen, sei von ihrem Rock schon nichts mehr übrig gewesen. Sie sei so gut wie nackt gewesen, als sie auf die kleine Brücke gelaufen und dort mit Hao Große Hand zusammengetroffen sei. »Ich hatte in dieser Lage keinen Sinn für Peinlichkeit mehr. Mir war gar nicht bewusst, dass ich fast nackt war. Ich sah einen Mann mit Palmstrohcape und Bambushut auf der kleinen Brücke sitzen und mit der Hand einen silbern funkelnden Klumpen bearbeiten. Später erfuhr ich, dass er Tonerde geknetet hatte.« Um Mondlichtkinder zu machen, braucht man wohl Mondlichttonerde. »Ich konnte in jenem Augenblick gar nicht erkennen, wer es war, nur dass es ein Mensch war und meine Rettung.« Gugu erzählte, sie sei diesem Mann in die Arme gestürzt, habe sich wie von Sinnen unter das Palmstrohcape an seine Brust gewühlt, nur um an ihrer eigenen Brust die Wärme seines Körpers zu spüren und die frostige, nach Fisch stinkende Kälte der Frösche zu vertreiben. »Zu Hilfe, Bruder«, habe sie noch gerufen, dann sei sie ohnmächtig geworden. Der lange Fernsehbericht der Tante hatte uns aufgewühlt. Wir hatten die Massen von Fröschen noch vor unserem geistigen Auge. Ein eiskalter Schauer lief uns über den Rücken. Der Kameramann schwenkte wohl zu Hao Große Hand hinüber, jedenfalls kam dieser jetzt endlich ins Bild. Gugu fuhr fort: »Als ich aufwachte, lag ich bereits auf Große Hands Kang. Ich steckte in Männerkleidung. Er brachte eine Schale süße Mungobohnensuppe, die er mir einflößte. Die köstlich duftenden Mungobohnen weckten meine Lebensgeister. Ich aß die Schale leer und schwitzte alles tüchtig aus. Viele Stellen meines Körpers glühten schmerzhaft. Das Gefühl des Eiskalt-Feuchten, Klebrigen, das jeden laut losschreien lässt, ebbte langsam ab. Aber ich bekam einen Ausschlag, stechende, juckende, schmerzende Pusteln, dem ein hohes Fieber mit Halluzinationen folgte. Mit Große Hands Mungobohnensuppe nahm ich auch diese Hürde. Mein Körper schälte sich und ich hatte diffuse Knochenschmerzen. Ich hatte davon gehört, dass man sein Karma doch noch ändern kann, wenn man sich einer sehr harten Praxis oder Prüfung unterzieht, so wie der schlangenköpfige Mahoraga , und ich wusste, dass ich mich gehäutet und auch meine Knochen ausgetauscht hatte. Wieder genesen, sagte ich zu Hao Große Hand: »Bruder, wir sollten wohl heiraten!« Bei diesen Worten weinte sie wieder bitterlich. Es folgte ein Schnitt, und die Kamera fing ein, wie Gugu und Große Hand gemeinsam Niwawa-Kinder modellierten. Gugu saß mit geschlossenen Augen da und sagte zu Große Hand, der ebenfalls die Augen geschlossen hielt und einen Klumpen Tonerde in der Hand hielt: »Dieses Baby muss Guan mit Nachnamen und Kleiner Bär mit Vornamen heißen, sein Vater ist einen Meter neunundsiebzig groß und hat ein längliches Gesicht, ein breites Kinn, Schlitzaugen, große Ohren, die Nase ist vorne breit und hat einen flachen Rücken. Seine Frau ist einen Meter dreiundsiebzig groß, hat einen langen Hals, ein spitzes Kinn, ein hohes Jochbein, keine Schlitzaugen, eine kleine Nasenspitze und einen hohen Nasenrücken. Das Kind hat dreißig Prozent vom Vater und siebzig Prozent von der Mutter ...« Während Gugu weitersprach, entstand das Kind namens Guan Kleiner Bär in den Händen des Meisters. Die Kamera schwenkte für ein Close-Up zum Niwawa-Tonkind. Ich sah es mit seinen frischen Gesichtszügen, die aber, wie soll ich sagen, bekümmert wirkten. Ich musste heftig weinen ... 5 Ich begleitete Shizi, die sich die chinesisch-amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik anschauen wollte. Sie wollte so gern dort arbeiten, bekam aber keinen Fuß in die Tür, weil niemand sie protegierte. Wir betraten die Klinik, aber schon im Foyer hatte ich den Eindruck, ich befände mich in einem exklusiven Club und nicht in einem Krankenhaus. Wir hatten Sommer, doch die Klimaanlage sorgte für ein angenehm kühles Lüftchen. Sanfte Hintergrundmusik verwöhnte unsere Ohren, und die Luft war erfüllt vom Duft frischer, wohlriechender Schnittblumen. Die Wand, auf die beim Eintreten der Blick fiel, zeigte das hellblaue Kliniklogo und acht rosafarbene Schriftzeichen: 一生承諾,滿懷信任 Ein auf Vertrauen gegründetes Versprechen erfüllt sich; Schwangerschaft und Geburt werden wahr. Zwei Schönheiten in weißen Arztkitteln und Schwesternhäubchen befanden sich gerade im Patientengespräch. Wie zuvorkommend waren die Stimmen, wie entzückend das Lächeln und wie entwaffnend der Augenaufschlag der beiden. Eine Ärztin mittleren Alters im langen Arztkittel und mit einer weiß gefassten Brille auf der Nase kam auf uns zu. »Mein Herr, meine Dame, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie in herzlichem Ton. Ich antwortete: »Nein danke, wir schauen uns nur um.« Sie brachte uns in den Warte- und Entspannungsbereich, der rechts an das Foyer grenzte. Es gab dort äußerst bequeme Rattanstühle, die Bücherregale waren voll von exklusiven Mutter-und-Kind-Magazinen, auf den Beistelltischchen lagen aufwendig gedruckte Bildbände und Broschüren, in denen die Klinik vorstellt wurde. Die Ärztin brachte uns zwei Gläser, die sie am Wasserspender mit Eiswasser füllte, schenkte uns ein Lächeln und entfernte sich. Ich schlug eine Klinikbroschüre auf. Aus ihr blickte mich eine makellose Ärztin mittleren Alters an, pickelfreie Stirn, schmale lange Augenbrauen, freundlicher Blick, weiße, ebenmäßige Zähne, ein mildes Lächeln. Am Kittel trug sie ein Namensschild mit ihrem Foto. Über ihrer linken Schulter befand sich eine Sprechblase: Die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik ist für Sie die ideale gynäkologische Klinik für pränatale und geburtshilfliche Medizin höchster Ansprüche. Wir vermeiden eine kalte Krankenhausatmosphäre und begegnen Ihnen mit Wärme und Herzlichkeit. Sie treffen auf ein harmonisches Miteinander, Ehrlichkeit und eine familiäre Atmosphäre. Sie erfahren bei uns, was gehobener Service der ersten Klasse bedeutet ... Unter ihrer rechten Schulter gab es eine weitere Sprechblase: Wir halten uns streng an das Genfer Gelöbnis des Weltärztebunds, verabschiedet im September 1948. Wir praktizieren die ärztliche Kunst mit Gewissenhaftigkeit und Würde. Die Gesundheit unserer Patienten ist oberstes Gebot unseres Handelns. Die uns anvertrauten Geheimnisse unserer Patienten wahren wir auch über deren Tod hinaus. Wir halten mit allen unseren Kräften die Ehre und die edle Tradition unseres ärztlichen Berufes aufrecht ... Ich schielte zu meiner Frau hinüber und bemerkte, dass sie beim Durchblättern der Klinikbroschüre die Stirn runzelte. Ich schlug die nächste Seite auf und blickte auf einen Sicherheit ausstrahlenden, Vertrauen erweckenden Gynäkologen, der dabei war, den Bauchumfang einer Schwangeren zu messen. Ihr hoch aufragender Bauch war glänzend und makellos, ihr Gesicht mit einem hohen Nasenrücken und langen Wimpern, verführerischen vollen Lippen und einem rosigen Teint ließ nichts erkennen von der für Schwangere typischen Abgespanntheit. Eine Sprechblase mit einer Textzeile besagte: Wir behandeln das Leben vom ersten Tag der Schwangerschaft an mit dem allergrößten Respekt. Ein mittelgroßer Mann mit spärlichem Haar in Markenfreizeitkleidung kam mit schnellen Schritten in die Lobby. An seinem selbstbewussten Blick und dem leicht vorgewölbten Bauch konnte ich erkennen, dass er einen hohen Status haben musste. Wenn er kein hoher Kader war, so doch jemand mit hohem Einkommen, oder auch beides, von hohem Rang und mit hohem Einkommen. Mit seiner Linken umfasste er leicht ein junges Mädchen. Sie trug ein gelbes Seidenkleid mit schwingendem Rock und ging mit wiegenden Schritten, eine hochgewachsene Schöne mit weichen Formen und schlanker Taille. Das Herz stockte mir, denn plötzlich erkannte ich sie. Es war Xiaobi, die Büroleiterin des Froschzuchtunternehmens und Bildhauerin Yuan Backes. Wir hatten sie bei Backe und meinem Cousin kennengelernt. Erschrocken senkte ich den Kopf und hielt mir die Klinikbroschüre vors Gesicht. Ich blätterte weiter. Rechts neben einem makellosen, hoch aufragenden Schwangerenbauch gab es ein Foto von fünf nackten Babys. Sie schauten alle nach links, als hätte jemand von dort mit ihnen Späßchen gemacht. Das Profil ihrer runden Gesichtchen, die runde Stirn, die runden Bäckchen waren herzallerliebst. Obwohl man nicht ihr ganzes Gesicht sehen konnte, sah man ihr unschuldiges Lächeln. Drei von ihnen hatten ein wenig Haarflaum, zwei schon etwas mehr Haare, zwei von ihnen hatten schwarzes, eines hellblondes und zwei mittelblondes Haar. Alle hatten große Ohren, große Ohren bedeuten ja Glück! Wessen Foto in dieser Broschüre auftauchte, der war mit Sicherheit ein Glückskind und vom Schicksal begünstigt. Die Babys waren vermutlich fünf Monate alt, sie konnten soeben sitzen. Aber sie saßen noch wackelig und hielten den Rücken nicht richtig gerade. Die Kleinen waren durchweg dicke Moppelchen, unter ihren angewinkelten Ärmchen sah man die runden Bäuchlein aufragen. Ihr Po war plattgedrückt. Die Ritze zwischen den beiden Pobacken sah ganz allerliebst aus. Links von den Babys gab es auf der weiß gebliebenen Fläche wieder eine Sprechblase: Eine auf die Familie ausgerichtete Geburtshilfe legt besonderen Wert auf eine gute Kommunikation zwischen der werdenden Mutter während Schwangerschaft, Niederkunft und Wochenbett und dem ganzen Ärzteteam. Vorsorge und Aufklärung der werdenden Mutter haben für uns Priorität. Der Mann und Xiaobi standen an der Rezeption und besprachen Verschiedenes, dann wurden sie von einer eleganten jungen Dame in den Wartebereich links von der Lobby geleitet, wo sie in weinroten Sofasesseln mit hoher Lehne Platz nehmen sollten. Auf dem Beistelltischchen stand eine Vase mit dunkelroten Rosen. Da saßen sie nun. Der Mann nieste. Seine Art zu niesen erschreckte mich so, dass ich fast aufgesprungen wäre. Diese besondere Art zu niesen, willensstark ist vielleicht der richtige Ausdruck, brachte mein Gedächtnis auf Trab. War er es wirklich? Die ärztliche Betreuung der Schwangeren in den ersten Monaten der Schwangerschaft kreist um den Gesundheitszustand der Mutter und des ungeborenen Kindes, um Ernährung und sportliche Ertüchtigung, um nur zwei wichtige Bereiche zu nennen. All diese Inhalte werden mit der Schwangeren und den Familienangehörigen sorgfältig kommuniziert. Ich wollte meiner Frau liebend gern erzählen, was ich soeben entdeckt hatte, aber sie war mit der Broschüre beschäftigt. Sie blätterte darin und murmelte: »Das ist doch kein Krankenhaus! Wer kann es sich leisten, sich in so einem Krankenhaus behandeln zu lassen!« Sie saß mit dem Rücken zu Xiaobi und dem Mann und hatte deren Kommen gar nicht bemerkt. Als wären die Sessel zu rot, stand der Mann plötzlich auf und führte Xiaobi durch das Foyer dorthin, wo sich das Café befand. Dieser Bereich war nur locker vom Foyer abgetrennt, man hatte im Zentrum ein paar große Töpfe mit dem Köstlichen Fensterblatt und Philodendren aufgestellt, auch einen üppig grünen Bonsai-Banyanbaum gab es, der fast bis an die Decke der Halle reichte. Die Tapete im Café-Bereich hatte ein Backsteinmuster, in der Wand befand sich ein Kamin. An der Bar mit einem Weinregal hinter dem Tresen war ein gutaussehender Barkeeper, der eine Fliege trug, mit Kaffeekochen beschäftigt. Der Duft teurer Kaffeesorten mischte sich mit dem der Schnittblumen in den Vasen. Er wehte immer wieder zu uns herüber und benebelte uns. Daneben bietet die Klinik noch eine Abteilung für die spezielle Betreuung der späten Schwangerschaftsphase, von der 28. Woche bis zur Geburt. In dem speziell dafür geschaffenen Zentrum zur Geburtsvorbereitung erstellen Ärzte und Schwestern gemeinsam einen Plan, zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse und den speziellen Zustand der Schwangeren, und legen auch den genauen Geburtstermin fest. Außerdem werden für die Schwangeren Mami-Kurse angeboten, die den Informationsfluss gewährleisten, so dass die werdende Mutter Gelegenheit hat, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, ihre Sorgen mitzuteilen und all ihre Zweifel ausräumen zu lassen ... Er saß da mit einer Tasse in der Hand und war in ein Gespräch mit Xiaobi vertieft. Zweifellos war er es. Jemand kann sich eine andere Sprache zulegen, aber das Geräusch beim Niesen kann man nicht willkürlich ändern. Man kann sich auch die Hautfalte der Augenlider entfernen lassen und damit die Schlitzaugen loswerden, aber den Blick behält man, der ist nicht operabel. In gerade einmal zwanzig Metern Entfernung von mir saß er da, unterhielt sich entspannt, lachte. Er wäre wohl nie auf den Gedanken gekommen, dass ihn gerade ein Freund aus der Kinderzeit beobachtete. Doch für mich tauchte hinter der Gentleman-Fassade allmählich der früher einmal schlitzäugige, durchtriebene Xiao Unterlippe auf. »Das kann ich mir abschminken!« Kleiner Löwe warf die Klinikbroschüre auf den Tisch zurück, streckte sich und sagte deprimiert: »Alles Mediziner, die in den USA promoviert oder in Frankreich studiert haben, Professoren der medizinischen Fakultät, ein Team von chinesischen Eliteärzten. Hier kann ich bestenfalls als Klofrau was werden ...« Obwohl auch er viele Jahre in Peking gewohnt hatte, war er mir dort nie begegnet. Als er damals mit der Uni fertig war, lief sein Vater bei uns durch die Straßen und brüllte immerzu: »Mein Sohn hat einen Posten beim Staatsrat bekommen!« Später hatten wir gehört, dass er nach ein paar Jahren Verwaltungsarbeit im Staatsrat das Sekretariat eines Ministers übernommen habe, dann, dass er irgendwohin versetzt worden sei und den Dienst eines Vizeparteisekretärs angetreten habe. Dann erzählte man sich, er sei abgetaucht und habe als Geschäftsmann das große Geld gemacht, schließlich sei er als Pionier in die Immobilienbranche eingestiegen. Er habe hohes Ansehen erworben und sei ein Superreicher mit einem Vermögen von mehr als einer Milliarde Yuan geworden. Die elegante junge Dame, die die beiden zu ihrem Platz geführt hatte, war zurückgekommen, sie hatte sie gesucht. Nun begleitete sie das Paar durch die Halle bis zu einer Tür, durch die sie verschwanden. Ich klappte den Bildband zu. Auf dem Rückendeckel war der Bauch einer Schwangeren abgebildet, auf dem die Hände des Arztes und der Frau vertraut übereinander ruhten. Der Text dazu lautete: Die zu uns kommenden Schwangeren mit ihren Neugeborenen sind für uns wie unsere Familienmitglieder. Rundumbetreuung und hundertprozentiger Service der Extraklasse. Hier erwartet Sie behagliche Geborgenheit. Genießen Sie die rücksichtsvolle, von Zartgefühl getragene Pflege höchsten Standards. Als wir die Klinik verließen, war Kleiner Löwe deprimiert. Sie wetterte laut, beschimpfte mit politisch überholten, antiquierten Argumenten das Neue. Ich sagte nichts, denn ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Ihr nicht endender Redefluß erinnerte mich an einen Hamster, der im Laufrad läuft und läuft und läuft, es war kaum auszuhalten. Ich sagte: »Jetzt hör auf, wie der Fuchs die Trauben schlecht zu machen!« Ausnahmsweise fing sie keinen Streit mit mir an, sondern lachte nur bitter: »So ein Kurpfuscher vom Land, wie ich es bin, geht dann wohl besser zu Yuan Backe in die Firma Frösche züchten.« Ich antwortete: »Wir sind als Ruheständler nach Hause gekommen, nicht weil wir hier arbeiten wollen.« »Dann geh ich als selbstständige Mütterpflegerin die Wöchnerinnen betreuen, wie findest du das?« »Hör doch auf! Rate mal, wen ich gerade gesehen habe?« »Wen?« »Xiao Unterlippe. Der hat eine Schönheitsoperation machen lassen, aber ich habe ihn trotzdem erkannt.« »Kann doch gar nicht sein«, meinte Shizi. »Wozu sollte jemand, der solch ein Vermögen besitzt, nach Gaomi zurückkommen? Bist du sicher, dass du dich nicht geirrt hast?« »Wenn ich ihn nur gesehen und nicht gehört hätte, könnte das angehen. Aber ich habe ihn niesen hören, und keiner sonst auf der Welt niest so wie er. Außerdem habe ich seinen Blick gesehen. Auch sein Lachen gehört. Daran hat sich nichts verändert.« »Vielleicht ist er als Investor wiedergekommen? Ich habe mir sagen lassen, dass wir hier wieder der Administration von Tsingtau unterstellt werden sollen. Wenn das kommt, werden die Boden- und Immobilienpreise in die Höhe schnellen. Vielleicht deswegen?« Ich antwortete: »Rate mal, mit wem ich ihn gesehen habe?« »Woher soll ich das wissen?« »Mit Xiaobi.« »Mit wem?« »Xiaobi aus der Froschzuchtfarm, Backes Sekretärin.« »Auf den ersten Blick habe ich gesehen, dass sie ein Flittchen ist. Die treibt es auch mit Backe und deinem kleinen Cousin. Das kannst du mir glauben!« 6 Kleiner Löwe war die Froschzuchtfarm verhasst, Yuan Backe und mein kleiner Cousin waren ihr zutiefst unsympathisch. Aber nur wenige Tage, nachdem wir die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik besichtigt hatten, sagte sie zu mir: »Renner, ich gehe ab morgen in der Froschzuchtfarm arbeiten.« Hatte ich mich verhört? Ich schaute sie an, sie lächelte über das ganze Gesicht: »Wirklich! Das ist kein Scherz.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst: »Was den Froschkram angeht, gebe ich mir alle Mühe, die hartnäckigen Bilder von Fröschen aus meinem Kopf zu verscheuchen. Nachdem ich die Fernsehsendung mit Gugus Geschichte gesehen habe, habe ich beinahe selbst eine Froschphobie entwickelt.« »Trotzdem willst du bei Backe die Frösche füttern?« »Weißt du, Renner, im Grunde ist es doch so: An einem Frosch ist nichts Furchtbares. Menschen und Frösche haben dieselben Urahnen. Außerdem sehen die Kaulquappen haargenau aus wie die menschlichen Samenfäden. Die Eier im Froschlaich und die des Menschen sehen auch genau gleich aus. Noch etwas! Hast du mal einen präparierten menschlichen Fötus im dritten Monat gesehen? Der hat noch einen langen Schwanz, genau wie die Kaulquappen, die auch erst einmal die Metamorphose durchmachen.« Verstört schaute ich meine Frau an. Sie redete, als rezitierte sie ein Gebet: »Warum werden die Schriftzeichen für Frosch und für Baby gleichlautend Wa ausgesprochen? Warum ist der erste Schrei des Neugeborenen, wenn es gerade aus dem Leib der Mutter gekommen ist, dem Quaken der Frösche so ähnlich? Warum haben die Niwawa-Tonkinder bei uns in Nordost-Gaomi so oft einen Frosch im Arm? Warum heißt die große Muttergöttin, die Urahnin der Menschheit, Nü Wa? Wa wie Frosch und Wa wie in Niwawa und Wa wie Baby? Das Wa aus Nü Wa, der großen Urahnin des Menschengeschlechts, und das Wa aus Qing Wa, dem Frosch, ist doch Beweis genug, dass der Weg der menschlichen Evolution über den Frosch und nicht über den Affen führt. Das mit dem Affen stimmt überhaupt nicht ...« Ich hörte langsam heraus, von wem Kleiner Löwe ihre Weisheiten haben musste, dieser Stil und diese Argumentation konnten nur auf dem Mist von Backe und meinem Cousin gewachsen sein. »Na gut«, sagte ich lachend, »wenn es dir zu Hause zu langweilig ist, geh dorthin, um dir die Zeit zu vertreiben. Aber ich denke, es wird keine Woche dauern und du lässt dich da nicht mehr blicken.« 7 Sugitani san, lieber Freund, obwohl ich mich wegen dieser Froschfarm zunächst gesträubt hatte, war ich im Geheimen froh darüber, dass Kleiner Löwe sich Arbeit gesucht hatte. Vom Typ her bin ich nämlich ein Einzelgänger. Ich gehe gern allein in der Stadt bummeln, guck mir die Schaufenster und die Leute an und bin dabei mit meinen Erinnerungen beschäftigt. Wenn ich nicht an Vergangenes denke, versenke ich mich in die Sphären des Nichts. Mit meiner Frau spazieren zu gehen, empfinde ich als Verpflichtung. Es quälte mich, wenn ich sie einmal nicht erfüllen konnte, trotzdem musste ich mich bei den pflichtgemäßen Spaziergängen verstellen und ihr den Fröhlichen vorspielen. So dagegen hat sich alles zum Guten gewendet. Jetzt geht sie frühmorgens aus dem Haus zur Arbeit auf der Froschfarm. Sie fährt mit ihrem neuen Elektrofahrrad, das angeblich mein Cousin für sie gekauft hat. Ich sehe ihr durchs Fenster hinterher, wie sie gesittet auf ihrem Elektrofahrrad sitzt und den Weg am Fluss hinunterfährt, still vorwärts gleitend. Sobald sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, gehe ich auch. Drei, vier Monate lang war ich täglich unterwegs und habe mir alle Viertel am Nordufer des Flusses angeschaut. Ich war im Wald, in den Baumschulen, bei den Gartenbauern, in verschiedenen Supermärkten und Tante-Emma-Läden, im Massagesalon, den die Blindenhilfe betreibt, im Fitness-Studio, beim Damenfriseur, in verschiedenen Apotheken, bei den Toto-Lotto-Annahmestellen, in Billigwarenhäusern, in Möbelläden, auf verschiedenen Bauernmärkten, wo die Bauern ihre Produkte direkt verkaufen, überall bin ich gewesen. Jedes Mal habe ich Fotos mit meiner Digitalkamera gemacht, wie ein Rüde, der jede Ecke markiert. Ich bin auch durch die noch nicht für die Landwirtschaft erschlossenen Äcker gestromert, habe mir Baustellen angeschaut, auf denen im großen Stil gerodet und gebaggert wird. Auf einigen Baustellen waren die Hauptgebäude bereits fertiggestellt und kündeten schrill von der Versessenheit auf Neues. Bei manchen sah man nur riesige Baugruben, Stützen und Stahlträger. Ich erriet nicht, was daraus einmal werden sollte. Nachdem ich mir das Nordufer gründlich angesehen hatte, verlegte ich mich aufs Südufer. Ich konnte die in schwindelnden Höhen mit ausgebreiteten Flügeln aufgehängte Schrägseilbrücke nehmen oder ein Bambusfloß, um an den etwa zehn Kilometer flussabwärts gelegenen Anleger der Familie Ai zu gelangen. Ich entschied mich immer für die Brücke, weil ich das für sicherer hielt. Eines Tages beschloss ich, weil es auf der Brücke zu einer Karambolage gekommen war und der Verkehr sich staute, das Floß zu nehmen und meine Erinnerung an früher wieder aufleben zu lassen. Den Staken betätigte ein Junge, der ein chinesisches Hemd mit Knotenknöpfen trug. Er sprach nur Mundart, benutzte jedoch ständig neumodische Wörter. Er hatte für sein Floß zwanzig Reisschalen starke Stangen aus Moso-Bambus zusammengefügt. Vorne hatte er einen holzgeschnitzten, bunt bemalten Drachenkopf angebracht und in der Mitte des Floßes zwei kleine Plastikschemel befestigt. Er händigte mir zwei Plastikbeutel aus, die ich mir über die Füße streifen sollte, damit Schuhe und Strümpfe trocken blieben. Er lachte und erzählte, es kämen viele Städter, die würden Schuhe und Strümpfe lieber ausziehen. Die hübschen Frauen aus der Stadt steckten dann ihre nackten, zierlichen Füße ins Wasser, schneeweiß wie Salangidae-Stinte, und planschten damit herum. Daran habe er jedes Mal sehr viel Spaß. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und gab sie ihm. Er packte sie in einen Blechkasten und sagte mit einem Augenzwinkern: »Das kostet aber einen Yuan Lagergebühr!« »Meinetwegen«, entgegnete ich. Dann warf er mir eine backsteinrote Weste zu: »Onkel, die müssen Sie überziehen, sonst behält mir mein Chef was vom Lohn ein.« Als der Junge begann, das Floß mit dem Staken vom Steg abzustoßen, brüllten drei am Ufer hockende Flößer: »Plattschädel! Wenn das mal nicht schiefgeht! Den Kopp unter Wasser und ersaufen musst du!« Geschickt schwang er den Staken: »Das wär schlimm. Wenn ich absaufe, muss euer Schwesterlein Witwe werden!« Als das Floß ins Fahrtwasser kam, ging es wie der Wind stromabwärts. Ich zog meine Kamera hervor und machte von der großen Brücke ein Bild und zwei von der Uferlandschaft. »Onkel, darf ich fragen, woher kommen Sie?« »Was denkst du, woher ich komme?« Ich hatte in unserer Mundart geantwortet. »Stammen Sie von hier?« »Dein Vater ist wahrscheinlich mit mir zur Schule gegangen.« Ich besah mir seinen platten Hinterkopf und erinnerte mich, dass ich einen Klassenkameraden aus Tanjiacun mit dem Spitznamen Plattschädel gehabt hatte. »Aber ich kenne Sie gar nicht. Sagen Sie mir mal, wo Sie wohnen!« »Gib Acht, Junge! Pass auf deinen Staken auf!«, sagte ich zu ihm. »Wenn du mich nicht kennst, ist das nicht weiter schlimm. Es genügt, wenn ich deinen Vater und deine Mutter kenne!« Der Junge ließ mit geübter Hand seinen Bambusstaken tanzen. Ab und zu schaute er zu mir herüber, er hätte mich gerne erkannt. Ich zog eine Zigarette hervor und steckte sie mir an. Er schnupperte und fragte: »Onkel, wenn ich mich nicht irre, rauchen Sie die Marke Chunghwa, die im weichen Päckchen, stimmt’s?« Er hatte richtig geraten. Backe hatte meiner Frau die Zigaretten für mich mitgegeben. Sie hatte sie mir mit den Worten überreicht: »Geschäftsführer Yuan hat gesagt, ein hohes Tier habe sie ihm geschenkt, er rauche aber nur Eight Happiness und wechsele die Marke nicht.« Ich zog eine Zigarette aus dem Päckchen, beugte mich vor und gab sie dem Jungen. Er bedankte sich, als er sie entgegennahm, dann stellte er sich in den Windschatten, zündete sie an und rauchte. Er sah geschmeichelt aus: »Onkel, wenn man sich solche Zigaretten leisten kann, gehört man nicht zu den gewöhnlichen Leuten.« »Die hat mir ein Freund geschenkt.« »Ich weiß, dass es geschenkte Zigaretten sind. Leute, die solche Zigaretten rauchen, kaufen sie doch nicht von ihrem eigenen Geld!« Ich sagte belustigt: »Du kennst dich ja aus mit den vier Grundsätzlichkeiten!« »Welche vier Grundsätzlichkeiten?« »Zigaretten und Schnaps bekommt man grundsätzlich geschenkt. Vom Gehalt wird grundsätzlich nichts bezahlt. Die Gattin braucht grundsätzlich nicht da zu sein, und das vierte, das vierte Grundsätzliche, darauf komme ich gerade nicht. Jetzt hab ich’s. Nachts hat man grundsätzlich Albträume!« »Das vierte stimmt nicht«, meinte er, »aber mir fällt das richtige auch nicht ein.« »Ach, vergiss es«, sagte ich. »Wenn Sie morgen wieder mein Floß nehmen, wird es mir eingefallen sein. Außerdem, Onkel«, entgegnete er, »weiß ich jetzt, wer Sie sind.« »Du weißt, wer ich bin?« »Sie sind bestimmt Onkel Unterlippe«, sagte er umständlich und lachte ein wenig verschämt: »Mein Vater sagt, Sie waren immer der Klassenbeste, der, der es von allen am meisten drauf hatte. Sie waren nicht nur der Stolz der ganzen Klasse, Sie sind jetzt der Stolz von ganz Nordost-Gaomi.« »Er ist zweifelsohne der Fähigste«, sagte ich, »aber ich bin nicht er.« »Onkel, erzürnen Sie sich deswegen bitte nicht!«, antwortete er gleich. »Sowie Sie sich hier niedersetzten, habe ich gewusst, dass Sie nicht zu den gewöhnlichen Menschen gehören.« »Ach wirklich?«, lachte ich. »Natürlich! Ihre Stirn glänzt. Über Ihrem Kopf sieht man einen Glorienschein! Da weiß jeder sofort, dass Sie Ruhm und Geld besitzen.« »Du hast nicht etwa von Yuan Backe das Gesichtlesen gelernt?« »Sie kennen Onkel Backe?« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: »Bin ich ein Trottel! Ihr seid ja Klassenkameraden. Da kennt ihr euch natürlich. Obwohl Onkel Backe Ihnen das Wasser nicht reichen kann, hat er es auch drauf, keine Frage.« »Aber dein Vater ist ebenfalls sehr fähig. Ich erinnere mich«, sagte ich, »dass er im Handstand eine ganze Runde um den Korbballplatz laufen konnte.« »Wozu soll das gut sein?«, entgegnete er respektlos. »Arme und Beine fit, aber nix in der Birne. Sie und Onkel Backe dagegen gebrauchen Ihr Gehirn. Schon Mencius sagt doch: Die mit Köpfchen arbeiten, beherrschen die Menschen, und die mit ihrer Muskelkraft arbeiten, werden von anderen beherrscht. « »Du bist ein ähnlich guter Redner wie Wang Leber!«, lachte ich. »Onkel Leber ist auch genial, aber er geht einen ganz anderen Weg als Ihr.« Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an: »Onkel Leber tut so, als sei er verrückt, und verdient sein Geld mit Umsicht.« »Kann man mit den Tonkindern etwa Geld verdienen?« »Onkel Leber verkauft keine Niwawa-Tonkinder, sondern Kunstwerke! Es gibt einen gültigen Marktpreis für Gold, für Kunstwerke gibt es das nicht! Natürlich hinkt der Vergleich mit Ihnen, Onkel Unterlippe. Onkel Backe ist wohl klüger als Onkel Leber, aber mit der Froschzucht allein kann er kein großes Geld verdienen.« »Wenn die Farm nicht mit ihren Fröschen Geld verdient, womit dann?« »Onkel, tun Sie nur so oder wissen Sie das wirklich nicht?« »Ich weiß es wirklich nicht.« »Onkel, Sie erlauben sich einen Spaß mit mir! Leute Ihres Kalibers haben doch alle ihre speziellen Methoden und Hintertürchen. Wenn einfache Leute wie ich das sogar schon mitgekriegt haben, wieso sollten Sie es nicht wissen?« »Ich bin gerade mal ein paar Tage wieder hier. Ich weiß wirklich nicht Bescheid.« Er sagte: »Gut, wenn Sie’s wirklich nicht wissen ... Sie gehören ja quasi zur Familie, aber ich werde Sie nur langweilen. Allenfalls taugt es dazu, Sie abzulenken.« »Erzähl schon!« »Onkel Backe benutzt die Froschzucht nur als Vorwand. Eigentlich verdient er Geld damit, dass er für andere Babys heranzieht.« Ich ließ mir meine Überraschung nicht anmerken. »Vornehm ausgedrückt hat er ein ›Leihmütterzentrum‹. Im Klartext heißt das: Er hat einen Trupp Frauen. Leute, die ein Baby wollen, können es bei ihm bestellen, und er wickelt für sie Schwangerschaft und Geburt ab.« »Damit kann man Geschäfte machen? Das verletzt doch die Vorschriften der Politik der Geburtenplanung?« »Onkel Unterlippe, in welcher Zeit leben Sie eigentlich? Sie führen die Politik der Geburtenplanung an? Wir befinden uns doch längst in der Phase der Zwangsgeldkinder von Reichen. Wenn die Ehefrau des Schrottsammlers Lao He das vierte Kind erwartet, werden sechshunderttausend RMB fällig. Einen Tag vor der Niederkunft kommt der Bußgeldbescheid, am nächsten Tag bringt Lao He einen Schlangenlederkoffer mit der geforderten Summe zum Komitee für Geburtenplanung. Dann gibt es noch die armen, verheimlichten, überzähligen Kinder. Zur Zeit der Volkskommunen waren die Beschränkungen und Kontrollen so streng, dass die Bauern, schon wenn sie auf den Markt wollten, eine Urlaubsbescheinigung brauchten. Wenn sie die Kommune und das Dorf verlassen wollten, brauchten sie immer einen Nachweis. Jetzt kann jeder fahren, wohin er will. Da fragt keiner mehr. Wenn man andernorts seine Steppdecken auffüllen, den Schirm reparieren, die Lederschuhe beim Schuster flicken lässt, wenn man auswärts Grüngemüse zum Markt bringt, unter der großen Brücke einen Stand aufstellt, kann man auch woanders Kinder kriegen; wie man will, so viele man will. Die Funktionäre setzen mit ihren Zweitfrauen jede Menge Kinder in die Welt. Da gibt es keinen Erklärungsbedarf. Nur kleine Beamte, die erstens kein Geld haben und zweitens keinen Mumm in den Knochen, trauen sich das nicht.« »Wenn man dich reden hört, heißt das doch, dass die Politik der Geburtenplanung hier in China nur noch dem Namen nach existiert, tatsächlich aber gescheitert ist?« »Nein«, entgegnete er, »das ist sie nicht, sie hat weiterhin ihren Sinn. Woher nähme man sonst die Grundlage für die Bußgeldbescheide?« »Wenn das so ist, können die Leute ihre Kinder doch selbst bekommen. Wozu gehen sie zu Backes Leihmütteragentur?« »Onkel, Sie sind wahrscheinlich so in Ihrem Beruf aufgegangen, dass alle anderen Entwicklungen auf der Welt an Ihnen vorbeigegangen sind.« Er lachte: »Ein Reicher besitzt zwar Geld, aber es sind nicht viele, die so beherzt – ein Mann, ein Wort – wie der Schrottsammler Lao He handeln. Die meisten werden mit wachsendem Reichtum immer geiziger. Wollen sie einen Sohn, denken sie zuerst an das Bußgeld, obwohl sie begütert sind. Eine Leihmutter ist günstig. Sie zu rechtfertigen ist einfach, man erfindet eine Geschichte und entgeht dem Zwangsgeld. Außerdem ist der Großteil der Reichen in einem ähnlichen Alter wie Sie. Die Männer wollen sich neuen Herausforderungen stellen, es noch einmal wissen, aber ihre Frauen sind dafür dann meistens nicht mehr zu haben.« »Also brauchen sie eine Zweitfrau.« »Natürlich haben viele eine Zweitfrau, oder sogar noch eine dritte und vierte. Es gibt aber auch Männer, die ihre Frauen fürchten und keinen Ärger haben wollen. Das sind Backes Kunden.« Mein Blick schweifte über das Ufer, über den Deich, ich sah in der Ferne das rosafarbene kleine Gebäude der Froschzuchtfarm und auch die goldgelben Ziegel des Niangniang-Tempels. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich erinnerte mich an einen Morgen, nur ein paar Tage war es her, an dem ich mit meiner Frau zu neuen Ufern der Liebe aufgebrochen war ... »Onkel, Sie haben keinen Sohn, stimmt’s?«, fragte mich Plattschädels Sohn. Ich antwortete nicht. »Onkel, dass eine so herausragende Persönlichkeit wie Sie keinen Sohn hat, darf eigentlich nicht sein. Sie wissen doch, dass das laut Konfuzius ein Verbrechen ist und dass Mencius sagt: Es gibt drei Fälle von Pietätlosigkeit. Keinen Stammhalter zu haben, ist die größte ...« ... Endlich pinkeln, nachdem man die ganze Nacht eingehalten hatte. Ich fühlte mich angenehm erleichtert und wollte mir noch eine kleine Runde Schlaf gönnen. Kleiner Löwe kletterte jedoch auf meinen Schoß und setzte sich auf mich. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. »Onkel, wie die Dinge auch liegen mögen, Sie sollten einen Sohn bekommen. Das ist nicht nur Ihre Privatsache, ganz Nordost-Gaomi befürwortet es sehr. Onkel Backe bietet viele verschiedene Möglichkeiten an. Die Spitzenklasse ist Leihmutterschaft inklusive Sex. Eine gesunde unverheiratete Frau mit gesunden Genen und Universitätsabschluss. Mit ihr könnten Sie so lange zusammenleben, bis sie von Ihnen schwanger ist. Was die Kosten angeht, so ist das nicht gerade billig, ab zweihunderttausend RMB. Wenn Sie dann noch ein bisschen mehr für die Entwicklung Ihres Sohnes tun wollen, können Sie einen Zuschuss für stärkende Nahrungsergänzungsmittel bezahlen; und Sie können ihr auch zusätzliche Geldgeschenke machen. Natürlich besteht das Risiko, dass sich eine Liebesbeziehung entwickelt und dass dies die bestehende Ehe gefährdet. Damit wird die Tante sicherlich nicht einverstanden sein.« ... sie schien sehr erregt zu sein. Aber ihr Körper reagierte anders als sonst, nichts war wie immer. »Wie möchtest du es haben?« Im ersten Licht des grauenden Morgens funkelten ihre Augen über mir. Sie lachte geheimnisvoll: »Ich will dich ein bisschen quälen.« Dann nahm sie schnell ein schwarzes Tuch und band es mir um die Augen. »Was machst du da?« »Es ist verboten, das Tuch abzunehmen! Du hast dich das halbe Leben auf mir ausgetobt, nun revanchiere ich mich mal ein bisschen.« »Du willst mich wohl kastrieren?« Sie kicherte: »Aber nein, das wäre doch zu schade. Du sollst es jetzt mal so richtig genießen ...« »Letztens war eine Frau bei Onkel Backe und hat Krach geschlagen«, erzählte der kleine Plattschädel: »Ihr Gatte hatte sich in die Leihmutter verliebt, während er mit ihr zusammenlebte. Und als der Sohn geboren war, hatte er die Ehefrau rausgeworfen. Deswegen wird Tante so was sicherlich nicht gutheißen.« ... Sie machte mich heiß, quälte mich mit ihren Händen, ich ließ mich fallen. Sie hatte mir wahrscheinlich etwas übergestülpt. Was hatte sie vor? »Hey, was soll das? Muss das sein?« Sie ignorierte mich. »Onkel, wenn du nur den Sohn willst und die Chance ausschlägst, den Honig von wilden Blüten zu kosten, dann schlage ich dir eine sehr kostengünstige Methode vor. Das soll aber unter uns bleiben. Onkel Backe hat ein paar spottbillige Leihmütter, äußerlich ganz furchtbare Erscheinungen, aber ihre Hässlichkeit ist nicht angeboren. Sie gehörten ursprünglich zu den hübschesten Mädchen unseres Dorfes, zu den feinsten in Gaomi! Onkel, Ihnen ist doch bestimmt mal der große Fabrikbrand in der Stofftierfabrik zu Ohren gekommen. Damals sind fünf Mädchen aus Gaomi in den Flammen verbrannt. Drei andere Mädchen haben mit schwersten Brandverletzungen überlebt. Sie sind völlig verunstaltet und leben unter allerschwierigsten und traurigsten Umständen. Gutherzig, wie er ist, hat sich Backe ihrer angenommen, versorgt sie, ernährt sie, und er hat ihnen die Möglichkeit eröffnet, etwas Geld zu verdienen, damit sie im Alter nicht mittellos dastehen. Natürlich werden sie ohne Geschlechtsverkehr mit der Bechermethode befruchtet, um Leihmütter zu werden. Das heißt, Sie bringen nur Ihre kleinen Kaulquappen zu Onkel Backe, damit sie in die Gebärmutter eines der Mädchen gespritzt werden können. Wenn es dann soweit ist, kommen Sie Ihr Kind abholen. Das ist alles. Diese Leihmütter sind günstig, ein Junge kostet fünfzigtausend RMB, ein Mädchen dreißigtausend ...« ... Sie machte es so lange, bis ich aufschrie. Ich meinte in einen Abgrund zu stürzen. Sie deckte mich zu und verließ auf Zehenspitzen unser Schlafzimmer. »Onkel, ich empfehle Ihnen ...« »Spielst du für Backe den Zuhälter?« »Onkel, dass Sie es übers Herz bringen, solche altmodischen Ausdrücke für das zu benutzen, was ich mache. Ein absolutes No-Go ist das!«, sagte Plattschädel lachend. »Ich arbeite für Onkel Backe im Außendienst. Ich bedanke mich schon mal bei Ihnen, Onkel Unterlippe, wenn ich mich Ihretwegen mit Onkel Backe in Verbindung setzen darf und Sie mir eine Provision in Aussicht stellen.« Er hielt das Floß an und holte sein Handy hervor. Ich sagte: »Entschuldige, aber ich bin wirklich nicht Onkel Unterlippe und ich habe auch keinen Bedarf, euren Service in Anspruch zu nehmen.« 8 Teurer Freund, vorgestern habe ich mich mit meiner Frau gestritten. Der Streit ist eskaliert, weil ich mich nicht mehr im Griff hatte. Ihre Nase hat dabei ziemlich was abgekriegt, sie hat heftig geblutet. Sogar das Briefpapier ist beschmutzt worden. Heute habe ich starke Kopfschmerzen, so dass ich mit dem Theaterstück nicht weiterkomme. Beim Briefeschreiben beeinträchtigen sie mich jedoch nicht. Für das Theaterstück muss ich an Worten und Sätzen feilen, bei einem Brief ist das unnötig, und es genügt, ein paar hundert Schriftzeichen zu beherrschen, um munter draufloszuschreiben. Wenn mir meine erste Frau früher Briefe schrieb, fehlten ihr immer viele Schriftzeichen. Dann malte sie stattdessen kleine Bildchen. Sie entschuldigte sich mit den Worten: »Kleiner Renner, ich bin ungebildet, ich kann nur malen, nicht schreiben.« Ich antwortete ihr: »Es stimmt nicht, dass du kein Niveau hast und ungebildet bist. Du drückst in Bildern aus, was dein Herz dir sagt. Du schenkst uns neue Schriftzeichen.« Sie gab zurück: »Ich möchte dir lieber einen Sohn schenken! Kleiner Renner, lass uns zusammen einen Sohn bekommen, bitte ...« Teurer Freund, nachdem ich dem Flößer Plattschädel zugehört hatte, waren mir grässliche Befürchtungen gekommen. Mir war abwechselnd heiß und kalt geworden. Eine richtige Panik hatte mich gepackt, denn ich war zu dem Schluss gekommen, dass Kleiner Löwe, die diesen neurotischen Kindertick hat, meine Kaulquappen abgefüllt und sie irgendeinem verunstalteten Mädchen appliziert hatte. In meinem Hirn geisterten Massen von Kaulquappen herum, die eine Eizelle belagerten, wie die Kaulquappen in unserem Teich am Dorfrand. Als dieser einmal kurz vor dem Austrocknen war, hatte ich welche beobachtet, die in dicken Trauben eine im Wasser aufgequollene Hefenudel belagert und daran gierig um die Wette gefressen hatten. Dann wurde mir klar: Das arme Ding, das meine Nachkommenschaft austrug, war gar keine Fremde! Es war Chen Nases Tochter Augenbraue, die zweite Tochter meines alten Mitschülers und Freundes. In ihrer Gebärmutter wuchs jetzt mein Kind heran. Ich eilte zum Froschzuchtzentrum. Viele Leute grüßten mich auf der Straße, aber ich erinnere mich nicht mehr, wer sie waren. Durch den hell erleuchteten Spalt des sich automatisch öffnenden Tores hatte ich einen Augenblick die Ehrfurcht heischende Froschplastik im Blick. Ich spürte, wie ein Zittern durch meinen Körper ging. Ich glaubte, die kalte, schleimige Froschhaut zu spüren und einen Blick, der von schlechten Absichten zeugt. Auf dem Platz vor dem kleinen Firmengebäude tanzten sechs Mädchen in bunten Kleidern und schwenkten Blumenkränze. Neben ihnen saß ein Mann auf einem Stuhl, der ein Schifferklavier auf dem Schoß hielt und darauf spielte. Die Tänzerinnen schienen etwas einzustudieren. Alles sah so friedlich aus, die Sonne schien wunderschön, ein laues Lüftchen wehte, nichts schien vorgefallen zu sein. Vielleicht hatte ich mir ja alles nur eingebildet, die Phantasie war mit mir durchgegangen. Ich sollte mir lieber ein ruhiges Plätzchen suchen und in Ruhe nachdenken. Zum Beispiel über mein Theaterstück. Mein Vater hatte mich gelehrt: Im Normalfall ängstlich wie die Maus, denn Vorsicht ist die wahre Tapferkeit!, wenn’s drauf ankommt, ein Tiger, denn am Mute hängt der Erfolg. Des Weiteren lehrte er mich: Hast Glück und nie Pech. Kommt Unglück doch, führt kein Weg dran vorbei. Die Alten kennen viele Sinnsprüche. Während ich an Vaters Lehrsätze dachte, spürte ich, dass ich hungrig wurde. Ich bin fünfundfünfzig. Vor meinem Vater und meinem großen Bruder wage ich nicht, mich alt zu nennen. Aber den Zenit meines Lebens habe ich lange überschritten, ich fahre mit zunehmender Geschwindigkeit bergab gen Westen, der untergehenden Sonne zu. Am Lebensabend angekommen. Ein vorzeitig in den Ruhestand Versetzter, der sich an seinem Heimatort auf dem Lande eine Wohnung gekauft hat und nun Erholung sucht. Eigentlich nichts, wovor man sich zu fürchten hat. Während mir das durch den Kopf ging, verspürte ich noch größeren Hunger. Ich ging in das kleine Restaurant mit Namen »Don Quijote de la Mancha«, das rechts neben dem Vorplatz des Niangniang-Tempels gelegen ist. Seit Kleiner Löwe angefangen hatte, auf der Froschfarm zu arbeiten, kam ich regelmäßig zum Essen hierher. Ich setzte mich an einen Tisch ans Fenster. Die Geschäfte des Restaurants liefen nicht gut, und der Fensterplatz war mehr oder weniger mein Stammplatz geworden. Der kleine dicke Ober kam an meinen Tisch: »Mein Herr, immer wenn Sie sich an diesen Tisch setzen und der Stuhl Ihnen gegenüber frei bleibt, träume ich davon, dass ich eines Tages darauf sitze und Sie mir dann von der komplizierten Geburt Ihres Theaterstücks erzählen.« Sein fettig glänzendes Gesicht lächelte gefällig, aber das wirkte auf mich wie eine Grimasse. Vielleicht war es nur Don Quijotes Diener Sancho Panza, der durch mein Hirn spukte. Ein wenig durchtrieben, mit Spaß daran, andere auf die Schippe zu nehmen, aber nie davor gefeit, sich selbst zum Gespött zu machen. Schwer zu sagen, ob man diesem Burschen wohlwollend oder ablehnend begegnen sollte. Die schweren Tische im Lokal sind aus gebürsteter Linde, nicht mit Farbe gestrichen und nicht lackiert. Die Maserung des Holzes ist deutlich zu sehen, es gibt ein paar Brandspuren von Zigaretten. Regelmäßig schrieb ich an einem dieser Lindentische. Vielleicht würde dieser noch mal berühmt, ein Kulturgut, sollte mein Theaterstück ein großer Erfolg werden. Wenn die Leute sich dann an diesem Tisch niederließen, um ein Bier zu trinken, müssten sie zusätzlich eine Tischgebühr zahlen. Und mir gegenüber gesessen zu haben, wäre dann noch exklusiver, noch teurer ... Tut mir leid! Literaten bilden sich immer etwas ein, um das Feuer ihrer schriftstellerischen Schaffenskraft wieder anzufachen. »Gnädiger Herr«, der Ober machte einen angedeuteten Diener, ohne den Rücken zu beugen. »Guten Tag! Herzlich willkommen! Ich freue mich, dass Sie uns beehren! Meinem Namen nach der treue Diener des großen Ritters Don Quijote, werde ich Sie mit aller Herzlichkeit bewirten!« Er sagte diesen Satz so, als hätte er ihn aus einer Liste mit noch neun weiteren Sätzen. »Danke«, entgegnete ich, »das Gleiche wie immer: einen Salatteller Margarita, ein Rinderschmorfleisch im Tontopf à la Antonios junge Witwe, ein gezapftes Onkel-Marek-Starkbier.« Er verschwand mit wackelndem Hinterteil, wie eine watschelnde fette Ente. Ich wartete auf mein Essen und schaute mir inzwischen die Einrichtung und den Wandschmuck an. An der Wand hingen eine von Rostflecken übersäte Rüstung und ein Spieß, ein kaputter Handschuh, der einem Duell wegen einer Ehrenstreitigkeit entstammte, Urkunden und Orden, die für unvergängliche Ruhmestaten und militärische Leistungen verliehen worden waren. Dann gab es noch einen ausgestopften Hirschkopf, zwei ausgestopfte Fasanen mit prächtigen Schwanzfedern und alte vergilbte Fotografien. Obwohl das mittelalterliche Europa an der Wand nur imitiert war, machte es Spaß, die Dekoration anzuschauen. Rechts neben der Eingangstür stand eine lebensgroße Bronze, ein weiblicher Akt. Ihre Brüste hatten mit der Zeit so viele Menschen berührt, dass sie golden glänzten, wie poliert. Teurer Freund, ich habe beobachtet, dass alle, Männer wie Frauen, beim Betreten des Restaurants mit den Händen über ihre Brüste streichen, im Vorbeigehen sozusagen. Auf dem Vorplatz des Niangniang-Tempels herrscht immer Gedränge. Es ist ein Schieben und Schubsen ohne Ende, und dazwischen ertönt Wang Lebers Marktgeschrei. Seit kurzem gibt es ein neues Tempelspiel, das sich Das chinesische Einhorn bringt Kinder nennt. Angeblich sollen alte Traditionen wiederbelebt werden, aber im Grunde steckt dahinter, dass das städtische Kulturhaus ein paar Kunstschaffende angestellt hat, damit sie etwas auf die Beine stellen. Es ist nicht Fisch noch Fleisch, weder Orient noch Okzident, gibt aber fast fünfzig Leuten Arbeit. Deshalb ist es eine gute Sache. Außerdem, Sugitani san, teile ich Ihre Meinung. Sie schrieben, Ihrer Ansicht nach sei die so genannte Tradition nichts anderes als das, was in früheren Zeiten Avantgarde war. Ich sehe im Fernsehen immer viele Magazine dieser Art. Sie alle bilden einen bunten Reigen aus altem Brauchtum und moderner Lebensart, Reisen und Kultur: Stets verbreiten sie Enthusiasmus, auch für die westlichen Naturwissenschaften, eine fröhliche Stimmung und Geschäftstüchtigkeit. Das ist genau das, was Sie immer bekümmert: Mancherorts herrscht Krieg, da sind die Menschen Kanonenfutter und sterben wie die Fliegen. Und mancherorts herrscht eitel Fröhlichkeit bei Wein, Weib und Gesang. Das ist unsere Welt. Wäre da ein Titan, der im Vergleich zu unserem Erdball groß wäre wie wir im Vergleich zu einem Fußball, und er säße da und sähe zu, wie die Erde ihn umkreist und mal Frieden, mal Kriege, mal rauschende Feste, mal Hungersnöte, mal Dürren, mal Flutkatastrophen vorbeiziehen, wüsste ich gern, was er dabei dächte. Verzeihen Sie teurer Freund, ich schweife ab. Der falsche Sancho Panza brachte mir ein Glas Eiswasser und einige Scheiben Brot, dazu ein Stück Butter und ein Tellerchen mit Olivenöl und Knoblauch als Dip für das Brot. Hier wird hervorragendes Brot gebacken. Jeder, der schon mal westliches Brot gegessen hat, wird mir zustimmen. Wenn man das Brot in den Dip oder die Butter stippt, ist es Genuss pur. Und dann erst die Gerichte, die anschließend serviert werden! Sugitani san, Sie müssen hier einmal essen gehen! Ich garantiere Ihnen, dass Sie es genießen werden. Außerdem gibt es in diesem Restaurant noch einen »Brauch«. Vielleicht ist »Regel« sogar das bessere Wort: Wenn der Wirt abends sein Lokal schließt, stellt er das Brot vom selben Tag – Baguettes, Brötchen, Roggenbrote, grobkörnige und Feinbrote – in einen großen Weidenkorb auf den Tisch an der Tür, damit die Gäste es nach Hause mitnehmen. Es gibt kein Hinweisschild, das dazu ermahnt, nur eins mitzunehmen, aber jeder Gast hält sich unwillkürlich daran. Da geht man dann: ein Baguette unter den Arm geklemmt oder vor der Brust, ein Kastenbrot, ein weiches Weißbrot oder ein knuspriges, man atmet den Duft ein, den Duft des Roggenkorns, des Weizens, der Sesamsaat, der Aprikosenkerne, den Hefeduft. Auch ich mache mich meist mit einem frischen Brot auf den Heimweg und bummele noch über den Vorplatz des Niangniang-Tempels. Ich bin jedes Mal beschämt, denn ich weiß natürlich, dass ich den Luxus liebe. Ich bin mir bewusst, dass auf unserem Erdball ungezählte Menschen nicht einmal ein Hemd auf dem Leib besitzen, sich nicht sattessen können, dass es viele gibt, die vom Hungertod bedroht sind und gerade jetzt in dieser Minute um ihr Leben ringen. Fräulein Margaritas gemischter Salat besteht aus grünem Salat, Tomaten und jungen Blättchen der Ackergänsedistel. Er schmeckt köstlich. Wer hat sich diesen westeuropäischen Namen, bei dem man unwillkürlich ins Träumen von Europa gerät, für den Salat ausgedacht? Natürlich mein Schulkamerad aus der Grundschule, der Sohn meiner Grundschullehrerin, Li Hand. Wie ich Ihnen schon in meinen früheren Briefen erzählte, war Hand der Begabteste von uns. Eigentlich wäre er für die Schriftstellerei prädestiniert gewesen, doch schließlich bin ich dazu gekommen. Er hingegen wurde Arzt, ein sehr guter Arzt. Er hatte glänzende Zukunftsaussichten, kündigte aber, kehrte aufs Land zurück und machte dieses nicht westliche und nicht östliche, sagen wir, eurasische Restaurant auf. Schon dessen Name und auch die angebotenen Gerichte verraten, dass die Literatur einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf meinen Mitschüler hat. An so einem Ort wie unserem Dorf, wo Einheimisches bis zur Unkenntlichkeit mit Ausländischem vermengt wird, ist ein Restaurant »Don Quijote de la Mancha« an sich schon eine Tat, die dem Namensgeber alle Ehre macht. Li Hand hatte bereits einen Wohlstandsbauch angesetzt. Er, der immer schon untersetzt gewesen war, sah mit dem Bauch noch kleiner aus. Für gewöhnlich saß er in seinem Lokal abgeschieden in einer Ecke, in einiger Entfernung, aber mir gegenüber, so dass er mich sehen konnte. Wir begrüßten uns gegenseitig nicht. Manchmal schrieb ich tief über den Tisch gebeugt irgendwelche unzusammenhängenden Impressionen, und er stand dabei, hinter dem Stuhl, den rechten Ellbogen auf die Lehne gestützt und die Wange in die Hand geschmiegt. In dieser Pose eines Müßiggängers verharrte er stets eine ganze Weile. Der falsche Sancho Panza servierte mir meine Portion Rinderschmorfleisch im Tontopf à la Antonios junge Witwe und mein gezapftes Onkel-Marek-Starkbier. Ich hatte alles, was ich bestellt hatte, nahm einen Schluck Bier und aß einen Bissen von dem Rinderschmorfleisch. Ich kaute langsam und ließ es mir auf der Zunge zergehen. Mein Blick fiel durch das Fenster. Ich sah, dass dort im helllichten Sonnenschein feierlich eine Göttergeschichte aufgeführt wurde. Die Musiker und Opernsänger spielten und sangen, dass die Erde bebte, und bahnten sich einen Weg durch das Menschengewühl. Dem Orchester folgte der Zug mit den Bannern, den Becken, den Baldachinschirmen, den Fächern, den Halbgöttern in fünffarbiger Kleidung. Die Schöne, die auf dem Fabelwesen Qilin ritt, hatte ein Gesicht, makellos wie ein Silberteller, und Augen wie zwei Sterne, in den Armen hielt sie einen molligen, rosig samtigen Säugling. Jedes Mal, wenn ich die Babys bringende Niangniang sehe, möchte ich ihr Bild so gern mit dem von Gugu verknüpfen. Aber meine Tante kommt mir jetzt nur noch mit großem schwarzen Poncho in den Sinn, mit wirrem Haar, einem Lachen wie das Kreischen einer Eule, einem verschwommenen Blick und Worten, die alles ins Gegenteil verkehren. Dies zerstört meinen schönen Traum. Nachdem die Ehrengarde der Kinder schenkenden Niangniang die Göttin im federnden Laufschritt eine Runde um den Tempelvorplatz begleitet hatte, stellten sich alle in der Mitte zu einer Formation auf. Die Musik und die Trommeln verstummten. Ein Würdenträger mit hoch aufragender Beamtenkappe, in einer zinnoberroten Amtsrobe, das Hu-Zepter der Beamten vor der Brust, ein Amtsschreiben in der Hand – man dachte unwillkürlich an den Eunuchen aus dem Computerspiel »Herrscher« –, verkündete mit lauter Stimme: »Himmel und Erde bringen immerfort die fünf Getreidearten hervor. Sonne, Mond und Sterne nähren und mehren das Volk. Auf Geheiß des Jadekaisers bringt die Kinder schenkende Niangniang ein hübsches Kind zu euch auf die Erde nach Nordost-Gaomi herab. Sie hat angeordnet, dass es für Wang Liang, der reichlich gute Werke tut, und seine brave Gattin bestimmt ist, die jetzt vortreten und ihr Kind in Empfang nehmen sollen.« Die sehnsüchtig auf ihre Schwangerschaft wartende Ehefrau nahm das hübsche Kind – es war ein Niwawa-Tonkind – entgegen. Sugitani san, obwohl ich alle möglichen Mittel und Wege suchte, mich selbst zu beschwichtigen, blieb ich der Angsthase, der sich immerfort Sorgen macht. Da ich mir inzwischen sicher war, dass Chen Augenbraue mein Kind austrug, konnte ich mich innerlich nicht beruhigen und fühlte mich in jeder Minute, jeder Sekunde wie ein Schwerverbrecher. Sie war doch Nases Tochter! Gugu und Kleiner Löwe hatten sie aufgezogen! Ich hatte ihr sogar mit meinem kleinen Finger, den ich ihr ins Mündchen schob, Milchpulver gefüttert. Sie war noch winziger gewesen als meine eigene Tochter! Wenn Nase, Hand und Leber erführen, was sich nun zugetragen hatte? Ich könnte einpacken! Wir aus Gaomi sagen, ich könnte genauso gut in ein Hundefell kriechen. Denn niemals mehr könnte ich irgendjemandem unter die Augen treten. Ich hätte mein Gesicht für alle Zeit verloren. Mir fielen die beiden Male ein, die ich Nase gesehen hatte, seitdem ich wieder nach Hause gezogen war. Das erste Mal war im letzten Jahr eines frühen Abends gewesen, als es in dicken Flocken geschneit hatte. Kleiner Löwe hatte noch nicht begonnen, auf der Froschzuchtfarm zu arbeiten. Ich ging draußen mit ihr spazieren, und wir schauten den im hellen Licht tanzenden Schneeflocken am Rande des Tempelvorplatzes zu. Von weitem hörte man immer wieder Böller krachen. Der brenzlige Geruch wurde langsam stärker. Man konnte das neue Jahr schon riechen! Als mich meine Tochter aus Spanien auf dem Handy anrief und erzählte, sie sei mit ihrem Mann in Cervantes’ Geburtsort Alcalá, betrat ich gerade mit Kleiner Löwe an der Hand mein Lieblingsrestaurant »Don Quijote de la Mancha«. Das erzählte ich meiner Tochter, und ich hörte sie durch den Äther fröhlich lachen. »Wie ist die Welt doch klein, Papa!« Und die Kultur groß, finden Sie nicht auch, Sugitani san? Anfangs wusste ich gar nicht, dass es sich bei dem Wirt des Restaurants um meinen alten Schulfreund Li Hand handelte, doch ich ahnte, dass er ein außergewöhnlicher Charakter war. Schon als wir das Lokal zum ersten Mal betraten, gefiel es uns auf Anhieb. Mir hatten es vor allem die massiven Tische und Stühle aus gebürsteter Linde angetan. Wären die Tischplatten mit blendend weiß gewaschenen Tischtüchern bedeckt gewesen, hätte es im Lokal sehr europäisch ausgesehen, aber Li Hand erklärte mir später: »In der Epoche des Don Quijote de la Mancha, das habe ich genau geprüft, hat man in den spanischen Gasthöfen auf dem Land keine Tischtücher benutzt. Genauso wenig«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen, »wie die spanischen Frauen damals Büstenhalter getragen haben.« Sugitani san, ich möchte Ihnen reinen Wein einschenken, auch bei mir war es so, dass ich, sowie ich das Lokal betrat und die zwei blank gewienerten Brüste der Bronzestatue sah, meine Hand nicht stecken lassen konnte. Ich habe darübergestrichen. Nun ja, so offenbare ich Ihnen meine schmutzigen Gedanken, aber ich bin freimütig. Kleiner Löwe sagte sofort: »Hey, was machst du da?« Ich nur: »Was beschwerst du dich? Das ist doch Kunst!« Sie sagte scharf: »Was da so alles unter dem Deckmäntelchen der Kulturliebe läuft, will ich nicht wissen!« Der falsche Sancho Panza kam lächelnd auf uns zu und machte wieder einen Diener, der keiner war: »Mein Herr, meine Dame! Ich freue mich, dass Sie uns beehren!« Er nahm uns die Mäntel, Schals und Mützen ab und geleitete uns zu einem Tisch in der Mitte des Restaurants. Auf den Tischen standen mit Wasser gefüllte Glasschalen mit weißen Schwimmkerzen. Wir mochten das nicht. Ich suchte mir einen Tisch am Fenster aus. Ein idealer Platz, denn man konnte den lustig wirbelnden Schneeflocken draußen zuschauen und hatte obendrein einen guten Blick über das gesamte Restaurant. An einem Tisch, der ganz hinten in der Ecke des Lokals am Fenster stand – meinem späteren Stammplatz – sahen wir einen in Zigarettenqualm gehüllten Mann sitzen. Ich erkannte ihn an dem fehlenden Ringfinger seiner rechten Hand und an seiner großen Nase. Chen Nase, der immer so gutaussehend gewesen war, hatte nun eine Glatze. Das Haar am Hinterkopf fiel glatt herab, eine Frisur, wie sie Cervantes getragen haben mochte. Seine Haut war trocken, die Wangen eingefallen. Wahrscheinlich hatte er keine Backenzähne mehr. Mit drei Fingern seiner Rechten drückte er einen Zigarettenstummel an seinen Mund und versuchte, noch einmal daran zu ziehen. In der Luft hing der unangenehme Geruch des angebrannten Filters. Der Qualm kam in weißen Schwaden aus beiden Nasenlöchern und vernebelte seinen Blick. Er hatte den typischen Blick eines Penners. Ich traute mich nicht recht, ihn anzuschauen, konnte den Blick aber auch nicht abwenden. Ich erinnerte mich an die Bronzestatue von Cervantes auf dem Campus der Pekinger Universität und verstand, warum sich Nase in diesem Restaurant aufhielt. Er war seltsam angezogen, weder Joppe noch Weste, um den Hals hatte er etwas Weißes gebunden, wohl ein Baumwolltuch. Ich sah, so meine ich, dass Nase einen Säbel am Körper trug. Tatsächlich, die Waffe lehnte an der Wand. Und ich entdeckte einen Eisenhandschuh, einen jämmerlichen Faustschild und eine in der Ecke aufgestellte Lanze. Ich meinte, zu seinen Füßen auch einen dreckigen, mageren Hund gesehen zu haben. Es stimmte, da war ein Hund, er war zwar dreckig, aber dünn war er nicht. Cervantes, so sagt man, fehlte an seiner Rechten auch ein Finger. Doch Tartsche und Lanze trug er nicht bei sich. Das tat Don Quijote. Nase sah aus wie Cervantes. Dabei wussten wir nicht, wie Cervantes ausgesehen hat, noch weniger konnten wir Don Quijote, der nie existiert hat, gesehen haben. Sugitani san, halten Sie es damit, wie Sie wollen: Cervantes oder Don Quijote. Ich war darüber tief bekümmert, dass mein alter Freund in eine so furchtbare Lage geraten war. Ich erzählte bereits, welch furchtbares Schicksal seine Töchter ereilt hatte. Ohr und Augenbraue waren bei uns in Gaomi immer die hübschesten Schwestern weit und breit gewesen. Nase war nicht rein chinesisch. Er hatte fremdländische Vorfahren, woher genau, wussten wir nicht. Deshalb waren die Gesichter seiner Töchter nicht flach, sondern hatten ausdrucksstarke Züge. Worte, mit denen in klassischen chinesischen Gedichten und Romanen Frauenschönheit beschrieben wird, greifen bei den beiden hübschen Schwestern nicht. Sie waren wie Kamele in einer Herde Schafe, wie mandschurische Kraniche in einer Schar Hühner. Wären sie in wohlhabende Familien oder in einem reichen Land geboren worden, hätten sie alle Chancen gehabt. Selbst wenn sie weit weg in einer ärmlichen Familie zur Welt gekommen wären, hätten sie vielleicht, vom Schicksal plötzlich begünstigt, einen Edlen getroffen; und hätten sie dann nur einen einzigen Ton gesagt, hätte sich ihr Schicksal zum Guten gewendet, und sie hätten einem leuchtenden Stern am Himmel geglichen. Die beiden waren zusammen fortgegangen, Richtung Süden, hatten sich alleine durchgeschlagen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, doch noch eine Chance zu bekommen. Ich hatte gehört, dass sie nach Dongli in der Provinz Kanton gegangen seien und dort in einer Plüschtierfabrik gearbeitet hätten. Dass der Fabrikbesitzer ein Ausländer gewesen sei. Ob ein echter Ausländer, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Was waren die zwei Schwestern hübsch und klug gewesen! In einer Umgebung, in der man dem Geld und dem Luxus frönt, hätte ihnen ihre Unberührtheit nichts bedeuten dürfen, dann wäre für sie alles einfach gewesen. Aber sie hatten ihre Arbeitskraft verkauft und waren in der Fertigung geblieben. Hatten im Schweiße ihres Angesichts brutale Ausbeutung ertragen. Zuletzt war in der Fabrik ein Feuer ausgebrochen, ganz China war über dieses Unglück schockiert. Die Ältere der beiden war verbrannt. Die Jüngere hatte schwere Brandverletzungen erlitten, die sie verunstalteten. Die große Schwester hatte die kleine mit ihrem Körper zu schützen versucht, als beide um ihr Leben gerannt waren. Wie schmerzlich! Wie traurig! Wie mitleiderregend! Es war der Beweis dafür, dass die beiden ihre Tugend nie verloren hatten! Dass sie brave Kinder geblieben waren! Kristallrein, wie geschliffene Jade ... Verzeihung Sugitani san. Ich bin furchtbar ergriffen. Nases Leben ist so voller Leid! Ich finde, wenn er in diesem Lokal namens »Don Quijote de la Mancha« den schon lange verstorbenen Cervantes oder die frei erfundene Figur des Don Quijote spielt, ist er nicht besser als der zwergenwüchsige Türsteher im Pekinger »Paradise Bird Dance Club« oder der riesenwüchsige Türsteher in der »Wasserfallgrotte« Spa von Taizhou in Jiangsu. Da gibt es keinen Unterschied. Jedes Mal wird der eigene Körper vermarktet. Beim Zwerg ist es der Zwergenwuchs, beim Riesen der Riesenwuchs und bei Nase die überdimensionale Nase. Sie befinden sich alle in derselben tragischen Situation. Sugitani san, ich erkannte Nase an jenem Abend sofort, obwohl ich ihn fast zwanzig Jahre nicht gesehen hatte! Ich gebe zu, ich könnte ihn hundert Jahre nicht gesehen haben, auch im Ausland würde ich ihn erkennen. Natürlich hatte er uns ebenfalls erkannt, nicht nur wir ihn. Alte Freunde aus Kinderzeiten! Da braucht man nicht einmal Augen, man verlässt sich auf seine Ohren und erkennt sich am Seufzer und am Nieser, alles sichere Erkennungszeichen. Sollten wir nicht gleich auf ihn zugehen? Ihn ganz unkompliziert zu uns an den Tisch bitten und mit ihm zusammen essen ... Kleiner Löwe und ich zögerten. Ich schaute absichtlich nicht direkt zu ihm hin. Ich war mir sicher, dass er, wie er jetzt den ausgestopften Hirsch an der Wand betrachtete, darüber nachdachte, nach vorn zu kommen und uns zu begrüßen. Damals beim Fest des Herdgotts, als er zusammen mit seiner Tochter Ohr zu uns nach Hause gekommen war ... O, wie genau ich mich jetzt wieder daran erinnerte! Er, groß wie ein Baum, mit seiner robusten Schweinslederjacke, den großen Stößel in der erhobenen Hand, den er in unseren Wok mit den Neujahrsmaultaschen werfen wollte. Wüst, aufbrausend, gewalttätig, wie ein in Zorn geratener Bär. Danach hatte ich ihn nie wieder gesehen. Ich war mir jetzt sicher, dass nicht nur ich mich an das Vorgefallene erinnerte, sondern auch er, und dass nicht nur wir von der überraschenden Begegnung so betroffen waren, sondern auch er. Wir haben ihn niemals gehasst. Wir bemitleideten ihn wegen seines Pechs, der laufenden Heimsuchungen. Warum wir nicht sofort aufstanden, zu ihm gingen und ihn begrüßten? Nur weil wir nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten, denn zweifellos standen wir uns wesentlich besser als er; wir sagen hier in Gaomi: Bei uns flutschte es besser. Wie verhalten sich Leute, denen es gut geht und die Geld haben, gegenüber ihren Freunden, denen es schlecht geht und die in Schwierigkeiten sind? Dafür braucht man Gespür und Takt! Sugitani san, meiner schlechten Angewohnheit – dem Rauchen – fröne ich unverändert. In Amerika, in Europa und auch in Eurem Japan gibt es für Raucher inzwischen viele Einschränkungen. Man fühlt sich als Raucher ungehobelt, als hätte man schlechte Umgangsformen. Bei uns in Gaomi hat sich in Bezug auf das Rauchen noch nichts geändert. Ich holte meine Zigaretten raus, nahm eine aus der Packung und zündete sie mir mit einem Streichholz an. Ich liebe diesen schwachen Schwefelgeruch, der beim Entzünden der Streichhölzer entsteht. Sugitani san, ich rauchte an jenem Tag Zigaretten Marke Gelbe Kranichpagode 1916, eine der teuersten Marken Chinas, angeblich kostete ein Päckchen sechshundert Yuan, das sind dreißig Yuan pro Zigarette. Weizen kostet bei uns 8 Groschen das Pfund. Also müsste man siebenunddreißigeinhalb Pfund Weizen verkaufen und bekäme dafür nur eine einzige Zigarette der Marke Gelbe Kranichpagode. Von so viel Mehl kann man fünfzehn große Brote backen und sich einen ganzen Monat lang damit ernähren. An einer Zigarette Marke Gelbe Kranichpagode zieht man ein paar Mal, und schon ist sie verglüht. Diese Zigaretten waren prachtvoll und teuer verpackt, jede einzelne am Filter vergoldet, dass ich an Euren Goldenen Pavillon-Tempel, den Kinkaku-ji, denken muss. Ob sich der Zigarettendesigner dort inspirieren ließ? Ich bin mir immer bewusst, dass mein Vater es auf den Tod nicht ausstehen kann, wenn ich solche Zigaretten rauche. Er hatte damals, als ich sie ihm gezeigt hatte, kühl gesagt: »Du versündigst dich! Du setzt schlechte Ursachen!« Ich beeilte mich, ihm zu sagen, dass ich sie nicht selbst gekauft hätte, sondern dass Freunde sie mir geschenkt hätten. Vater sagte noch unzugänglicher: »Umso schlimmer! So ziehst du auch noch andere mit hinein.« Ich bereute, dass ich ihm den Preis der Zigaretten genannt hatte. Es beweist, dass ich ein oberflächlicher Gockel bin. Meine wahre Natur unterscheidet sich gar nicht von diesen Neureichen, die immer auf Markenjagd sind und sich alleweil mit ihren neuen Zweit- und Drittfrauen brüsten. Aber diese teuren Zigaretten konnte ich doch nicht wegwerfen, nur weil mein Vater mich kritisiert hatte. Hätte ich sie fortgeworfen, hätte ich mich doch noch mehr versündigt. Diesen Zigaretten war ein besonderer Aromastoff zugesetzt, angezündet dufteten sie so intensiv, dass man sich davon wie trunken fühlte. Ich beobachtete, dass Chen Nase nicht mehr still saß und einige Mal hintereinander heftig niesen musste. Sein Blick wandte sich nun von dem ausgestopften Hirsch an der Wand ab und langsam uns zu. Ich las in seinen Augen Zweifel, Befangenheit, Wankelmut. Dann sah ich einen Hoffnungsschimmer, Unersättlichkeit, sogar einen Anflug von Kaltblütigkeit. Dieses Gefühlsgemenge warf er mir mit seinem Blick entgegen. »Herr!« Endlich stand er auf. Seinen Säbel wie einen Krückstock mit sich führend, kam er zu uns gehumpelt. Es war nur schummrig im Lokal, aber sein angespanntes Gesicht konnte ich trotzdem erkennen. Seine Mimik lässt sich schwer in Worte fassen. Der Blick war auf mein Gesicht gerichtet oder auf den Zigarettenqualm, der aus meinem Mund kam. Das blieb unklar. Ich beeilte mich aufzustehen. Der Stuhl kratzte geräuschvoll über den Boden. Kleiner Löwe erhob sich auch sofort. Er stand vor mir, und ich streckte ihm eilig die Hand hin. Ich verstellte mich noch schnell und tat so, als hätte ich ihn zuvor gar nicht bemerkt und wäre jetzt freudig überrascht. Nase reagierte nicht, wie ich es erwartet hatte, schon gar nicht schüttelte er mir die Hand. Er blieb in höflicher Entfernung und verbeugte sich tief. Er sprach, die Hand auf dem Knauf seines mit Rostflecken übersäten Degens, mit der Stimme eines Theaterschauspielers: »Erlauchte Dame! Gnädiger Herr! Ich, Junker Don Quijote von der Mancha in Spanien, erweise Ihnen meine Ehrerbietung und aufrichtigen Respekt und stehe Ihnen rückhaltlos zu Diensten.« »Hör auf, uns auf den Arm zu nehmen«, sagte ich, »und spiel nicht den Ahnungslosen, du Lauch! Ich bin Wan Zu, dein Schulfreund Renner, und sie ist Xiao Shizi ...« »Gnädiger Herr! Vornehme Dame! Nichts Ehrenvolleres, Gerechteres und Heiligeres für einen Ritter, wie ich es bin, als kraft des Degens aufrichtig mit Herz und Hand den Frieden zu verteidigen ... « »Kumpel, hör auf mit dem Theater!« – Ja, ja, die Welt ist eine Bühne, und jeden Tag wird das gleiche Drama gespielt. – »Gnädiger Herr! Gnädige Dame! Sollte es Ihnen gerade zu Pass kommen, mir eine von Ihren Zigaretten zu überlassen, möchte ich Euer Gnaden gern eine Kostprobe meiner Degenkunst geben.« Ich holte sofort eine Zigarette raus, reichte sie ihm und gab ihm schnell Feuer. Er nahm einen tiefen Lungenzug. Die Glut an der Spitze leuchtete auf, die Zigarette brannte herunter. Er kniff die Augen zusammen, krauste sein Gesicht, nahm einen tiefen Zug, um dann langsam zu entspannen, während er den weißen Qualm in zwei Fahnen durch die Nasenlöcher ausstieß. Dass eine Zigarette einem Menschen eine solche Entspannung und Behaglichkeit verschaffen kann! Obwohl ich selbst doch auch schon viele Jahre lang rauche, bin ich nicht besonders süchtig nach Zigaretten. Er nahm noch einen Zug. Der Tabak war fast verbrannt. Bei diesen teuren Zigaretten war der Filter raffinierterweise besonders lang und die Tabakmenge pro Zigarette entsprechend gering; das beschwichtigt die wohlhabenden Raucher, die zu dieser Marke greifen und Angst vor dem Tod haben, das Rauchen aber trotzdem nicht lassen können. Er hatte die Zigarette binnen dreier tiefer Lungenzüge bis zum Filter aufgeraucht. Ich reichte ihm direkt die ganze Packung. Furchtsam lugte er nach beiden Seiten und griff dann schnell zu, um sie in seinem Ärmel verschwinden zu lassen. Das Versprechen, uns eine Kostprobe seiner Schwertkunst zu geben, hatte er vergessen, und er ging nun ein Bein und den Degen nachziehend zur Tür, um das Lokal zu verlassen. An der Tür nahm er aus dem Weidenkorb noch ein französisches Baguette mit. »Don Quijote! Hast du unseren Gästen wieder was abgeluchst!«, rief der dicke Sancho Panza ihm nach und kam mit zwei Glas schäumendem Starkbier auf uns zu. Durchs Fenster hatten wir den armen Tropf gut im Blick, wie er mit seinem rostigen Degen, seinem Hinkebein und einem ellenlangen Schatten über den Tempelplatz und in der Dunkelheit verschwand. Der kräftig gebaute Hund folgte ihm dicht auf den Fersen; der Mensch verkommen und völlig am Ende, sein Hund frohgemut und voller Elan. »Lästiger Unglücksrabe!« Entschuldigend rügte ihn der falsche Sancho Panza und posaunte: »Hinter unserem Rücken macht der Sachen, die uns kompromittieren. Im Namen meines Chefs entschuldige ich mich hiermit bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten. Ich hoffe, es hat Ihnen nichts ausgemacht, diesem heruntergekommenen Junker ein paar Zigaretten zu überlassen.« »Aber nicht doch! Sagen Sie so etwas nicht!« Ich konnte den Tonfall des Obers und seine Überheblichkeit nicht leiden, schließlich drehten wir keinen Film und waren auch nicht im Theater ... »Haben Sie ihn hier angestellt?« Der Ober antwortete: »Mein Herr, ich sage es Ihnen, wie es ist: Als wir den Laden hier aufmachten, bemitleidete mein Chef ihn und staffierte ihn so aus. Ich und er hatten am Eingang zu stehen und die Gäste anzulocken. Aber wir hatten nicht wenig Ärger mit ihm, er ist alkohol- und nikotinsüchtig. Wenn er getrunken hat, ist mit ihm nichts mehr anzufangen, und obendrein hat er noch diesen penetranten Köter immer dabei. Er ist unappetitlich, wäscht sich nicht von alleine. Ich dusche täglich zweimal. Wenn ich schon nicht gut aussehe, sollen andere wenigstens einen angenehmen Duft in der Nase haben, wenn sie mich sehen, und sich dadurch entspannt fühlen. Das gehört zum Berufsethos eines qualifizierten Obers. Aber dieser arme Tropf ist nicht nur ein paar Mal vom Regen völlig durchnässt hier erschienen, er hat sich auch nie gewaschen. Diesen abscheulichen Geruch konnten wir unseren Gästen nicht zumuten. Außerdem bettelte er entgegen den Anweisungen vom Chef hier ein öfter die Gäste um Geld an. So einen Lump hätte ich, wenn ich mein Chef wäre, längst mit dem Knüppel fortgejagt. Aber unser Chef, dieser Gutmensch, gibt ihm immer wieder eine Chance, sich zu bessern. Aber was macht so ein Lump? So sicher, wie ein Hund das Scheißefressen nicht lässt, wird auch der sich nicht ändern. Mein Chef hat ihm Geld gegeben, damit er nicht mehr wiederkommt. Aber er hat’s verquast und ist wieder angekommen. Wäre ich hier Chef, ich hätte die Polizei gerufen.« Der Dickwanst flüsterte jetzt: »Ich habe gehört, dass er ein Schulkamerad meines Chefs ist. Aber auch wenn man zusammen zur Schule gegangen ist, hat meiner Meinung nach alles seine Grenzen! Irgendwann haben sich die Gäste beim Chef beschwert, dass der Don Quijote unangenehm rieche und der Köter Flöhe habe. Da hat unser Chef jemanden eingestellt, der ihn einmal im Monat samt Hund zum Badehaus bringen muss. Beide werden gründlich geschrubbt. Das ist inzwischen zur Gewohnheit geworden. Er weiß diese Freundlichkeit nicht mal zu schätzen. Er schimpft, wenn es losgeht, selbst in der großen Wanne pöbelt er noch lauthals: ›Hand, du Dreckskerl, du nimmst einem Ritter die Würde‹.« Sugitani san, an jenem Abend gingen Kleiner Löwe und ich deprimiert den Weg am Fluss zurück nach Hause. Das Wiedersehen mit Nase hatte uns schwer getroffen. Die Erinnerungen an früher zuzulassen war unerträglich. In den vergangenen dreißig Jahren haben sich der Fluss und die Landschaft an seinen Ufern sehr verändert. Es gibt so viel Neues, das man sich nicht einmal hätte träumen lassen. Und vieles, worüber wir uns damals den Kopf zerbrachen, ist heute etwas, worüber man scherzt. Wir haben uns nicht darüber ausgetauscht, aber höchstwahrscheinlich dachten wir beide dasselbe. Sugitani san, das zweite Mal, dass ich Chen Nase begegnete, war im Krankenhaus in der Wirtschaftssonderzone. Wir waren alle zusammen hingegangen, auch Li Hand und Wang Leber. Er war von einem Polizeiauto angefahren worden und verletzt. Der Fahrer des Polizeiwagens behauptete – und Augenzeugen, die an der Straße standen, bestätigten dies –, er sei vorschriftsmäßig die Straße entlanggefahren und Nase hätte sich vor das Auto auf die Straße gestürzt. Er hatte den Tod gesucht, anders kann man es nicht bezeichnen. Der Hund hatte sich mit ihm zusammen vor das Auto geworfen. Nase wurde in hohem Bogen ins Gebüsch geschleudert, der Hund wurde unter den Rädern zermalmt. Nase erlitt an beiden Beinen einen Splitterbruch, Arme und Lendenwirbel waren ebenfalls verletzt und in Mitleidenschaft gezogen. Aber er war außer Lebensgefahr. Leber und Hirn des Hundes waren auf die Straße gespritzt, er hatte sich für seinen Herrn geopfert. Li Hand hatte uns benachrichtigt, dass Nase verletzt worden sei. Er erklärte sofort, die Polizei treffe mit Sicherheit keine Schuld, aber sie habe sich bereit erklärt, für die Wiederherstellung von Nases Gesundheit, weil doch die Gelenke wieder zusammengefügt werden müssten, zehntausend Yuan zu zahlen. Zehntausend Yuan waren natürlich viel zu wenig. Ich verstand nun, dass Hand uns Schulfreunde zusammengetrommelt hatte, weil die OP-Kosten für Nase zusammenkommen mussten. Nase war in einem Krankensaal mit zwölf Betten untergebracht, sein Bett mit der Nummer Neun stand direkt am Fenster. Wir hatten Mitte Mai, und der Duft des in voller Blüte stehenden, roten Magnolienbaums vor dem Fenster schwängerte die Luft. Obwohl im Krankenzimmer so viele Betten standen, war es sauber, und auch, wenn dieses Krankenhaus sich nicht mit den großen Kliniken in Peking oder Shanghai messen kann, war es, verglichen mit der Krankenstation von vor zwanzig Jahren, ein Riesenfortschritt. Sugitani san, ich war zusammen mit meiner Mutter früher einmal eine Woche lang auf der Krankenstation der Kommune. Ich schlief vor ihrem Bett und versorgte sie. Die Krankenbetten waren voller Läuse, an den Wänden gab es Blutspuren und im Zimmer ganze Heerscharen von Fliegen. Wenn ich daran denke, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Nase hatte beide Beine und den rechten Arm eingegipst, er lag auf dem Rücken und konnte außer dem linken Arm nichts bewegen. Als er uns kommen hörte, wandte er uns den Kopf zu. Wang Leber brach mit seinem Lachen und Schimpfen das peinliche Schweigen: »Na du, Don Quijote, was stellst du für Sachen an? Ein Kampf mit dem bösen Riesengezücht? Hast du Windmühlen im Kopf? Oder musstest du dich mit dem Biskayer duellieren? Hand sagte: »Bist du lebensmüde, dann lass es mich wissen! Es ist wirklich nicht nötig, im vollsten Galopp in Polizeiautos hineinzusprengen! »Nase, du hast gar nicht mit uns gesprochen! Du kannst dich ganz schön verstellen«, sagte Kleiner Löwe. »Bedank dich bei Hand dafür, dass er dich verrückt gemacht hat!« Hand sagte: »Du hältst ihn doch nicht wirklich für wahnsinnig? Er verstellt sich nur. Darin ist er ein unübertroffener Meister!« Nase weinte plötzlich herzzerreißend. Sein zur Seite gewandtes Gesicht drehte er dabei noch mehr zur Seite. Seine Schultern zuckten und mit der Linken, die als einziges seiner Glieder beweglich geblieben war, kratzte er an der Wand. Eine hochgewachsene, dünne Krankenschwester kam schnellen Schrittes ins Zimmer, sie musterte uns mit strengem Blick und schlug mit der Hand ein paar Mal kräftig gegen das Kopfende des Eisenbetts: »Nummer Neun, Schluss mit dem Geschrei!« Er hörte augenblicklich auf zu weinen und drehte auch den Kopf wieder gerade. Aus trüben Augen schaute er uns an. Die lange, dünne Schwester zeigte mit dem Finger auf die Blumen, die wir Chen Nase auf das Nachtschränkchen gestellt hatten. Angewidert schnaufte sie: »Die Klinik verbietet das Mitbringen von Blumen ins Krankenzimmer.« Kleiner Löwe war aufgebracht: »Was sind das für Krankenhausregeln? Nicht mal in den großen Kliniken in Peking gibt es solche Vorschriften!« Die Schwester überging den Einwand meiner Frau und fuhr Nase an: »Deine Familie hier sollte jetzt die Rechnung begleichen. Heute ist der letzte Tag.« Ich war verärgert: »Was erlauben Sie sich? Was ist das für eine Einstellung?« Sie verzog abschätzig den Mund: »Arbeitseinstellung.« »Und wo bleibt Ihre humanitäre Gesinnung?«, meinte Leber. Die Schwester entgegnete: »Ich gebe nur weiter, was man mir aufträgt. Wenn Ihnen eine humanitäre Gesinnung wichtig ist, dann bezahlen Sie jetzt die Rechnung. Ich kann mir vorstellen, dass unser Klinikdirektor jedem von Ihnen eine Tafel überreichen lässt mit den vier Schriftzeichen: 人道模範 Vorbild der Humanität.« Leber wollte das Wortgefecht weiterführen, aber Hand hielt ihn davon ab. Die Schwester zog wutschnaubend von dannen. Wir schauten uns an und machten uns Gedanken. So schwer, wie Chen Nase verletzt war, würde die Rechnung unsere Erwartungen bestimmt noch übersteigen. »Warum habt ihr mich hierher gebracht. Lasst mich sterben und mischt euch nicht ein! Hättest ihr mich gelassen, wo ich war, wäre ich doch längst tot. Und müsste hier nicht liegen und diese Erbärmlichkeit ertragen.« »Wir waren das nicht, die dich gerettet haben«, sagte Leber, »die Polizei hat den Rettungswagen gerufen.« »Ihr wart es nicht?«, fragte er verächtlich. »Ja, was habt ihr dann hier zu schaffen? Mich bemitleiden? Mir Zuspruch geben? Da seid ihr an der falschen Stelle. Geht schnell und vergesst eure Blumen mit diesem scharfen Insektizidgeruch nicht – die verursachen mir Kopfschmerzen. Ihr wollt hier meine Rechnung bezahlen? Wozu? Ich bin der Junker Don Quijote. Meine engsten Freunde sind der König und die Königin. Das bisschen Geld wird aus der Staatskasse bezahlt. Ist doch klar. Und wenn König und Königin nicht zahlen, dann doch bestimmt nicht ihr! Meine beiden schönen Töchter, feengleich und immer schon vom Schicksal begünstigt! Sie sind doch längst in hohen Positionen als Landesmutter und Konkubine der Mächtigsten. Dieser Rechnungsbetrag ist so unbedeutend klein, solches Klimpergeld rinnt ihnen doch jederzeit durch die Finger. Da sollten sie diese lächerliche Summe nicht zahlen können?« Sugitani san, wir begriffen natürlich jedes Wort genau! Er markierte nur den Irren. Sein Gehirn funktionierte kristallklar. Den Irren zu spielen wird mit der Zeit zur Gewohnheit. Man ist dann irgendwann zu dreißig Prozent verrückt. Als wir Li Hand ins Krankenhaus gefolgt waren, um Nase zu besuchen, war uns allen schon mulmig gewesen. Ein paar Blumensträuße, ein paar gute Worte, auch ein paar hundert Yuan, das alles wäre kein Problem gewesen, aber dass wir eine horrende Krankenhausrechnung zahlen sollten, war doch wohl ..., schließlich gehörte Nase nicht zur Familie, es gab keinerlei familiäre Bande. Außerdem waren da diese besonderen Lebensumstände, in denen er sich befand. Wenn er ganz normal gewesen wäre, wie jeder von uns ... Wie dem auch sei: Es war keineswegs so, dass wir kein Gerechtigkeitsgefühl besessen hätten, dass wir kein Mitleid gehabt hätten. Aber, Sugitani san, wir waren keine Helden, nur Mittelmaß ... Wir schwebten nicht in solchen luftigen Höhen, dass wir für einen Sonderling, einen schrägen Vogel, bedenkenlos die Brieftasche zücken und uns verausgaben konnten. Deswegen kam uns seine wilde Rede sehr gelegen. Er gab uns damit die Möglichkeit, den Esel vor der Anhöhe zum Halten zu bringen und abzusteigen. Wir blickten alle zu Li Hand hinüber, der uns mitgenommen hatte. Der schüttelte den Kopf: »Nase, jetzt lass dich erst einmal gesund pflegen. Wo dich doch die Polizei angefahren hat! Wir werden Verantwortung übernehmen, das ist doch selbstverständlich. Und wenn es Probleme gibt, dann finden wir einen Weg ...« »Jetzt aber raus!«, entgegnete Chen Nase. »Wenn meine Hand die Lanze halten könnte, würde ich euch eure strohdummen Schädel damit abklopfen!« Ja, was hätten wir denn tun sollen? Wenn wir da nicht gegangen wären, wann dann? Wir nahmen also unseren pestizidverseuchten, schlecht riechenden Blumenstrauß und wollten gerade zur Tür hinaus, als die dünne Schwester einen Mann im Arztkittel hereinführte. Sie stellte ihn uns als den stellvertretenden Krankenhausdirektor, Leiter der Abteilung Finanzen und Controlling vor. Dann stellte sie uns dem Arzt als Verwandtschaft der Nummer Neun vor. Der Vizeabteilungsleiter kam sofort zur Sache und zeigte uns die Abrechnung, erklärte, die lebensrettenden Maßnahmen und die Medikamente machten zusammen bereits einen Betrag von mehr als zwanzigtausend Yuan aus. Und er wolle nur darauf hinweisen, dass dieser Betrag lediglich den Selbstkosten entspreche. Würde nach den üblichen Sätzen der Klinik abgerechnet, fiele die Rechnung natürlich um ein Vielfaches höher aus. Während er uns dies vortrug, pöbelte Chen Nase laut: »Verpisst euch, ihr Halsabschneider, Geschäftemacher, Beutelschneider! Ihr Leichen fleddernden Maden. Und ihr da, hey! Ich kenne euch nicht, verschwindet!« Sein linker, heil gebliebener Arm fuchtelte wild, trommelte gegen die Wand! Suchte und fand eine Glasflasche, die er ins gegenüberliegende Bett warf, und traf den am Tropf hängenden alterschwachen Patienten. »Verpisst euch alle! Dieses Krankenhaus habt ihr meiner Tochter zu verdanken. Ihr seid alles von meiner Tochter eingestellte Hilfskräfte! Wenn ich will, fliegt ihr sowieso morgen raus, und dann ist es aus mit eurer eisernen Reisschüssel!« Stellen Sie sich vor, Sugitani san, als Nases Geschrei und Toberei auf dem Höhepunkt waren, kam eine schwarz gekleidete und verschleierte Frau ins Krankenzimmer. Ich brauche es nicht zu sagen, teurer Freund, Sie erraten, wer es war. Richtig! Es war Nases Tochter Augenbraue, die dem Feuer in der Plüschtierfabrik entkommene und durch die Feuersbrunst verunstaltete Kleine. Geräuschlos wie ein Spukgespenst kam sie hereingeweht. Kleid und Schleier ließen sie geheimnisvoll aussehen, wie aus einer anderen Welt, unheimlich. Der Lärm verstummte. Als hätte man den Stecker gezogen. Selbst die stickige, warme Luft war urplötzlich kühl geworden. Ein Vogel, der auf der vor dem Fenster blühenden Magnolie saß, stieß einen langgezogenen zärtlichen Ruf aus. Von ihrem Gesicht war nichts zu sehen und auch sonst kein bisschen Haut. Nur dass sie hochgewachsen und schmal gebaut war, konnte man erkennen: die Figur eines Mannequins! Wir wussten natürlich, dass es Augenbraue war. Ich und Kleiner Löwe erinnerten uns sofort an das kleine Wickelbaby von vor mehr als zwanzig Jahren. Sie nickte uns zu, dann dem Vizedirektor: »Ich bin die Tochter. Was wir schuldig sind, bezahle ich!« Sugitani san, in Peking habe ich einen Freund, er ist ein Spezialist für Verbrennungskrankheit und in der Pekinger Klinik 304 im Forschungszentrum für Schwerbrandverletzte und Plastische Chirurgie beschäftigt, außerdem ist er Mitglied der Forschungsgesellschaft für Schwerbrandverletzte. Er hat mir einmal berichtet, dass Verbrennungskranke seelisch stark traumatisiert sind, dass sie das Psychotrauma vielleicht noch stärker belastet als die körperliche Verletzung. Wenn sie zum ersten Mal ihr entstelltes Gesicht im Spiegel sehen, ist der Schock kaum auszuhalten. Verbrennungskranke brauchen sehr viel Mut, um weiterzuleben. Finden Sie nicht auch, lieber Freund, dass der Mensch mit der Umgebung steht und fällt, in der er sich befindet? Besondere Umstände mögen dazu führen, dass Feiglinge plötzlich zu Helden werden, dass Verbrecher plötzlich gute Werke tun, dass Geizkragen mit zugeknöpften Taschen auf einen Schlag ihr gesamtes Geld verwetten. Augenbraues mutiges Auftreten und ihr Einstehen für ihren Vater sorgte bei uns für peinliche Betretenheit, und diese Peinlichkeit ließ unseren Sinn für Gerechtigkeit erwachen. Wahrer Gerechtigkeitssinn führt dazu, dass man anderen mit dem eigenen Geld hilft. Zuerst war es Hand, dann auch wir anderen, die sprachen: »Augenbraue, du braves Mädchen, wir helfen dir bei der Rechnung für deinen Vater.« Augenbraue entgegnete kühl: »Danke für eure Hilfsbereitschaft, aber unsere Schulden sind so hoch, die kann man niemandem zumuten.« Nase schrie aus Leibeskräften: »Verschwinde! Du schwarz verhüllter Dämon, der sich erdreistet, sich als meine Tochter auszugeben. Meine eine Tochter macht ein Auslandsstudium in Spanien, ist dort in einen spanischen Prinzen verliebt, und beide planen ihre Hochzeit, meine andere Tochter ist in Italien und hat dort eine der ältesten Kellereien Europas gekauft, die einen köstlichen Wein herstellt, von dem sie ein ganzes Containerschiff voll auf den Weg nach China geschickt hat.« 9 Sugitani san! Wie peinlich ist es mir, dass ich noch keine Zeile von meinem Theaterstück geschrieben habe, auf das Sie schon so lange warten. Es ist zu viel Material. Mir ist zumute wie einem Hund vor dem Berg Taishan, in den er hineinbeißen soll, aber er findet keine Stelle, an der er seine Zähne ansetzen kann. Während ich mir darüber Gedanken mache, geschehen in meinem realen Leben immer wieder Dinge, die mit der Handlung des Theaterstücks verknüpft sind, die übersteigerte Theatralik macht meine Gedankengänge immer wieder zunichte. Warum ich mich nun ganz und gar geniere, ist, dass ich in eine Falle getappt bin und mich aus der vertrackten Lage, in die ich mich gebracht habe, nicht mehr zu befreien weiß. Oder wie soll ich sagen: Ich weiß nicht, wie ich mit meiner neuen Rolle umgehen soll, wie ich das schultern soll. Treuer Freund! Sie wissen, was mir das Herz schwer macht. Meine Befürchtungen, von denen ich Ihnen bereits schrieb, waren nicht unbegründet. Es ist wahr, unverrückbare Realität. Kleiner Löwe hat es zuletzt doch zugegeben. Sie hat mir tatsächlich meine kleinen Kaulquappen gestohlen! Und Augenbraue damit künstlich befruchten lassen. Das Blut schoss mir bis in die Haarwurzeln, als ich es hörte. Ich rastete aus vor Wut. Wie von Sinnen schlug ich ihr mit aller Gewalt ins Gesicht. Ich weiß, dass man nicht handgreiflich werden darf. Besonders jemandem wie mir, einem den Lorbeerkranz tragenden Dichter von Tragödien, von Dramen, steht eine solche Barbarei nicht an. Liebster Freund, ich war aber wirklich völlig außer mir vor Wut. Als ich von der Floßfahrt mit dem kleinen Plattschädel zurückgekommen war, hatte ich begonnen, Nachforschungen anzustellen. Doch jedes Mal, wenn ich die Froschzuchtfarm betreten wollte, war ich von den Wachposten abgefangen worden. Ich versuchte, Yuan Backe und meinen kleinen Cousin per Telefon zu erreichen, doch sie hatten längst neue Handynummern. Ich versuchte, aus meiner Frau etwas herauszubekommen. Sie verhöhnte mich, ich wäre geisteskrank. Ich druckte mir alle Informationen aus, die die Froschzuchtfirma über ihr Leihmütterangebot und die Abwicklung der Schwangerschaft bei Bestellung eines Kindes auf ihrer Internetseite gab, ging damit zur Stadtverwaltung und erstattete gegen die Firma Anzeige beim Komitee zur Geburtenplanung. Das Komitee behielt zwar das von mir mitgebrachte Material, unternahm aber nichts. Ich ging daraufhin zur Polizei, um dort Anzeige zu erstatten. Aber die Sachbearbeiter am Tresen erklärten mir, dass diese Art von Anzeigen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Ich rief bei der Hotline des Bürgermeisters an. Der Telefondienst versprach, alle Informationen an den Bürgermeister weiterzugeben ... Inzwischen sind bereits einige Monate verstrichen, Sugitani san. Als ich endlich aus dem Mund meiner Frau die Wahrheit erfuhr, war das Baby in Chen Augenbraues Bauch schon sechs Monate alt. Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, und nun soll ich mir nichts dir nichts noch einmal Vater werden. Es gibt keinen Weg zurück, es sei denn, man wollte Risiken eingehen, brutale Medikamente verabreichen und auf diese Weise die Schwangerschaft beenden. Als ich jung war, habe ich so meiner Frau das Leben genommen. Das ist der größte Schmerz in meinem Herzen und mein am schwersten zu sühnendes Verbrechen. Obwohl ich jetzt schweren Herzens mit allem einverstanden bin, ist mein Entschluss doch sinnlos, Sugitani san, denn ich werde in diese Froschaufzuchtfarm nicht hineingelassen, und bekäme ich dort Zutritt, dürfte ich nicht einmal Augenbraues Gesicht sehen. Ich vermute, dass es dort viele geheime Kanäle und auch ein unterirdisches Labyrinth gibt, und von meiner Frau weiß ich, dass Yuan Backe und mein Cousin Mittelsmänner der eigentlichen Bande sind. Wenn die es mit der Angst zu tun kriegen, würden sie noch die eigene Mutter ans Messer liefern, denen ist alles zuzutrauen. Kleiner Löwe bekam von mir eine Backpfeife, sie wich einige Schritte zurück und landete mit dem Hintern auf dem Boden. Ihre Nase blutete in Strömen. Sie gab lange keinen Ton von sich. Sie weinte nicht, sondern grinste böse und sagte dann: »Da hast du ja richtig zugehauen! Kleiner Renner, du bist ein Verbrecher! Dass du mich schlägst, beweist, dass dein Gewissen längst die Hunde gefressen haben. Ich habe es nur für dich getan. Du hast eine Tochter, aber keinen Sohn. Wenn du keinen Sohn hast, dann wird es keinen Stammhalter mit Namen Wan geben und die Familie stirbt aus. Es tut mir leid, dass ich dir keinen Sohn gebären kann. Um das wiedergutzumachen, habe ich jemanden gesucht, der dein Kind austrägt und für dich einen Sohn zu Welt bringt. Du bist mir aber nicht dankbar, sondern schlägst mich auch noch. Du enttäuschst mich bitter ...« Dann weinte sie doch. Tränen und Nasenblut vermischten sich. Ich ertrug es nicht, sie so weinen zu sehen. Aber dann wurde mir wieder bewusst, dass sie das alles hinter meinem Rücken getan hatte, und sofort packte mich erneut eine unbändige Wut. Weinend stieß sie hervor: »Ich weiß schon, dass es dir um die sechzigtausend Yuan geht. Du musst sie aber nicht bezahlen, ich nehme das Geld aus meiner Altersversorgung. Wenn das Kind geboren ist, brauchst du es auch nicht großzuziehen. Ich werde das allein tun. Es hat also alles gar nichts mit dir zu tun. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass man für eine Samenspende hundert Yuan bezahlt bekommt. Ich gebe dir dreihundert. Damit wäre dann abgegolten, dass ich deinen Samen benutzt habe. Du kannst nach Peking zurückgehen, du kannst dich von mir scheiden lassen, oder auch nicht, wie du willst, aber wir beide haben nun nichts mehr miteinander zu tun. Aber«, sagte sie wie ein Held mit Todesverachtung und wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht, »krümm dem Kind kein Haar. Sonst bring ich mich um.« Sugitani san, Sie kennen meine Frau aus meinen Briefen, Sie wissen, wie sie ist. Als sie damals Gugu auf dem Schlachtfeld der Geburtenkontrolle folgte, musste sie sich mit jeder Sorte von Menschen auseinandersetzen. Das hat sie gestählt. Sie hat den Charakter eines Helden und eines Räubers. Wenn sie in Wut gerät, ist ihr absolut alles zuzutrauen! Jetzt blieb mir nur eins: sie beschwichtigen, mit ehrlicher Liebe überzeugen und mit wirklich vernünftigen Argumenten bewegen. Und einen wirklich guten Weg finden, um dieses schwierige Problem in den Griff zu bekommen. Obwohl ich mich bei dem Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch eiskalt fühlte und deutlich spürte, dass er Unheil stiften würde, machte ich mir immer noch Hoffnungen, das Problem auf diese Weise lösen zu können. Ich bildete mir ein, dass Chen Augenbraue natürlich nur wegen des Geldes Leihmutter für anderer Leute Kinder war, und dass deswegen die Sache auch problemlos mit Geld zu regeln wäre. Das eigentliche Problem war nur, wie ich es zuwege bringen sollte, sie zu treffen. Nach dem Krankenhausbesuch bei Chen Nase hatte ich sie nicht wiedergesehen. Ihr schwarzes Kleid, der schwarze Schleier, das Geheimnis um ihr Woher und Wohin, signalisierten mir, dass in Nordost-Gaomi eine geheimnisvolle Welt existierte, zu der ich bisher keinen Zugang gehabt hatte. Diese Welt schienen Degenkämpfer zu bevölkern, Schamanen und schwarz Verschleierte. Mir fiel ein, dass ich Li Hand doch erst kürzlich für Nases Krankenhausrechnung fünftausend Yuan gebracht und ihn gebeten hatte, Augenbraue das Geld zu geben. Wenige Tage später gab er es mir zurück. Sie wolle es nicht annehmen, sagte er. Vielleicht hatte sie die Leihmutterschaft übernommen, um die erforderliche Summe für ihren Vater aufbringen zu können. Ich wurde ganz wirr im Kopf. Das war doch wirklich das allerl... Diese verdammte Xiao Shizi! Ich musste wohl oder übel Li Hand besuchen. Er war der einzige meiner Schulfreunde, dessen Hirn noch normal funktionierte. Gestern Vormittag saßen ich und Li Hand uns gegenüber in der kleinen Ecke am Fenster seines Restaurants »Don Quijote de la Mancha«. Wie die Ameisen liefen die Leute über den Tempelvorplatz, das Spiel Das mythische Tier Qilin bringt Kinder wurde wieder aufgeführt. Der falsche Sancho Panza zapfte uns zwei Glas Bier, servierte und zog sich zurück. Er lachte zwielichtig, als hätte er mich durchschaut und wüsste von meinem Geheimnis. Als ich Li Hand alles umständlich erzählte, weil ich eigentlich gar nicht mit der Wahrheit herauswollte, lachte er nur leichthin. »Du bist auch noch schadenfroh«, sagte ich böse. Aber er nahm sein Glas, prostete mir zu und trank einen großen Schluck: »Was sollte das für ein Schaden sein? Es ist ein frohes Ereignis! Ich beglückwünsche dich, alter Freund! Das hätte schon früher kommen sollen! Die große Freude in deinem Leben!« »Freu dich mal nicht auf meine Kosten! Obwohl ich aus dem Dienst ausgeschieden bin«, sagte ich sorgenvoll, »bin ich immer noch dem öffentlichen Dienst verpflichtet. Wie soll ich der Einheit beibringen, dass ich ein Kind in die Welt gesetzt habe?« Li Hand meinte: »Renner, das Parteibüro, die Einheit und was sonst noch alles sind doch Dinge, mit denen du dir die Freiheit beschneidest. Womit wir es jetzt aber zu tun haben, ist die Tatsache, dass deine Spermien mit einer Eizelle verschmolzen sind und nun ein neues Leben entstanden ist, das auf die Erde kommen wird. Die größte Freude im Leben eines jeden Menschen! Das Schönste, was einem passieren kann, ist doch zu sehen, wie ein Leben mit den eigenen Genen geboren wird. Denn mit dieser Geburt lebst du selber weiter! Dein Leben besteht fort!« »Das entscheidende Problem ist«, unterbrach ich ihn, »wo und wie ich den Antrag für das Melderegister stelle.« »Dieses kleine Problemchen wirft dich jetzt um?«, entgegnete er: »Es ist nicht mehr wie früher. Wenn du Geld hast, kannst du eigentlich so ziemlich alles hinkriegen. Solltest du keinen Melderegistereintrag bekommen, ist das Kind trotzdem ein Mensch, der unseren Erdball bewohnt und damit in den Genuss der Menschenrechte kommt.« »Schon gut, Li Hand, ich bin zu dir gekommen, um mein Problem aus der Welt zu schaffen, und du dröhnst mich mit diesem überflüssigen Geschwafel voll. Seit ich wieder in Gaomi bin, merke ich immer deutlicher, dass ihr euch alle so eine gedrechselte Sprache zugelegt habt, die Studierten und die nicht Studierten. Von wem habt ihr das?« Er lachte: »Wir benehmen uns wohl kultivierter als früher? In der modernen Gesellschaft spielt jeder eine Rolle, ob nun als Bühnenschauspieler, als Filmstar, Fernsehschauspieler, Pekingopernheld, Kabarettist oder Comedian, alle spielen Theater. Die Gesellschaft ist doch wie eine Bühne, oder etwa nicht?« »Hör auf mit dem Geschwätz«, sagte ich, »und hilf mir lieber! Du willst doch nicht, dass ich zu Chen Nase Schwiegervater sagen muss?« »Was ist daran verkehrt, wenn du Nase Schwiegervater nennst? Davon geht die Welt nicht unter, und stehen bleiben wird sie auch nicht. Ich sag dir was: Glaub nicht, die Leute kümmerten sich um deine Angelegenheiten. Denkst du, alle schauen dir zu? Das siehst du falsch. Die haben alle mit ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, dass sie nicht dazu kommen, sich um deinen Kram zu kümmern. Es hat mit den anderen Leuten eigentlich ziemlich wenig zu tun, wenn du mit Nases Tochter einen Sohn hast und mit einer anderen vielleicht noch eine Tochter. Selbst wenn die Klatschmäuler sich eine Weile darüber den Mund fusselig reden, ist das nicht wichtiger als vorbeiziehende Wolken, ein Wind und weg sind sie. Ausschlaggebend ist, dass es dein eigen Fleisch und Blut ist. Sobald es geboren ist, hast du gewonnen.« »Aber von Nases Tochter! Das ist ja fast wie Blutschande!« »Was für ein Unsinn! Du und Augenbraue, ihr habt keine verwandtschaftlichen Beziehungen. Wie sollte es da Inzest sein? Was das Alter angeht, brauchst du dir noch weniger Sorgen zu machen. Achtzigjährige heiraten Achtzehnjährige. Man erzählt darüber nette Anekdoten. Entscheidend ist, dass du Augenbraue nicht einmal berührt hast. Sie ist wie ein Werkzeug, wie gemietet. Jetzt mach dir nicht so viele Gedanken! Schieb die Sorgen fort, trainiere deinen Körper. Du willst deinen Sohn großziehen!« »Hör auf mit dem Unsinn!« Ich zeigte auf meine mit Herpesbläschen übersäten Lippen. »Du siehst doch, wie viel Stress mir die Sache macht. Ich fleh dich an, tu es bitte für deinen Schulkameraden und Freund und richte Augenbraue etwas von mir aus. Sag ihr, sie solle bitte sofort die Schwangerschaft abbrechen lassen, das Geld bekommt sie trotzdem und ich lege noch zehntausend obendrauf, als Ausgleich für die gesundheitlichen Nachteile einer Abtreibung. Wenn ihr das nicht genügt, dann eben zwanzigtausend.« »Wozu soll das gut sein? Wenn dir der Abbruch zwanzigtausend wert ist, kannst du das Geld doch auch nach der Geburt des Kindes für den Melderegistereintrag ausgeben, damit der Antrag besser ins Rollen kommt, und dann ein von allen respektierter Papa werden.« »Ich kann es meiner Einheit nicht beibringen.« »Du nimmst dich zu wichtig!«, sagte Hand spitz. »Die Einheit hat keine Zeit, um sich mit deinen Angelegenheiten zu befassen. Was glaubst du, wer du bist? Hast ein paar Schauspiele, Tragödien, Dramen fürs Theater geschrieben, die keiner liest. Du gehörst doch nicht zu den Royals? Wenn du einen Sohn bekommst, gibt es einen Nationalfeiertag, oder wie?« Die Tür öffnete sich, ein Rucksacktourist steckte vorsichtig den Kopf zur Tür herein und betrat das Lokal, der falsche Sancho Panza kugelte auf ihn zu und hieß ihn mit einem Lächeln willkommen. Ich flüsterte: »Nur dieses eine Mal bitte ich dich, tu mir diesen Gefallen!« Er verschränkte die Arme vor der Brust, schüttelte den Kopf und machte ein Da kann ich beim besten Willen nicht helfen-Gesicht. »Du mieser Scheißkerl! Du schaust seelenruhig zu, wie ich mir mein Grab schaufeln muss.« »Du verlangst von mir Beihilfe zum Mord!« Er flüsterte: »Ein sechs Monate alter Fötus! Kann durch die Bauchhaut schon Papa sagen!« »Hilfst du mir oder nicht?« »Du glaubst, ich könnte einfach mal so bei Augenbraue vorbeigehen?« »Aber zu Nase kannst du doch hingehen. Bestell ihm meine Worte. Damit er zu ihr geht und es ihr beibringt.« »Renner, Nase findest du ganz einfach. Er steht jeden Tag am Niangniang-Tempel und bettelt. Abends kauft er sich von dem erbettelten Geld Schnaps und nimmt im Vorbeigehen noch ein Brot von mir mit. Du kannst hier sitzen bleiben und auf ihn warten. Oder du gehst da rüber und wartest auf ihn. Aber ich hoffe sehr, dass du es ihm nicht sagst. Es wäre ohnehin vergeblich. Wenn du barmherzig bist, dann quälst du ihn nicht mit solchen Dingen. Die ganzen Jahre über habe ich die Erfahrung gemacht: Hast du heikle Probleme zu lösen, ist die gangbarste Methode immer: Ohne Erwartungshaltung zusehen, was sich tut, und mit dem Strom schwimmen.« »Gut! Dann lenke ich mein Boot stromabwärts.« »Die Monatsfeier für deinen Sohn richten wir hier aus, Renner. Das wird schön.« 10 Als ich wieder auf der Straße war, fühlte ich mich doch erleichtert. Es stimmte, es würde nur ein Kind geboren werden, nichts weiter würde geschehen. Die Sonne würde weiter scheinen, die Vögel weiter jubilieren, die Blumen weiter blühen, das Gras weiter sprießen und der Wind wie immer mit sanfter Brise wehen. Auf dem Tempelvorplatz war die Ehrengarde der Kinder schenkenden Niangniang gerade dabei, sich wie die Flügel bei einer Wildgans in zwei Reihen aufzustellen, während die Musiker und Opernsänger spielten und sangen, dass die Erde bebte. Viele Frauen, die sehnsüchtig auf ein Kind warteten, drängten nach vorn, weil sie hofften, diesmal das ersehnte Kind aus der Hand der Niangniang empfangen zu können. Diese Menschen besangen in höchsten Tönen die Fruchtbarkeit und das Gebären, sehnten sich nach nichts mehr, als nach einem Kind, feierten es überschwänglich; und ich war in Nöten, grämte mich, hatte vor Sorgen keine ruhige Minute mehr, weil jemand von mir schwanger war. Dafür gab es nur eine Erklärung: Ich hatte es hier nicht mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun, das Problem lag bei mir selbst. Sugitani san, ich entdeckte Nase und seinen Hund hinter der großen Säule rechts am Eingang zur Tempelhaupthalle. Diesmal war es ein großer Schäferhund mit schwarz geflecktem Fell, ein deutlich edlerer Hund als sein erster, der auf der Straße sein Leben für ihn gelassen hatte. Warum hatte ein wunderschöner Schäferhund von so edler Abstammung einen Pennbruder zum Gefährten gewählt? Das bleibt wohl ein Geheimnis. Aber wenn man’s sich recht überlegt, ist es nicht verwunderlich. Nordost-Gaomi ist wie alle jüngst erschlossenen Gebiete: Die eigenen Methoden sind mit den fremdländischen bis zur Unkenntlichkeit vermengt. Denn trägt der Fluss die gute Tonerde und den schlechten Sand nicht zusammen zum Meer? Schön und hässlich sind schwer zu unterscheiden, ob ja oder nein, richtig oder falsch, lässt sich nicht mehr trennen. Es gibt hier viele Neureiche, die der Mode hinterherjagen. Gerade reich geworden, wollen sie am liebsten ein Tigerbaby anschaffen und als Haustier halten; wenn sie pleite sind, möchten sie die eigene Frau verkaufen, um damit ihre Schulden zu tilgen. Auf der Straße sieht man viele streunende Hunde, Hunde die auf der Flucht sind, viele reinrassige, aus einer berühmten Zucht stammende, ungemein teure Tiere, die noch vor kurzem einer wohlhabenden Familie gehörten. Es ist die gleiche Situation wie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als nach dem Ausbruch der russischen Revolution viele vornehme weißrussische Damen, darunter zahlreiche Adlige, in Harbin sesshaft wurden, um wohl oder übel eine Bäckerei aufzumachen, sich als Bardame oder Prostituierte zu verdingen oder einen Kuli aus der Unterschicht zu heiraten. Deswegen kamen damals in Harbin etliche russisch-chinesische Mischlingsbabys zur Welt, und Nases tief liegende Augen und seine große Nase haben wahrscheinlich mit dieser Epoche zu tun. Dass der schwarz gescheckte Schäferhund zum Gefährten Chen Nases geworden ist, ist also durchaus verständlich, weil sie sich beide ähneln. Das ging mir durch den Kopf, als ich die beiden aus einiger Entfernung von der Seite beobachtete. Er hatte seine zwei Krücken neben sich aufgestellt, vor sich ein rotes Stück Stoff ausgebreitet, auf dem wohl etwas stand wie: Schwerbeschädigter bittet um eine kleine Spende. Von Zeit zu Zeit beugte sich eine mit Perlen und Edelsteinen behängte Dame zu ihm herab und legte einen Schein oder ein paar Münzen in die vor ihm stehende Blechschüssel. Jede Spende begleitete der gescheckte Hund, indem er den Kopf hob und mit sprechenden Augen und freundlichem Ton dreimal bellte. Nicht mehr und nicht weniger, genau dreimal »Wau«. Die Wohltäterin war gerührt, manch eine gab dann ein zweites Mal Geld. Ich war schon nicht mehr darauf aus, ihn mir für viel Geld zu kaufen, damit er Augenbraue zum Abort überredete. Ich ging zu ihm, weil ich neugierig geworden war und wissen wollte, welche Schriftzeichen er auf seinen roten Stofffetzen geschrieben hatte. Eine Schriftstellermarotte würde ich sagen. Die Schriftzeichen auf dem roten Stoff besagten: Ich bin Li Tieguai von den Acht Unsterblichen, der Li mit dem Eisenkrückstock, ich geleite den im Jahr 2005 Jadehund-Geborenen hinab in die Welt. Weil ich die Königinmutter des Westens in Gestalt des Eisenkrückstock-Li bin, schickt mich meine Tante Niangniang hierher, damit ich um Almosen bitte, damit ihr durch Wohltaten positive Ursachen setzen könnt. Eine Gabe soll euch mit einem Kind in der Wiege gelohnt sein, das einst hoch zu Ross der beste Kandidat bei den Staatsprüfungen sein wird. Ich glaube, dass Wang Leber sich die Verse auf dem Stofflappen ausgedacht, aber Chen Nase sie geschrieben hat. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, seine beiden Beine lugten wie zwei braun gewordene Schlangenauberginen daraus hervor. Mir fiel eine Geschichte ein, die Mutter uns immer erzählt hatte: »Als Eisenkrücken-Li zum Unsterblichen geworden war, hatten sie zu Hause kein Holz zum Feuermachen. Seine Frau fragte: Womit soll ich Feuer machen? Er sagte: Nimm mein Bein zum Feuermachen. Dann streckte er ein Bein in den Ofen und entfachte damit das Feuer. Das Feuer im Ofen prasselte, der Dampf entwich aus dem Topf und der Reis im Topf wurde gar. Da kam seine Schwägerin zur Tür herein, erschrak heftig und rief: O weh, Bruder, pass auf! Dein Bein wird ganz braun! So kam es, dass er ganz braun verbrannte Beine hat.« Mutter ermahnte uns jedes Mal, wenn sie mit dieser Geschichte fertig war: »Wenn ihr etwas Göttliches, Zaubermächtiges seht, seid still und sagt keinen Ton. Ihr dürft nicht laut werden und kein Aufhebens davon machen.« Chen Nase trug eine rostrote Daunenfederjacke, die von Ölspritzern fleckig war. Die Spritzer funkelten im Sonnenlicht, so dass es aussah, als trüge er eine Rüstung. Es war Mai, laue Lüfte brachten die Wärme zurück. Die Weizenfelder wurden jetzt gedüngt und bewässert. Man hörte von fern das Fröschequaken aus dem Teich und von nah das Quaken aus der Froschfarm, die Paarungszeit hatte begonnen. Die jungen Mädchen trugen wieder dünne Seidenkleider und man konnte heimliche Blicke auf ihre Körper werfen. Nur Chen Nase war immer noch dick angezogen. Wenn ich ihn anschaute, wurde mir heiß, er jedoch saß zusammengekauert da und zitterte. Sein Gesicht hatte einen dunklen Kupferton, seine Glatze glänzte im Sonnenlicht wie poliert. Ich verstand nicht, warum er einen schmutzigen Mundschutz trug. Vielleicht um seine auffällige Nase zu verstecken? Jetzt hatten sich unsere Blicke getroffen. Aus dem Augenwinkel hatte er mir einen Blick zugeworfen und war meinem ängstlichen Blick begegnet. Sofort wich ich ihm aus und betrachtete seinen Hund. Sein Hund beobachtete mich auch, mit dem gleichen abweisenden, verschwommenen Blick wie sein Herr. An seiner linken Vorderpfote fehlte ein Stück, als wäre es von einer scharfen Maschine abgetrennt worden. Ich hatte begriffen, die beiden waren Leidensgenossen. Ich hatte auch begriffen, dass ich ihm lediglich Geld in seinen Napf legen konnte und mich dann schnell entfernen musste. Ich hatte nur einen Hundert-Yuan-Schein bei mir, davon wollte ich zu Mittag und zu Abend essen gehen. Aber ich tat sie ihm, ohne zu zögern, in seinen Blechnapf. Er reagierte nicht, der Hund aber bellte wie gewohnt seine drei Waus. Seufzend ging ich weg. Ich war an die zwanzig Schritte gegangen, da konnte ich es mir nicht verkneifen, zurückzublicken. Wie würde er mit der großen Banknote umgehen? In seinem Napf waren fast nur Ein-Yuan-Scheine und Münzen und alle waren schon abgegriffen, mein großer, rosafarbener Schein aber stach daraus sehr hervor. Ich dachte bei mir: Keiner gibt ihm so freigiebig derart viel Geld! Ich war mir sicher, dass er dem frischen Schein besondere Beachtung schenken würde. Sugitani san, ich muss schon sagen, ich war genau wie der, über den das berühmte Wort sagt: Mit dem Herzen eines gemeinen Schurken die Gesinnung eines Edlen prüfen. Was musste ich sehen? War ich wütend! Ein vielleicht fünfzehnjähriger dunkelhäutiger, dicklicher Junge sprang hinter der Säule hervor, bückte sich nach der Blechschale, griff sich meine Banknote und war blitzschnell im Gedränge untergetaucht. Ehe ich es recht begriffen hatte, war er schon zwanzig Meter weiter die kleine Gasse neben dem Tempel Richtung Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik entlanggerannt. Der Junge hatte geschielt. Er kam mir bekannt vor, irgendwo war er mir bestimmt schon mal begegnet. Da fiel es mir wieder ein. Es gab keinen Zweifel. Im Jahr unserer Rückkehr, als diese Klinik eröffnet wurde, hatte ein kleiner Junge meiner Tante die weiß eingepackte Pappschachtel mit dem dünnen Frosch in die Hand gedrückt Meine Tante war damals vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Chen Nase hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Sein Hund hatte den Jungen zwar angeknurrt und dabei den Kopf gehoben und zu seinem Herrn geschaut. Aber dann hatte er den Kopf auf die Pfoten gelegt und war still gewesen. Alles war wieder friedlich. Ich war innerlich aufgewühlt, wegen Nase, wegen seines Hundes und auch meinetwegen. Denn es war schließlich mein Geld gewesen. Ich erzählte die Sache ein paar Passanten vor dem Tempel, um mir Luft zu machen. Aber jeder hatte mit sich selbst zu tun. Der Diebstahl hatte eben stattgefunden, wie ein springender Funke kurz geblinkt und keine Spuren hinterlassen. Dieser Lump, der hier in Nordost-Gaomi unsere ländliche Unbescholtenheit kaputtmachte, würde mir nicht ungeschoren davonkommen. Wessen missratene Nachkommenschaft war das? Frauen drangsalieren und Menschen mit Handicap ausrauben! Das waren Untaten, die den Himmel beleidigten! Ich hatte auch sofort erkannt, wie geübt der Junge war. Er hatte sicher nicht zum ersten Mal aus Nases Bettelschale gestohlen. Ich rannte los in die Richtung, in die er verschwunden war. Da vorne war er! Fünfzig Meter von mir entfernt. Er rannte nicht mehr. Er machte einen Luftsprung und riss einen Zweig von der Trauerweide ab, einen mit gänsekükengelben, zarten Blättchen, mit dem er durch die Luft hieb und auf den Boden schlug. Er schaute sich gar nicht um. Er wusste ja, dass die beiden Lahmen, Mensch wie Hund, ihn nicht verfolgen würden. Na warte, Freundchen, dich schnapp ich mir! Er bog in den großen Bauernmarkt am Fluss ein. Die Überdachungen der Marktstände waren aus blass türkisfarbenem, durchscheinendem PVC. Unter den Dächern war das Licht gedämpft, und die Leute in den Gängen zwischen den Ständen bewegten sich wie Fische im blaugrünen Wasser. Das Angebot war überreichlich; in vielen, vielen Reihen gab es einen Stand neben dem anderen. Der Markt war fast wie eine große Markthalle. Die Gemüsestände boten verschiedenste Sorten an, deren Namen ich nicht einmal kenne, obwohl ich aus einer Bauernfamilie stamme. Wenn ich an die Mangelwirtschaft von vor dreißig Jahren zurückdenke, entfährt mir ein Stoßseufzer, so froh bin ich, dass es damit vorbei ist. Der Junge kannte hier jeden Winkel und kam rasch vorwärts. Er rannte ungehindert zu den Fischständen. Ich beschleunigte meinen Schritt, um ihm auf den Fersen zu bleiben, und konnte gleichzeitig meinen Blick von den Fischen, Schildkröten, Shrimps und Krebsen in den Auslagen der Stände zu beiden Seiten des Gangs nicht losreißen. Die wie kleine Ferkel in einer Reihe liegenden, silbern glänzenden Lachse waren aus Russland importiert. Die großen Vogelspinnen ähnelnden Wollhandkrabben, die ihre Krebsscheren weit aufgesperrt hatten, kamen aus Hokkaido. Es gab südamerikanische Hummer, australische Abalone und natürlich noch Unmengen von einheimischen Schwarzen Graskarpfen, Seebrassen, Gelben Adlerfischen, Goldenen Dorschbarschen. Das kräftig orangefarbene Fleisch der bereits filetierten Lachse lag auf weißem zerstoßenen Eis. Von den Fischbratereien duftete es wie immer köstlich nach gebratenen Meerestieren. Der Junge kaufte an einem Stand, der gegrillten Tintenfisch verkaufte, einen Spieß Tintenfischfleisch und zückte meinen großen Schein, um damit zu bezahlen. Er bekam einen Schwung Scheine als Wechselgeld zurück. Dann reckte er den Hals, um die Tintenfischstücke in seinen Mund zu befördern. Er glich dabei dem Schwertschlucker auf dem Vorplatz des Niangniang-Tempels. Als er gewandt einen von dunkelroter Soße triefenden Tintenfischtentakel vom Spieß herunter schnappte, machte ich einen Satz auf ihn zu und packte ihn von hinten im Nacken. Ich rief laut: »Wo rennst du hin, Langfinger?« Er ging sofort in die Knie, befreite sich aus meinem Griff. Ich packte ihn flink am Handgelenk, aber er fuchtelte sofort wild mit dem Arm und ging mit dem vor Soße triefenden und mit Tintenfisch bestückten Metallspieß auf mich los. Ich zog meine Hand zurück. Er wand sich wie ein Schlammpeitzger, wie ein Aal und war fort. Ich preschte vor und bekam ihn an der Schulter zu fassen. Er warf sich mit Wucht herum, sein lumpiges T-Shirt war ratsch! entzwei und gab den Blick frei auf seinen öligen, dunklen Körper. Der stramme Junge mit entblößtem Oberkörper wie Makrelenhaut weinte laut. Seine Augen blieben trocken, aber er stieß ein lautes Wolfsgeheul aus, wobei er meinen Bauch mit dem Tintenfischspieß bajonettierte. Ich versuchte auszuweichen, schaffte es nicht, kriegte den Spieß in die Schulter. Zuerst tat es nicht weh. Aber dann spürte ich plötzlich einen scharfen Schmerz, dunkles Blut floss in Strömen aus der Wunde. Ich presste meine rechte Hand auf die Verletzung und schrie laut: »Ein Dieb! Er hat einen Schwerbeschädigten beklaut!« Der Langfinger brüllte wie ein Schwein, das abgestochen wird, und stürzte sich auf mich. Ein grauenvoller Blick, Sugitani san, ich hatte entsetzliche Angst und wich zurück, um irgendwo in Deckung zu gehen. Ich schrie ihn an, er stach zu und brüllte: »Du musst mir mein Hemd ersetzen! Du ersetzt mir mein Hemd!« Er füllte sein Geschrei mit zahllosen Kraftausdrücken, die ich niemals niederschreiben könnte. Sugitani san, dass meine Heimat Gaomi solche Nachkommenschaft hervorbringt, dafür schäme ich mich aufrichtig. Im Eifer des Gefechts griff ich mir eine Holztafel, auf der ein Fischhändler Angaben über Fischsorten, Herkunftsort und Preise vermerkt hatte, die ich als Schild benutzte, um die Angriffe des Diebs abzuwehren. Seine Spießattacken wurden immer brutaler, jeder Stoß war voller Mordlust. Auf mein »Tafelschild« gingen die Stiche in schneller Folge nieder, meine Rechte war blutüberströmt, weil ich sie nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatte. Sugitani san, mit der Zeit verlor ich die Konzentration. In meinem Kopf herrschte Chaos, ich war nur noch damit beschäftigt, zurück und seitlich auszuweichen. Oft stolperte ich, weil ich mit der Ferse einen Fischkorb traf oder an ein Brett schlug; fast wäre ich auf den Kopf gefallen. Wäre ich tatsächlich gestürzt, Sugitani san, hätte ich Ihnen jetzt nicht mehr schreiben können. Wenn ich wirklich der Länge nach hingeschlagen wäre, hätte mich dieser Junge, der wie ein Leopard kämpfte, zweifellos erstochen, oder ich wäre lebensbedrohlich verletzt ins Krankenhaus auf die Unfallstation gekommen. Ich muss ja zugeben, Sugitani san, dass ich an jenem Tag völlig verängstigt war, ich hatte richtige Panik. Meine Charakterschwäche kam deutlich zum Vorschein. Verzweifelt hielt ich nach beiden Seiten Ausschau, weil ich hoffte, dass mir die Fischverkäufer helfen, dass sie mich aus der Gefahr befreien und retten würden, aber sie schauten nur müßig zu, die Hände in den Hosentaschen. Andere machten sich einen Spaß, feuerten mich an und klatschten in die Hände. Sugitani san, ich war nicht mehr als ein Stück Müll, fürchtete den Tod und klammerte mich ans Leben. Ich verspürte absolut keinen Kampfgeist. Da lasse ich mich doch von einem nicht mal Fünfzehnjährigen so in die Enge treiben, dass ich nur noch weg will, höre mit einem Ohr immerfort mein eigenes lautes Weinen und Flehen, wie das Jaulen eines Hundes, der eine harte Tracht Prügel bekommt. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!«, schrie ich in einem fort. Der Junge hatte längst aufgehört zu weinen und zu brüllen – er hatte sowieso nicht wirklich geweint –, er stierte mich nur mit seinen Kulleraugen an. Man sah fast kein Weiß neben seinen Pupillen, denn sie waren wie zwei fette Kaulquappen. Er biss sich auf die Unterlippe und musterte mich, blieb einen Augenblick stehen und trieb mich dann wieder vor sich her. »Zu Hilfe!«, schrie ich und hielt meinen Schild hoch. Mein Arm war schon wieder getroffen worden. Das Blut lief in Strömen. Er preschte erneut auf mich zu, startete diese Angriffe wieder und wieder, und ich schrie »Zu Hilfe!« und wich erbärmlich feige zurück. Bis aus dem Markt hinaus. Bis in die Sonne. Ich warf die Tafel fort und rannte, was ich konnte. Während ich rannte, schrie ich weiter um Hilfe. Sugitani san, meine Erbärmlichkeit ist mir so peinlich, dass ich sie Ihnen gar nicht schildern mag. Aber ich könnte den Vorfall außer Ihnen keinem sonst erzählen. Ich rannte, ohne auf den Weg zu achten. Hörte von beiden Seiten so lautes Menschengeschrei, dass ich meinte, taub zu werden. Ich rannte in die kleine Straße mit den Garküchen. Auf einer Straßenseite befand sich ein kleines Restaurant. Davor parkte eine silbergraue Limousine. Ich sah ein schwarzes Ladenschild vor dem Restaurant hängen, auf dem zwei seltsame Zeichen in roter Schrift geschrieben waren: 雌雉 »Fasan.« Vor dem Restaurant saßen zwei Frauen, eine große, korpulente und eine kleine, zierliche, die erschreckt von ihren Stühlen hochfuhren. Sie waren meine letzte Rettung, und ich stürzte auf sie zu, stolperte und schlug vornüber mit dem Gesicht auf die Straße. Meine Lippen platzten auf und zwischen den Schneidezähnen lief das Blut hinunter. Ich war über eine Eisenkette gestolpert, die zwischen zwei Pfosten gespannt war. Einen der Pfosten hatte ich dabei umgestoßen. Die beiden Frauen beugten sich sofort über mich, zogen mich an den Armen hoch und halfen mir aufzustehen. Ich spürte, dass sie mir ungezählte Backpfeifen gaben, dass ich überall von ihrer Spucke getroffen wurde. Der Junge, der hinter mir her gewesen war, war mir nicht gefolgt. Ich hatte Glück, Sugitani san, aber ich hatte trotzdem Pech. Denn die beiden Frauen vom Restaurant »Fasan« ließen mich jetzt nicht mehr weg. Sie beharrten darauf, dass der Eisenpfosten, den ich umgeworfen hatte, auf ihr Auto gefallen sei und es verbeult habe. Sugitani san, ich habe gesehen, dass es an dem Auto tatsächlich einen stecknadelkopfgroßen Kratzer gab, besser gesagt einen weißen Punkt, der aber nie und nimmer durch den Kettenpfosten entstanden sein konnte. Sie ließen mich nicht gehen und beschimpften mich auf schmähliche Art und Weise, so dass sich um uns in kürzester Zeit viele Gaffer versammelt hatten. Besonders die kleinere der beiden war brutal und glich darin dem Jungen, der mich mit dem Spieß attackiert hatte. Sie rammte mir ihren Finger mehrmals so ins Gesicht, als wolle sie mich blenden. Jede meiner Erklärungen ging in einer lautstarken Schmährede von zwanzig Sätzen unter. Teurer Freund, ich kniete mit beiden Händen vor dem Gesicht am Boden und war so verzweifelt wie niemals zuvor. Der Grund, warum ich und Kleiner Löwe uns entschlossen hatten, Peking zu verlassen und wieder nach Hause zu ziehen, war nämlich, dass uns in Peking auf der Huguo-Tempel-Straße etwas Ähnliches zugestoßen war. Es hatte sich auch vor einem Restaurant ereignet. Es liegt gegenüber dem Pekinger Volkstheater, und sein Name ist ganz ähnlich, nämlich »Wildfasan«. Als wir uns die Plakate des Theaters angeschaut hatten, waren wir auch über eine Kette gestolpert, die zwischen zwei rotweiß gestrichenen Pfosten aufgehängt gewesen war. Der Pfosten war genauso und ebenfalls deutlich entfernt vom Heck eines weißen Autos umgefallen. Aber eines der beiden vor dem Restaurant »Wildfasan« sitzenden jungen Mädchen mit blond gefärbtem Haar, einem Mäusegesicht und Lippen so schmal wie Messers Schneide war auf uns zugestürzt, weil es an dem Pkw einen stecknadelkopfgroßen weißen Punkt entdeckt hatte, der angeblich durch den umgefallenen Kettenpfosten entstanden war. Es hatte uns mit Händen und Füßen in einer abfälligen Art und Weise beschimpft, die mit widerlichen Kraftausdrücken im Pekinger Dialekt gespickt war. Sie sei schließlich in Peking groß geworden und habe schon alle möglichen Leute erlebt, aber ... »Ihr Bauerntölpel vom Land, ihr Weichschildkröten aus euren dreckigen Tümpeln, ihr steckt doch mit dem Kopf alle Tage im Dreck. Was habt ihr in unserer Hauptstadt zu suchen? Ihr blamiert uns Chinesen hier. Wir schämen uns für euch!« Das zweite, korpulente, streng nach Hämorridensalbe riechende größere der beiden Mädchen war vorgestürzt und hatte mir kurzum einen Faustschlag auf die Nase verpasst. Die im Rund um uns stehenden Gaffer, die Glatzköpfe und die barbäuchigen Alten hatten sofort begonnen, die beiden Frauen anzufeuern, sie spielten bei diesem Theater den Chor. Die alteingesessenen Pekinger hielten wie Pech und Schwefel zusammen, prahlten mit ihrem Status und ihrer großstädtischen Herkunft und nötigten uns, zu bezahlen und um Verzeihung zu bitten. Sugitani san, ich Weichei habe bezahlt und mich entschuldigt. Lieber Freund, wieder zu Hause haben wir beide wie die Schlosshunde geweint und beschlossen, Peking den Rücken zu kehren und wieder nach Gaomi zu ziehen. Weil wir gedacht haben, hier in Gaomi ist unsere Heimat und hier drangsaliert uns keiner. Wer hätte annehmen können, dass diese zwei Frauen hier an Boshaftigkeit und Brutalität den Pekingerinnen in nichts nachstanden? Ich kann nicht begreifen, lieber Freund, wie Menschen es fertigbringen, so unglaublich brutal zu sein, Sugitani san. Und, o Schreck! Nun war auch noch dieser leopardengleiche Junge wieder im Anmarsch. Die Tintenfischstücke hatte er inzwischen aufgegessen. Wenn er jetzt mit dem Spieß zustach, würde er noch schärfer und tiefer stechen. Ich wusste plötzlich, dass er der Sohn der Kleineren und dass die Korpulente seine Tante war. Nackter Überlebenswille zwang mich auf die Beine. Ich wollte weg. Wegrennen war ja schon immer meine Stärke gewesen. Die langen Jahre des Lebens im Überfluss hatten mich vergessen lassen, dass ich ein wirklich guter Rennläufer war. In der lebensbedrohlichen Lage, in der ich jetzt steckte, konnte mein läuferisches Talent mir wieder von Nutzen sein. Die Frau wollte mich noch aufhalten, der Junge schrie schon aus Leibeskräften, da brüllte ich los wie ein Hund, den man in die Enge getrieben hat. Mein Anblick, der ganze Körper blutüberströmt, mit eingeschlagenen Zähnen und blutendem Mund, hatte sie wohl doch erschreckt – ich bin mir sicher, denn in dem Moment, als ich aufschrie, sah ich ihre versteinerten Gesichter. Wenn Frauen einen solchen Gesichtsausdruck haben, werde ich immer weich und mein Herz fließt über vor Mitleid. Ich machte mir ihre Bestürzung zunutze und sprang mit einem Riesensatz über den schmalen Spalt zwischen zwei Autos hinweg. Und jetzt lauf, Wan Fuß, Wan Renner! – der fünfundfünfzigjährige Kleine Renner hatte sein altes Tempo wiedererlangt und stob davon. Ich rannte wie der Blitz durch die kleine Straße mit ihrem Duft nach Brathühnchen, Fisch, gebratenem Hammelfleisch und vielen anderen mir unbekannten Gerüchen. Ich spürte, wie meine Beine leicht wie Heu wurden, beim Auftreten schien der Boden unter mir hochzuschnellen und dem nachfolgenden Schritt noch mehr Kraft mitzugeben. Ich war wie ein Reh, wie eine Antilope, wie Superman, der auf dem Mond gelandet und schwerelos wie eine Schwalbe ist. Ich spürte, dass ich ein Ross war, ein edler Achal-Tekkiner, ein Himmelspferd, ein Blüter, der mit seinen Hufen fliegende Schwalben zu treffen vermag, unbeschwert, losgelassen. Dieses Achal-Tekkiner-Gefühl war allerdings von kurzer Dauer, nur ein kurzes Traumbild. In Wirklichkeit keuchte ich schwer, ich schnaufte, als müsste ich Feuer spucken, mein Herz bummerte bis in mein Trommelfell, die Brust wollte mir zerreißen, der Kopf zerspringen, vor den Augen wurde mir sekundenweise schwarz, und meine Adern waren so prall, dass sie dem Druck fast nicht standhielten. Der Überlebenstrieb holte aus meinem Körper kurz vor dem Kollaps die letzten Kraftreserven heraus; es war ein Überlebenskampf, der seinem Namen alle Ehre machte. Ich hörte dicht neben mir ein donnergleiches Brüllen. Von vorn kam ein vollbärtiger junger Mann im schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug , er hatte grünblaue Augen wie zwei Glühwürmchen, die nachts in den Bergen die Straße überqueren. Gerade, als die schneeweißen Finger seiner Hand mich festhalten wollten, spie ich einen Mundvoll mit Blut vermischte Spucke aus, der sein gepflegtes Gesicht augenblicklich verfärbte. Ich hörte seinen Schmerzensschrei, dann hielt er die Hände vors Gesicht und ging in die Knie. Sugitani san, es tut mir aufrichtig leid, ich weiß, dass sein Versuch mich aufzuhalten, sicher eine ehrenvolle Tat war und von seiner Tugend zeugt. Ich dagegen verhielt mich wie ein Tintenfisch, wenn er in Gefahr ist. Dass ich ihn beschmutzte, seine Augen mit meinem Auswurf verletzte, ist mir zutiefst unangenehm. Wäre ich ein wirklicher Ehrenmann, so hätte ich doch das Rückgrat besessen, jedes spitze Messer hinter mir zu ignorieren; ich hätte ruhig angehalten und mich bei ihm entschuldigt. Aber ich bin kein Ehrenmann, Sugitani san, ich bin des Umgangs mit Ihnen nicht würdig. Am Straßenrand standen noch ein paar edle, biedere Naturen, die mich anriefen, aber nicht auf mich zukamen. Ihnen war wohl der Mut vergangen, als sie mich Blut spucken sahen. Sie warfen ihre halb ausgetrunkenen Coca-Cola-Dosen auf mich, das sojasoßenfarbene amerikanische Kult-Getränk schäumte golden, ich schüttelte es ab ... Teurer Freund, alles, was geschieht, geht irgendwann zu Ende, wie gut oder wie schlimm die Sache auch sein mag, sie wird einen Ausgang haben. Diese Verfolgungsjagd, die sich in ihr Gegenteil verkehrt hatte und zur Flucht auf Leben und Tod geworden war, fand ihr Ende, als ich schließlich auch den allerletzten Funken Kraft aufgebraucht hatte und bewusstlos vor dem Eingang der Chinesisch-Amerikanischen Mutter-und-Kind-Klinik zusammenbrach. Im Moment meines Zusammenbruchs kam ein wie Lapislazuli glitzernder, blauer Ferrari von der zwischen Bäumen im Grünen gelegenen Klinik und verließ durch den von Blumenduft geschwängerten Garten das Krankenhausgelände. Mein Kollaps hatte bei den Leuten im Auto zweifellos einen sehr unschönen Eindruck hinterlassen, blutüberströmt am ganzen Körper, wie ich war, glich ich einem vom Himmel gefallenen Hundekadaver. Zuerst waren sie wohl erschrocken, dann dachten sie daran, dass so ein Vorfall Unglück bringen könnte. Je reicher die Leute, desto abergläubischer sind sie, das weiß ich. Sie glauben mehr noch als die Armen an das Schicksal, hängen viel mehr am Leben als jene. Das ist normal. Die Armen geben sich immer schnell auf, nach dem Motto: Einen angestoßenen Krug kann man auch gleich fortwerfen, er ist wertlos. Die Reichen dagegen hüten ihren Wohlstand wie eine nicht mit Gold aufzuwiegende blauweiße Porzellanvase. Wenn ich da plötzlich vor ihrem Auto bewusstlos umfalle, erschrickt der Ferrari wie ein kleines Füllen, steigt und wirbelt mit den kleinen Vorderhufen in der Luft und lässt mit großen Augen sein ängstliches Wiehern hören. Es tut mir hundertprozentig leid. Wirklich sehr leid. Mein Körper zuckte, ich wollte nach vorn kriechen, für den Ferrari den Weg frei machen. Aber wie ein präpariertes Insekt, das am Schwanz mit einer Nadel aufgespießt ist, konnte ich mich nicht fortbewegen. Ich musste an meine Kinderjahre zurückdenken, ja sogar noch als junge Männer hatten wir dieses böse Spiel gespielt: Wir hatten dunkle oder grüne Motten gefangen, sie am Hinterteil durchbohrt und an die Wand gepinnt. Hatten wir keine Stecknadeln, suchten wir uns Dornen. Dann beobachteten wir ihren Todeskampf, wie sie versuchten, vom Fleck zu kommen, wie sie kämpften und ihr Körper ihnen nicht mehr gehorchte. Ich hatte damals keine Spur von Mitleid, es hatte mir Spaß gemacht, ihnen zuzuschauen. Verglichen mit dem Insekt bin ich riesenhaft, so riesig, dass es mich nicht vollständig erfassen kann. Für einen kleinen Käfer bin ich eine geheime Macht, die alle Nöte und Katastrophen verursacht. Er ahnt nichts von meiner mörderischen, barbarischen Hand, er spürt nur die Stecknadel, den Dorn. Jetzt habe ich am eigenen Leib die gleiche Not erfahren, wie sie die von mir ermordeten Käfer erlitten. Ihr Käfer und Fliegen und Motten, es tut mir so leid, wirklich leid. I am sorry! Ich sah, wie ein Mann hinter dem Steuerrad die Hupe betätigte. Einen angenehmen Ton hatte sie. Das hieß doch, dass der Fahrer ein kultivierter, geduldiger Mensch sein musste; kein gewöhnlicher Neureicher. Bei einem solchen würde sich die Hupe wie Fliegeralarm anhören. Der würde die Autoscheibe runterkurbeln, den Kopf rausstrecken und mir eine Salve schmutziger Schimpfwörter entgegenfeuern. Für diesen Ferrari fahrenden Gutmenschen wollte ich gern schnellstmöglich vorwärts kriechen, ihm den Weg freimachen, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Der Fahrer hatte nun keine Geduld mehr und stieg aus. Er trug mandelfarbene Freizeitkleidung mit einem orangefarbenen Karomuster an Kragen und Manschetten. Plötzlich schoss mir eine Erinnerung durch den Kopf: Als ich noch in Peking gearbeitet habe, hat mir einmal ein Kenner internationaler Marken erzählt, wie der chinesische Name dieser Marke heißt. Aber ich habe ihn vergessen. Ich kann mir die Namen bekannter Marken nicht merken. Man könnte sagen, dass ich dagegen eine innere Abwehr habe. Es ist die Verachtung der Minderwertigen für die Leute aus der Oberschicht. Im Grunde nur eine Art und Weise, seinen Neid zum Ausdruck zu bringen. Wie wenn man die gute chinesische Hefenudel vor dem Brot lobt und die Sojabohnenpaste vor dem Käse. Der Mann beschimpfte mich nicht, er trat auch nicht nach mir, er befahl nur dem Pförtner am Hauptausgang: »Schafft ihn schnell zur Seite.« Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, musste er blinzeln, streckte den Hals, hielt die Nase in die Sonne, um sodann einen lauten Nieser zu tun. Längst Vergangenes bestürmte mich, wieder hatte ich ihn an seiner Art zu niesen erkannt. Unterlippe, mein Mitschüler aus der Grundschule, der ein hoher Kader gewesen war und heute ein Vermögen besaß. Angeblich hatte er als Schwarzhändler Kohlen verschoben, zu einer Zeit, als der Schwarzhandel mit Kohlen blühte. Er hatte die erste Fuhre Geld damit eingefahren, weil er durch seine politische Arbeit als Kader gute Beziehungen besaß. Dann hatte er Geld gescheffelt, bis weit mehr als eine Milliarde Yuan zusammengekommen waren. Ich habe einmal ein Interview mit ihm gelesen. Darin berichtete er unter anderem davon, dass wir als kleine Kinder Kohlen gegessen hätten. Ich weiß noch sehr genau, dass er selbst keine Kohlen gegessen hat. Er hat uns dabei zugesehen, wie wir Kohlen aßen, und die Kohlen in seiner Hand nur intensiv betrachtet. Lieber Freund, wie finden Sie das? Ist das peinlich, so auf der Wahrheit herumzureiten? Dagegen ist bei mir wohl kein Kraut gewachsen. Ein Mitarbeiter des Wachdienstes schaffte es alleine nicht, mich wegzutragen. Zwei Leute mussten mir unter die Arme greifen, die mich im Grunde nicht unfreundlich unter der großen Reklametafel rechts vom Hauptkliniktor ablegten. Sie richteten mich etwas auf und lehnten mich an die Wand. Ich sah, wie mein Mitschüler Unterlippe in seinen Ferrari stieg und ihn vorsichtig über die Bremsschwelle an der Ausfahrt lenkte. Wie nicht anders zu erwarten, saß Xiaobi mit ihrem schulterlangen Haar und dem hübschen Gesicht im Fond des Wagens. Auf ihrem Arm hielt sie einen rosigen Säugling. Die Leute, die mich gejagt hatten, waren nun auch zur Stelle und umringten mich. Die beiden Frauen, der Junge, der junge Mann, den ich mit meinem dunklen Blut bespuckt hatte, und auch die Männer, die mich mit der Cola beworfen hatten. Sie standen da und schauten mich an. Vor mir setzte sich aus zig Gesichtern ein zwielichtiges Gemälde zusammen. Der Junge wollte mich erneut mit seinem Tintenfischspieß stechen, wurde aber von der etwas jüngeren Frau zurückgehalten. Einer, der ein bisschen wie ein Professor aussah, streckte seinen langen, schlanken Finger heraus und hielt ihn mir unter die Nase. Ich wusste, dass er prüfte, ob ich noch atmete. Ich hielt die Luft an. Das riet mir mein Selbsterhaltungstrieb. Als ich noch ein Kind war, hatte ein Großvater aus unserm Dorf, der aus der Mandschurei zurückgekehrt war, erzählt, dass man sich am besten flach auf den Boden legt, den Atem anhält und sich tot stellt, wenn man im Wald auf einen Tiger oder Bären trifft. Die Raubtiere seien Helden, die sich in der Regel entsprechend verhielten, und ein Held würde niemanden töten, der um Gnade wimmert, und Raubtiere fräßen auch kein Aas. Mein Trick zeigte enorme Wirkung. Der Professor hielt verstört inne. Er gab keinen Ton von sich und machte auf dem Absatz kehrt. Seine Reaktion war wohl die, dass er den Schaulustigen, die mich umringten, mitteilte: »Der ist bereits tot.« Auch wenn ich in seinen Augen wahrscheinlich ein Dieb war, der anderer Leute Hab und Gut geraubt hatte, geben die Gesetze unseres Staates auch Bürgern mit besonderem Gerechtigkeitssinn nicht das Recht, auf offener Straße und alle Mann ran einen Strauchdieb zu exekutieren. Deswegen entfernten sich alle hastig und Hals über Kopf, um ja nicht noch mehr Wirbel zu verursachen. Auch die beiden Frauen griffen sich den Jungen und machten sich eilig aus dem Staub. Ich atmete tief durch und ließ die Luft bedächtig wieder ausströmen; hatte ich doch gerade die Erfahrung gemacht, welche Ehrfurcht der Tod genießt und wie respekteinflößend ein Leichnam ist. Die beiden Männer vom Wachdienst hatten vermutlich die Polizei gerufen, denn sie kamen herbei, um mit den Beamten zu reden, als das Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn herangerauscht kam. Drei Polizisten stellten sich vor mir auf und befragten mich. Sie waren blutjung, ihre gelben Zähne verrieten, dass sie aus unserem Nordost-Gaomi stammten. Ich hatte sofort dieses taube Gefühl in der Nase und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Dann heulte ich vor ihnen wie ein kleines Kind, das draußen ungerecht und gemein behandelt worden ist, nach Hause kommt und es seinen Eltern erzählt. Einer der drei Polizisten mit einem kleinen Grützbeutel zwischen den Augenbrauen befragte mich etwas interessierter. Die beiden, die noch mitgekommen waren, beguckten sich nur die Reklametafel der Klinik. Als ich zu Ende gesprochen hatte, sagte der Augenbrauengrützbeutel: »Wie können wir sicher sein, dass du uns die Wahrheit erzählst?« Ich sagte sofort: »Ihr könnt Chen Nase fragen.« Der lange Spund unter den Dreien wandte seinen Blick von der Klinikreklame nicht ab, sagte aber zu mir: »Wie fühlst du dich? Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen?« Ich bewegte meine Beine. Sie taten wieder ihren Dienst. Warf einen Blick auf die Verletzungen an meinen Armen. Sie bluteten nicht mehr. Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Wenn es nicht zu viele Umstände bereitet, fahren wir auf die Wache und nehmen es dort zu Protokoll. Wenn du Unannehmlichkeiten fürchtest, dann fährst du jetzt nach Haus und erholst dich.« Ich erwiderte: »Ach, dem Vorfall wird jetzt nicht auf den Grund gegangen? Die Sache wird als erledigt betrachtet?« Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Gevatter, wir können dem Fall natürlich nachgehen, aber du musst uns Beweise und Zeugen liefern. Sollen etwa Chen Nase und der Fischverkäufer als Zeugen aussagen? Kannst du garantieren, dass die beiden Frauen mit dem Jungen nicht eine falsche Gegenbeschuldigung vorbringen? Der Junge ist der Neffe von Zhang Faust aus Dongfeng, ein Krimineller, der nicht ohne ist. Der Junge ist auch kriminell, aber er ist noch ein Kind. Den kriegen wir nicht zu packen.« »Alles klar. Dann hat sich das erledigt. Hatte halt Pech.« »Aus Fehlern wird man klug! Geh nicht so viel vor die Tür! Bleib zu Haus und spiel mit deinen Enkeln! Genieß das Glück im Kreis der Familie, das ist besser, nicht wahr?« »Ich danke euch. Ich habe das Benzin unseres Staates verschwendet, die Abnutzung des Polizeiautos beschleunigt und euch Umstände bereitet.« »Willst du uns verhöhnen?« »Nein, auf keinen Fall. Das ist meine ehrliche Meinung. Es tut mir sehr leid!« Augenbrauengrützbeutel und der lange Lulatsch wollten aufbrechen. Der dritte im Bunde, der mit dem breiten Mund, stand immer noch wie angewurzelt vor der Kliniktafel. Der Augenbrauengrützbeutel sagte: »Wang, Kumpel, reiß dich los, komm jetzt! Siehst ein Baby und kriegst die Füße nicht mehr hoch!« Breitmaul kräuselte die Lippen und sagte: »Einfach süß, die Kleinen! Einfach nur süß!« Augenbrauengrützbeutel sagte: »Dann halt dich mal ran! Sei fleißig und bestell dein Feld!« Breitmaul sagte: »Das ist wie bei versalzenem Boden. Da wächst kein Korn.« Der dritte meinte: »Nun beschwer dich mal nicht über deine Frau. Du musst dich auch testen lassen. Vielleicht liegt es an dir?« Breitmaul entgegnete sofort: »Das glaub ich nicht.« Sie diskutierten weiter, während sie zum Auto gingen. Ich blieb unter der Tafel sitzen. Ich war deprimiert und entnervt. Wäre ich mit ihnen auf die Wache gefahren und hätte alles zu Protokoll gegeben, hätte es nichts geändert. Die beiden Frauen waren tatsächlich zwei der drei Töchter von Zhang Faust. Meine Tante war ihre Todfeindin. Nun verstand ich, warum der Junge sie mit dem Frosch erschreckt hatte. Seine Mutter und seine Tante hatten ihm wohl eingeredet, dass er so den Tod seiner Großmutter rächen könnte. Natürlich muss gesagt werden, dass man Gugu wegen dieses Verbrechens nicht beschuldigen darf. Aber solchen Leuten kann man mit Vernunft ja nicht kommen. Also gut, Pech gehabt! Nein! Wieso Pech gehabt? Es war eine Prüfung, die mir der Himmel, der Jadekaiser auferlegt hatte. Ich sollte sie gutheißen und mich nicht mucksen. Denn alles geduldig ertragen bringt Frieden und Sicherheit. Ich hatte große Ziele. War ein Schriftsteller, der dabei war, ein Theaterstück zu schreiben. Mit derlei Schicksalsschlägen umzugehen ist ein hervorragendes Material für mein Stück. Große Persönlichkeiten macht ihr Durchhaltevermögen zu dem, was sie sind. Wenn gewöhnliche Menschen Not und Schande nicht mehr ertragen, halten sie immer noch durch. Wie zum Beispiel Han Xin, der die Schmach ertrug, zwischen den Beinen seines Peinigers hindurchzukriechen, oder Konfuzius, der die Hungersnot in Chen und Cai aushielt, oder Sun Bin, der ertrug, den eigenen Kot hinunterzuschlucken ... Wenn ich mich mit diesen Heiligen und Weisen vergleiche, sind die Schmerzen und Entwürdigungen, die ich ausgehalten habe, nicht der Rede wert. Sugitani san, als ich unter diesem Aspekt darüber nachdachte, lösten sich die Blockaden in meinem Kopf. Ich konnte wieder durchatmen, klar sehen und langsam wieder zu Kräften kommen. Kaulquappe, steh auf! Auf dich kommt eine große Aufgabe zu. Steh mutig die Schwierigkeiten durch, klage nicht und verurteile und hasse niemanden. Ich erhob mich also, obwohl mich meine Wunden schmerzten, ich sehr hungrig war, mir die Knie einknickten, Sterne vor meinen Augen tanzten. Aber ich zwang mich, nicht umzufallen. Zuerst fühlte ich mich beobachtet. Aber keiner guckte. Nicht einmal die beiden Männer vom Wachdienst würdigten mich eines Blickes. Li Hand hatte wirklich recht gehabt. Als ich an Hand dachte, fielen mir auch sofort Augenbraue und das Baby in ihrem Bauch ein. Aber inzwischen hatte sich meine Einstellung dazu geändert. Während ich das Kind am selben Vormittag noch mit beiden Händen erwürgen wollte, dachte ich nun völlig anders darüber. Als ich einen Blick zurück auf die Kliniktafel warf, wusste ich, dass ich das Kind wollte. Ich war begierig danach, ich brauchte es! Der Himmel schenkte es mir, und die furchtbaren Zwänge hatte ich alle nur seinetwegen durchgestanden. Sugitani san, die Klinikleitung hatte auf ihrer Reklametafel Fotos von einigen Hundert Säuglingen. Es waren lachende und weinende darunter, welche mit geschlossenen Augen, welche, die blinzelten, welche, die ihre runden Knopfäuglein weit aufsperrten, welche, die eins geöffnet, das andere geschlossen hielten, welche, die nach oben schauten, welche, die geradeaus schauten, welche, die ihre beiden Ärmchen vorstreckten, als ob sie etwas anfassen wollten, welche, die kleine Fäustchen machten, als wenn sie ein bisschen wütend wären, welche, die ein Händchen in den Mund gesteckt hatten, welche, die sich mit beiden Händchen an die Ohren fassten, welche, die mit offenen Augen lachten, welche, die mit geschlossenen Augen lachten, welche, die mit offenen Augen weinten, welche, die mit geschlossenen Augen weinten, welche mit viel schwarzem Haar, welche ohne Haare auf dem Kopf, welche mit weichem, blonden Haar, welche mit seidenweichen, flachsfarbenen Haaren, welche mit lauter Falten, die wie ein Großvater aussahen, welche mit großem Kopf und großen Ohren, welche, die kleinen Ferkelchen ähnelten, welche, die so weiß wie frisch gekochte Klebreisbällchen waren, welche, die schwarz wie Kohlen waren, welche, die die Zähne zeigten, als wären sie wütend, welche, die mit weit geöffnetem Mund weinten, welche die den Mund aufsperrten, weil sie nach der Brustwarze suchten, welche, die den Mund zukniffen und den Kopf wegdrehten, als ob sie nichts mehr trinken wollten, welche, die ihre leuchtend rote Zunge herausstreckten, welche, die nur eine rosa Zungenspitze zeigten, welche mit Grübchen auf beiden Wangen, welche mit nur einem Grübchen auf einer Wange, welche mit tiefliegenden großen Augen, welche mit Schlitzaugen, welche mit ballrunden Köpfchen, welche mit langen Gesichtchen, das Köpfchen wie eine Wintermelone geformt, welche mit gekrauster Stirn wie ein großer Denker, welche mit lebendigem Blick wie ein Schauspieler. Zusammen waren es einige hundert Babybilder, die alle verschieden waren, alle herzallerliebst und lebensecht. Der Text dieser Reklametafel besagte, dass die Fotos von den Babys stammten, die in der Klinik in den zwei Jahren seit ihrem Bestehen zur Welt gekommen waren. Das war wirklich eine großartige Arbeit, eine edle Arbeit, eine süße, allerliebste Arbeit ... Sugitani san, ich war wirklich zutiefst gerührt, so sehr, dass mir die Tränen kamen. Ich vernahm mit Augen und Ohren den allerheiligsten Lockruf. Ich spürte die Liebe zum Leben sprudeln, die erhabenste, größte Liebe der Menschheit auf dem ganzen Globus. Vergleicht man sie mit anderen Formen der Liebe, sind jene im Vergleich zu dieser armselig. Ich hatte das Gefühl, als wäre meine Seele getauft worden, dachte, dass ich die Chance bekommen hatte, meine Verbrechen zu sühnen, dass ich, egal welche Ursachen ich gesetzt hatte, egal welche Wirkung folgen würde, meine Arme ausbreiten und diesen kleinen Säugling, den der Himmel mir schenkte, empfangen wollte. 11 Sugitani san, ich sagte es schon, die Kliniktafel mit den Babyfotos hatte meine Seele geläutert, als wäre ich getauft worden. Meine Zweifel, die Stiche, die Prügel, die Schmach, auf Leben und Tod gejagt worden zu sein, waren der Weg gewesen, den ich bitter nötig gehabt hatte. So wie die einundachtzig Prüfungen, die Tripitaka bestehen musste , als er nach Indien reiste, um die heiligen Sutren zu holen. Wenn man keine Not erlitten hat, wird man die Frucht nicht richtig genießen. Hat man keine Schwierigkeiten überwunden, erlangt man die Erleuchtung über die wesentlichen Dinge des Lebens nicht. Wieder zu Hause angelangt, säuberte ich meine Wunden mit in Alkohol getränkten Wattebäuschen und nahm mit Schnaps Yunnan White Medicine ein, die bei inneren und äußeren Verletzungen infolge von Schlägereien gut hilft. Obwohl die körperlichen Blessuren, die ich davongetragen hatte, ihre Zeit brauchten, fühlte ich mich vom Kopf her so fit, dass ich Bäume hätte ausreißen können. Als Kleiner Löwe von der Arbeit zurückkam, nahm ich sie in die Arme, rieb meine Wange an der ihren und dann sagte ich zu ihr: »Liebste Gattin, ich danke dir, dass du für mich das Kind geschaffen hast. Obwohl es nicht in deiner Gebärmutter ausgetragen wird, trägst du es doch mit deinem Herzen aus. Und deswegen ist es unser leiblicher Sohn.« Sie weinte. Sugitani san, ich sitze am Schreibtisch und denke, während ich Ihnen, liebster Freund, einen Brief schreibe, darüber nach, wie ich diesen Säugling großziehen werde. Wir beide gehen auf die Sechzig zu. Wir sind körperlich nicht mehr so fit wie noch vor ein paar Jahren. Wir sollten wohl eine erfahrene Kinderfrau einstellen oder eine Amme, die selbst auch gerade ein Baby bekommen hat und noch stillt, damit unser Kind auch Muttermilch zu trinken bekommt und es menschlicher heranwächst. Meine Mutter sagte immer, wenn man den Säuglingen Kuhmilch oder Ziegenmilch zu trinken gibt, duften sie nicht nach Mensch. Obwohl man ein Kind mit Kuhmilch auch großkriegt, birgt das viele Gefahren. Ob die sich am Himmel versündigenden Geschäftemacher nach den Säuglingsmilchskandalen »Kongke«, »Melamine« oder »Sanlu« wohl ihre chemischen Versuche sein lassen? Wer weiß, was nach den zurückgebliebenen »Großkopfkindern« und den »Nieren- und Blasenstein-Säuglingen« noch kommt? Jetzt haben die Verantwortlichen den Schwanz eingezogen, wie Hunde, die eine Tracht Prügel bekommen haben, und sehen aus wie ein Häufchen Elend. Aber keine paar Jahre, dann steht der Schwanz wieder oben und es werden noch widerwärtigere, todbringende Rezepturen erfunden. Ich weiß schon, dass die kostbarste Flüssigkeit auf unserem Globus die Vormilch der Mutter ist, weil sie viele zaubermächtige Substanzen enthält. Sie ist stofflich gewordene Mutterliebe. Ich hörte damals, dass Paare der Tragemutter noch viel Geld für das Kolostrum bezahlten, nachdem sie ihr Kind abgeholt hatten. Manche ließen sie auch noch einen Monat lang stillen und holten erst dann ihr Kind ab. Natürlich kostete es in einem solchen Fall mehr. Kleiner Löwe sagte mir, die Firma sei aber entschieden dagegen. Denn wenn die Leihmutter damit beginne, das Kind zu stillen, entstehe eine tiefe Liebesbeziehung zum Kind, und das würde zu nicht endenden Komplikationen führen. Kleiner Löwe fügte dann aber mit feuchten Augen hinzu: »Ich bin doch seine Mama und ich werde Muttermilch für mein Kind haben.« Früher hörte ich meine Mutter oft solche Geschichten erzählen. Aber sie schmückte sie immer sehr aus, so dass man nicht alles für bare Münze nehmen sollte. Ich denke, dass bei jungen Müttern, die schon eine Schwangerschaft hatten, der Milchfluss erneut angeregt werden kann, wenn ein Säugling angelegt wird oder wenn große Mutterliebe besteht. Aber ich glaube kaum, dass bei jemandem wie Kleiner Löwe, die doch bald sechzig wird und niemals eine Schwangerschaft hatte, so ein Wunder geschehen kann. Wenn es tatsächlich wahr werden sollte, ist es kein Wunder, sondern Gotteswerk. Liebster Freund, wenn ich Ihnen solche Dinge schreibe, ist mir das gar nicht peinlich. Mit welcher großen Liebe Sie Ihren Sohn großgezogen haben, den das Krankenhaus für nicht überlebensfähig hielt. Wie viele ähnliche, von den Göttern gesandte Wunderwerke haben Sie erlebt! Deswegen, Sugitani san, denke ich, dass Sie jemand sind, der mich verstehen kann. Sie können auch die wie teuflisches Zauberwerk anmutenden Ideen meiner Frau verstehen. In letzter Zeit möchte sie fast täglich, dass ich mit ihr schlafe. Sie hat sich aus einer süßen Mohrrübe in einen saftigen Pfirsich verwandelt. Das ist schon wie ein Wunder und überrascht mich sehr. Jedes Mal sagt sie mir: »Kaulquappe, sei nicht so draufgängerisch, du muss es etwas vorsichtiger machen, du darfst doch unseren Sohn nicht verletzten!« Und danach legt sie jedes Mal meine Hand auf ihren Bauch: »Fühl doch mal, er tritt mich.« Jeden Morgen braust sie sich mit lauwarmem Wasser die Brüste ab und zupft zart die eingesunkenen Brustwarzen heraus. Wir erzählten unserem Vater, dass Kleiner Löwe ein Baby erwarte und bereits im sechsten Monat sei. Vater ist bald neunzig Jahre alt. Er war so dankbar, dass ihm die Tränen in Strömen flossen. Mit zitterndem Bart sagte er: »Der Himmel hat ein Auge auf uns! Unsere Ahnen haben sich offenbart, und der Himmel hat es uns vergolten. Die guten Menschen ernten Wohltaten. Namu Amithaba Buddha!« Lieber Freund, ich habe schon alles, was wir für das Kind brauchen werden, fertig vorbereitet und an Ort und Stelle. Wir haben von allem nur das Beste gekauft: einen japanischen Import-Kinderwagen, ein koreanisches Import-Kinderbett, Pampers einer Shanghaier Marke, eine eichene Badewanne, die in Russland getischlert wurde ... Kleiner Löwe besteht darauf, keine Babyflasche zu kaufen. Ich habe ihr gut zugeredet. »Was, wenn deine Milch nicht ausreicht?« Wir kauften eine, nur für den Notfall. Eine französische Babyflasche und einen Schnuller, und beim Milchpulver wählten wir ein in Neuseeland hergestelltes. Aber auch in dieses Milchpulver hatten wir kein volles Vertrauen. Deswegen riet ich: »Am besten wir kaufen eine Milchziege, die wir zu Vater auf den Hof stellen. Wir können dann zu Vater ziehen und dort wohnen und melken die Milch für unser süßes Kind jeden Tag frisch.« Kleiner Löwe hob mit beiden Händen ihre voluminösen Brüste an: »Ich bin mir sicher, dass meine Milch wie ein Springbrunnen sprudeln wird!« Meine Tochter rief aus Spanien an und fragte, was wir so trieben: »Yanyan, es ist mir richtig peinlich, aber wir haben unzweifelhaft eine freudige Nachricht. Deine Mama ist schwanger und du wirst ganz bald ein Brüderchen bekommen.« Ich hörte eine kurze Weile nichts, dann die aufgeregt freudige Nachfrage: »Papa, ist das wahr?« »Natürlich ist es wahr«, sagte ich. »Wie alt ist Mama jetzt eigentlich?« »Schau mal im Internet. Da kannst du lesen, dass in Dänemark kürzlich eine Zweiundsechzigjährige Mutter von gesunden Zwillingen geworden ist.« Meine Tochter freute sich: »Das ist aber schön, Papa, ich freue mich sehr für euch. Ganz, ganz doll freu ich mich für euch beide. Was könnt ihr denn gebrauchen? Ich schicke es euch.« »Wir brauchen nichts. Hier ist alles ausreichend vorhanden.« Meine Tochter sagte: »Ob ihr es braucht oder nicht, ich werde was Schönes kaufen. Die große Schwester will doch ihrem kleinen Bruder was schenken. Papa, ich wünsche euch alles, alles Gute für euer Baby! So wie der tausendjährige Sagopalmfarn blüht und ein zehntausend Jahre vertrockneter Zweig wieder austreibt, habt ihr ein Wunder vollbracht!« Sugitani san, ich habe wegen meiner Tochter ein ganz schlechtes Gewissen, das unsere Beziehung immer belastet hat, weil der Tod ihrer Mutter direkt mit mir zu tun hat. Um mir meine sogenannten Zukunftsaussichten zu erhalten, habe ich Renmei und dem Kind in ihrem Bauch den Tod gebracht. Wäre es damals am Leben geblieben, hätte ich jetzt einen Sohn von über zwanzig. Wenn jetzt, man mag sagen, was man will, wieder ein Sohn kommen sollte, werde ich mich damit trösten, dass er dann Renmeis Kind ist, zwar zwanzig Jahre später, dass aber der Kleine nun endlich doch noch gekommen ist. Sugitani san, es ist mir unangenehm, aber ich bekenne: Das Theaterstück muss noch warten. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist das doch um einiges wichtiger als ein Theaterstück. Aber es hat vielleicht sein Gutes, denn die Akte, die ich mir überlegt hatte, sind so düster und blutig, nur Vernichtung, keine Geburt. Wenn man so etwas schreibt, vergiftet man die Seele der Menschen. Unsere Verbrechen werden dadurch nur noch schwerwiegender. Bitte glauben Sie mir, Sugitani san, ich werde dieses Theaterstück schreiben. Wenn das Kind geboren ist, werde ich den Stift ergreifen und dem neuen Leben einen Hymnus singen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Während der geschilderten Zeit begleitete ich Kleiner Löwe zu einem Besuch bei Gugu. An diesem Tag hatten wir wunderschönes Wetter. Von den zwei Schnurbäumen in Gugus Hof stand der eine in voller Blüte, beim anderen fielen die Blüten gerade zu Boden. Gugu saß mit geschlossenen Augen unter dem verblühenden Schnurbaum und murmelte unhörbar Verse. Ihr weiß meliertes Haar stand dicht wie Katzenschweifkraut und war übersät von Schnurbaumblüten. Bienen summten über ihrem Kopf. Vor dem Fenster saß Hao Große Hand auf einem niedrigen Schemel vor einer dort montierten Kalksandsteinplatte. Der »Großmeister der volkstümlichen Tonkunst«, diesen Titel hatte ihm der Kreis verliehen, war gerade damit beschäftigt, seine Erde zu bearbeiten. Sein Blick war unscharf und ging ins Leere, er wirkte wie in Trance. Gugu sprach: »Der Vater dieses Kindes hat ein rundes Gesicht, lange schmale Augen, einen tiefen Nasenrücken, wulstige Lippen, fleischige Ohren, seine Mutter hat ein wunderschön ovales Gesicht, Mandelaugen, doppelte Lidfalten, einen kleinen Mund, eine steile Nase mit hohem Nasenrücken, dünnfleischige Ohren, angewachsene Ohrläppchen. Das Kind kommt nach seiner Mutter, aber der Mund ist größer als der ihre, die Lippen sind voller, die Ohren etwas größer, der Nasenrücken ist eine Spur niedriger ...« Wir sahen zu, wie unter Haos Händen langsam ein Tonkind entstand, während Gugu im Singsang die Beschreibung des Kindes vorgab. Er nahm einen spitzen Bambusstab und erweckte die Augen des Kindes zum Leben, indem er ihm Pupillen stach. Dann prüfte er das Ergebnis einen Augenblick, machte ein paar kleine Änderungen, stellte das Tonkind auf ein Brett und trug es zu Gugu. Gugu nahm es hoch und schaute es einmal an: »Die Augen noch ein wenig größer und die Lippen ein wenig voller.« Große Hand nahm das Tonkind wieder an sich, machte die Änderungen und gab es ihr wieder zurück. Sein Blick unter den grauen buschigen Brauen traf uns wie ein Blitz. Gugu hielt das Niwawa-Tonkind vor sich, schaute von fern, von nah, dann ließ sie einen zunehmend wohlwollendem Blick auf dem Kind ruhen. »Richtig, genau so stimmt es. Das ist er.« Plötzlich änderte sich ihr Tonfall und sie sagte in scharfem Ton zu dem Kind: »Genau, das bist du, du kleiner Dämon, du Schuldeneintreiber, der den Fuß zuerst herausgestreckt hat. Von den zweitausendachthundert Kindern, die ich zu Tode gebracht habe, hast du noch gefehlt. Jetzt haben wir dich auch gemacht und es fehlt keines mehr.« Ich stellte eine Flasche Wuliangye auf die Fensterbank, Kleiner Löwe legte ein Päckchen mit Bonbons vor Gugus Füße. »Gugu, wir sind dich besuchen gekommen.« Gugu war etwas verstört, sie fuchtelte mit Händen und Füßen, als täte sie etwas Verbotenes. Sie versuchte, das Tonkind unter ihrem Hemd zu verstecken, aber es war zu groß. Also hörte sie auf, es zu verstecken: »Ich will es euch gar nicht verheimlichen.« Ich antwortete: »Gugu wir haben uns den Dokumentarfilm angesehen, den Leber uns geschenkt hat. Wir können das gut verstehen, und wir wissen, wir dir zumute ist.« »Wenn ihr im Bilde seid, ist es ja gut«, gab sie zurück, dabei stand sie auf und ging mit dem gerade fertig gewordenen Tonkind auf dem Arm zum östlichen Seitenhaus. Mit bedrückter Stimme forderte sie uns auf: »Kommt mit!« und ging voraus, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Ihr massiger, schwarz gekleideter Körper zog uns in den Bann. Wir hatten Vater schon vor einiger Zeit erzählen hören, dass es bei Gugu im Oberstübchen nicht mehr ganz stimme. Deswegen hatten wir sie auch nur selten besucht, seit wir nach Hause zurückgezogen waren. Wenn ich an den Einfluss und das Ansehen meiner Tante in früheren Zeiten dachte und sie jetzt in ihrem wüsten Zustand sah, wurde ich sofort furchtbar traurig. Im Osthaus waren die Lichtverhältnisse schlecht. Es war schummrig und ein feuchtkalter Luftzug schlug uns entgegen. Gugu zog an der Schnur an der Wand, und eine Einhundert-Watt-Glühbirne erleuchtete das Seitenhaus bis in den letzten Winkel. Die Fenster der drei Zimmer im rechten Seitenhaus waren mit Backsteinen zugemauert, alle drei Wände von Holzregalen mit vielen gleich großen Kassettenfächern verdeckt, in denen jeweils, wie in kleinen Heiligennischen, eine Niwawa-Tonpuppe stand. Gugu stellte die Niwawa in ihrer Hand in das letzte freie Kassettenfach. Dann trat sie einen Schritt zurück. Im Zentrum des Zimmers befand sich ein kleiner Altar mit einem Weihrauchbrenner. Sie entzündete drei Räucherstäbchen, kniete vor dem Altar, beide Handflächen zum Gebet zusammengelegt, und murmelte stille Verse. Wir taten es der Tante sofort gleich und knieten auch nieder. Ich wusste nicht, was und wie ich beten sollte, die vielen hundert verschiedenen Babygesichter der Reklametafel zogen wie in einer Wundertrommel Bild für Bild vor meinem geistigen Auge vorbei. Mein Herz war voll von Dankbarkeit und überströmender Liebe, aber dann waren da auch noch Scham und Bildfetzen grauenhafter Ereignisse. Ich begriff, dass Gugu alle Kinder, die sie abgetrieben hatte, mit Hilfe von Hao Große Hands Händen, einzeln, Kind für Kind, zum Vorschein gebracht hatte. Ich glaube, dass das ihre Methode war, ihre Verbrechen zu sühnen und mit ihrer Reue fertig zu werden. Aber die Verbrechen konnte man nicht ihr persönlich anlasten. Wenn sie es nicht getan hätte, wären es andere gewesen. Außerdem hatten die Männer und ihre Frauen, die verbotenerweise schwanger geworden waren, auch ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Wenn niemand die Sache in die Hand genommen hätte, wie stünde es dann heute um China? Welche Meinung sollte man dazu haben? Das ist schwer zu beurteilen. Nachdem Gugu den Weihrauch entzündet und gebetet hatte, erhob sie sich und lächelte uns entspannt und froh an: »Renner, Kleiner Löwe, ihr kommt gerade recht! Ich habe soeben mein Gelübde erfüllt. Schaut euch genau um. Diese Babys haben alle Nachnamen und Vornamen. Ich habe sie hier versammelt, damit ich für ihre Seelen die Totenopfer darbringen kann, damit sie Seelenenergie ansammeln, um dann dort, wo sie wiedergeboren werden sollen, wiedergeboren werden zu können. Gugu führte uns herum und zeigte uns alle Tonkinder-Nischen, dabei erzählte sie uns, wo all die Bübchen und Mädchen herkamen. »Diese Kleine«, Gugu zeigte auf ein Niwawa-Baby mit Mandelaugen und kleinem Schmollmündchen, »sollte eigentlich 1974 in Tanjiazhuang bei den Eltern Tan Xiaoliu und Dong Yueer geboren werden, aber ich habe sie vernichtet. Jetzt ist es wieder gut, und sie ist wiedergeboren. Der Ehemann der Kleinen ist ein großer Gemüsebauer und sie seine tüchtige Ehefrau. Sie haben eine Methode entwickelt, Stangenselleriepflanzen mit Kuhmilch zu gießen und ernten dadurch einzigartig zarte Stauden. Jedes Kilo verkaufen sie zu einem Preis von sechzig Yuan RMB.« »Dieses kleine Bübchen«, sie zeigte auf ein Niwawa-Tonbaby mit blinzelnden Äuglein und lächelndem Mündchen, »wäre im Februar 1983 in Wujiaqiao bei den Eltern Wu Junbao und Zhou Aihua zur Welt gekommen, aber ich habe es vernichtet. Jetzt ist es wieder gut, der Kleine ist als Glückskind wiedergeboren worden, in einer Beamtenfamilie in der alten Präfektur Qingzhou, die Eltern sind beide Regierungskader, sein Opa ist ein leitender Funktionär der Provinzregierung; man sieht ihn oft im Fernsehen. Mein Kleiner, ich habe viel für dich gebetet! Hier sehr ihr noch zwei Zwillingsmädchen.« Sie zeigte auf zwei Püppchen in einer Doppelnische. »Sie hätten 1990 zur Welt kommen sollen. Ihre Eltern sind leprakrank gewesen. Obwohl sie geheilt wurden, waren ihre Hände deformiert wie Hühnerkrallen und ihre Gesichter schrecklich verunstaltet. Wenn man in so eine Familie geboren wird, hat man nur Not zu leiden, es ist wie ein Kopfsprung in die Hölle. Ich habe die beiden vernichtet, aber auch vor diesem Schicksal bewahrt. Jetzt ist es wieder gut, denn sie sind wiedergeboren, in der Silvesternacht 2000. Sie sind im Krankenhaus von Kiautschou zur Welt gekommen, der Vater der beiden Milleniumsbabys ist ein berühmter Operndarsteller der Gaomier Maoqiang-Oper, ihre Mutter besitzt ein Modegeschäft. Im letzten Jahr sind die beiden Zwillingsschwestern bei der Silvestershow im Fernsehen aufgetreten. Sie haben das berühmte Maoqiang-Opernlied »Zhao Meirong schaut sich die Lampions an« gesungen: 趙美蓉觀燈 ›Lampion, o Lampion! Salat Frisé, Grünkohlschnee!‹ 茄子燈,紫生生,韭菜燈,亂蓬蓬, Gurkengleich, angepiekst! Rettich rund! Seel gesund! 黃瓜燈,一身刺,蘿蔔燈,水靈靈, Und dann Faustkampf Hummerlicht 還有那打拳瞪眼蟹子燈, weil’s Ei’chen blubbt und 咯咯下蛋的母雞燈 ... ...’ Tuck tuck tuck das Hühnchen spricht ... Ihre Eltern haben mich extra angerufen und mir Bescheid gegeben, damit ich mir die Sendung aus Kiautschou im Fernsehen anschaue. Himmel, ich habe mir das angesehen, die Tränen sind mir aus den Augen geplätschert, dass man es hören konnte, so habe ich geweint ...« »Und dieser hier«, Gugu zeigte auf ein Niwawa-Baby, das schielte, »der kleine Mann wäre eigentlich im Dorf Dongfengcun in der Familie des Zhang Faust zur Welt gekommen, aber ich habe ihn vernichtet. Obwohl man mir in diesem Fall nicht die ganze Verantwortung zuschieben darf, übernehme ich meinen Teil. Der Kleine ist dann im Juli 1995 an Ort und Stelle als Fausts Enkel zur Welt gekommen, seine zweite Tochter Zhang Laiti hat ihn geboren. Laiti kam zu mir. Sie hatte schon zwei Mädchen, und ein drittes Kind sieht die Politik der Geburtenplanung nicht vor, es wäre also ein sogenanntes »überzähliges Kind« gewesen. Obwohl ihr Vater mir damals mit dem Knüppel die Kopfverletzung beigebracht hat und ich deswegen einen ziemlichen Hass auf ihn habe, hegen wir trotzdem auch freundschaftliche Gefühle füreinander, und daher habe ich ihm seinen Sohn, den eigentlich seine Frau bekommen sollte, wieder zurückgegeben. Eigentlich wäre er Laitis Bruder gewesen, und jetzt ist er ihr Sohn. Von diesem Geheimnis weiß außer mir niemand etwas. Und jetzt habe ich es euch gesagt, aber ihr verschließt eure Münder bitte so dicht wie der Korken die Flasche. Der Kleine ist ein böses Balg, er kennt meine Angst vor Fröschen. Er hat mich mal mit einem Frosch in einem Paket so heftig erschreckt, dass ich ohnmächtig wurde. Aber ich nehme es ihm nicht übel. Es gibt alles Mögliche auf der Welt, da gibt es natürlich auch Unvollkommenes. Die guten Menschen sind Menschen, die bösen auch.« Zuletzt zeigte Gugu auf das Baby, das sie gerade in die letzte noch übrige Nische an der Wand gestellt hatte: »Erkennt ihr ihn?« Ich weinte sofort: »Bitte Gugu, sag nichts, ich erkenne ihn ...« Kleiner Löwe sagte: »Gugu, der Kleine wird schon bald geboren. Sein Papa ist ein Theaterschriftsteller, die Mutter eine Krankenschwester in Rente. Danke, liebe Gugu! Ich bin schwanger!« Sugitani san, halten Sie mich für einen Narren, der hier seine irren Wunschgespinste zu Papier bringt? Ich gebe ja zu, dass Gugu einige psychische Probleme hat. Und meine Frau hat sich in ihre freudige Erwartung auf den Kleinen so sehr hineingesteigert, dass bei ihr die Nerven verrücktspielen. Jemand, der bekennt, ein Verbrechen begangen zu haben, muss aber auch versuchen, mit sich selbst nachsichtig zu sein. Ein Beispiel ist die auch Ihnen, lieber Freund, bekannte Kurzgeschichte »Das Neujahrsopfer« von Lu Xun. Einem wachen Menschen wie Xiang Linsao, die in Lu Xuns Geschichte für den Erdgotttempel eine teure Türschwelle tischlern lässt und ein Türschwellenopfer bringt, sollte man nicht den Glauben nehmen, man sollte ihm auf keinen Fall Aberglauben unterstellen, sondern ihm Hoffnung schenken. Die Hoffnung, dass er sich von seiner Schuld befreien kann, dass er nachts keine Alpträume mehr haben muss, dass er wie ein Mensch ohne Schuld weiterleben kann. Ich spielte also mit, ich war sogar fleißig bemüht zu glauben, woran Gugu und Kleiner Löwe glaubten. Das ist doch sicher die richtige Herangehensweise? Obwohl ich natürlich weiß, dass die Leute mit ihren naturwissenschaftlich geschulten Gehirnkästen mich belächeln. Dass die Moralapostel und Tugendverfechter mich kritisieren. Selbst wenn Leute, die ganz andere Erkenntnisse gewonnen haben, sich über mich beschweren, werde ich nichts ändern. Dem Baby zuliebe. Für Gugu und für meinen Kleinen Löwen, die beiden Frauen, die eine befremdliche Arbeit verrichtet haben, für sie werde ich weiterhin wie farbenblind durch die Welt laufen. Am selben Tag holte Gugu ihr Stethoskop aus dem Arzttornister und erklärte in vollem Ernst, sie müsse jetzt die Herztöne abhören. Kleiner Löwe machte den Bauch frei und legte sich auf den Rücken. Sie war voller Glück. Gugu hörte sie konzentriert und sorgfältig ab. Mit einem sehr ernsthaften Gesichtsausdruck. Als sie damit fertig war, befühlte sie den Bauch meiner Frau mit ihren von meiner Mutter immer so sehr gerühmten Händen. Gugu fragte: »Fünf Monate ist das Kleine wohl? Alles in Ordnung. Der Fötus macht deutliche Geräusche, er sitzt auch an der richtigen Stelle.« »Schon mehr als sechs Monate«, sagte Kleiner Löwe schüchtern mit rotem Gesichtchen. »Dann komm mal hoch.« Gugu klopfte zärtlich den Bauch meiner Frau. »Obwohl du ja schon älter bist, empfehle ich dir trotzdem eine natürliche Geburt. Mir widerstreben Kaiserschnitte. Eine Mutter, deren Kind nicht durch den Geburtskanal auf die Welt kommt, verpasst das Gefühl, Mutter zu werden. »Ich habe Bedenken ...«, wandte Kleiner Löwe ein. »Was kann dir mit mir an deiner Seite passieren, Kleiner Löwe?« Gugu streckte beide Hände in die Höhe: »Diesen beiden Händen, die zehntausend Babys auf die Welt geholt haben, solltest du vertrauen.« Kleiner Löwe nahm Gugus Hand und legte sie sich auf die Wange. Mit einer Kleinmädchenstimme sagte sie: »Gugu, ich vertraue dir.« 12 Sugitani san! Eine große Freude habe ich zu verkünden! Gestern vor Sonnenaufgang wurde mein Sohn geboren. Weil meine Frau als Spät- und Erstgebärende zu den absoluten Risikofällen gehörte, hatte selbst die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik mit ihren angeblich in Amerika und England ausgebildeten Ärzten eine Aufnahme abgelehnt. Da dachten wir dann natürlich an Gugu. Alter Ingwer ist ja auch der schärfste. Meine Gattin vertraut ohnehin nur Gugu. Sie hat ihr bei unzähligen Geburten assistiert und weiß natürlich, wie souverän sie mit Komplikationen fertig wird. Als Kleiner Löwe bei Backe und meinem kleinen Cousin in der Froschzuchtfirma Nachtschicht machte, setzten die Wehen ein. Man sollte, wenn es so weit ist, eigentlich zu Hause bleiben und sich schonen, aber starrsinnig, wie sie ist, hatte sie nicht hören wollen. Sie stolzierte hochschwanger über den Markt und präsentierte ihren Babybauch. Damit löste sie viele Diskussionen aus, und manch einer beneidete sie. Ihre Bekannten und Freunde riefen ihr schon von weitem zu: »Kleiner Löwe, tu dir das doch nicht an! Lauf schnell nach Hause und schon dich! Kaulquappe springt viel zu hart mit dir um.« Aber sie sagte nur: »Da ist doch nichts dabei! Mit dem Kinderkriegen ist es wie mit den Melonen, wenn sie reif sind, plumpsen sie vom Gestänge. Wie viele Bauersfrauen haben ihre Kinder schon im Baumwollfeld oder im Gebüsch am Fluss ohne jede Komplikation zur Welt gebracht. Je mehr man sich in Watte packt, umso wahrscheinlicher gibt es Probleme.« Ihre Ansichten decken sich in vielerlei Hinsicht mit den Erkenntnissen einiger unserer angesehenen Ärzte der Traditionellen Chinesischen Medizin. Die Leute hörten, was sie sagte, alle pflichteten ihr bei, keiner fing Streit mit ihr an. Als ich die Nachricht bekam, fuhr ich sofort zur Froschzuchtfirma. Yuan Backe hatte meinen Cousin schon veranlasst, Gugu abzuholen. Sie trug einen weißen Arztkittel und einen großen Mundschutz. Ihr widerspenstiges Haar hatte sie unter eine weiße Haube gesteckt. Ihr Gesicht war enthusiastisch, sie war aufgeregt. Sie kam mir vor wie ein edles Ross bei Turnierbeginn. Gugu wurde von einer weiß gekleideten jungen Dame in einen geheimen Kreißsaal geführt. Ich saß in Backes Büro und trank mit ihm schwarzen Tee. In seinem Büro befand sich mitten im Raum ein Schreibtisch aus Bahia-Rosenholz, dahinter stand ein schwarzer echtlederner Chefsessel mit hoher Lehne. Auf dem Schreibtisch lagen etliche dicke Bücher. Darunter, kaum zu glauben, ein Buch, in dem als Lesezeichen eine kleine chinesische Nationalflagge steckte. Er wusste sofort, was mir durch den Kopf ging, und sagte ernsthaft: »Kumpel, auch als Verbrecher habe ich das Recht, ein Patriot zu sein.« Sehr geübt bereitete er mir mit dem traditionellen Teebesteck in einem kleinen Kännchen einen besonderen Tee: »Das ist Dahongpao vom Berg Wuyishan. Es ist zwar nicht das allerfeinste Blatt, aber schon sehr, sehr gut. Wenn der Kreisvorsteher kommt, koche ich ihm immer diesen Tee. Aber dass ich ihn dir anbiete, beweist, dass ich noch Charakter habe.« Er bemerkte, dass ich nicht bei der Sache war: »Keine Sorge! Ich mache die Arbeit. Und du verlässt dich auf mich. Friedlich und sicher läuft hier alles. Es kommt nie zu Fehlern oder Komplikationen! Wir wagen es nicht umsonst, deiner Tante kostbare Zeit zu stehlen, sie ist die Schutzgottheit von Nordost-Gaomiland. Wenn sie dabei ist, kann es nur nach diesen acht Schriftzeichen ausgehen: 母子平安,皆大歡喜 Mutter und Kind sind wohlauf, alle freuen sich riesig.« Später schlief ich auf seinem großen Luxusledersofa ein. Ich träumte, dass meine Mutter und Renmei kämen. Mutter trug ein strahlendes, atlasseidenes Gewand und einen Krückstock mit einem Drachenkopfknauf, dem Erkennungszeichen der Unsterblichen. Renmei hatte eine wunderschöne rote Steppjacke an, dazu eine grüne Hose, sehr bäuerisch und bieder sah sie aus, aber auch ganz allerliebst. Auf dem linken Arm trug sie ein rotes Bündel. Aus dem Bündel konnte ich etwas gelbes Gestricktes hervorlugen sehen. Sie gingen beide auf dem Flur auf und ab, der Krückstock meiner Mutter pochte dabei gleichmäßig, aber nie hastig auf den Boden, trotzdem machte es mich nervös. Ich fragte: »Mama, kannst du dich ein Weilchen hinsetzen und ausruhen? Wenn ihr beide hier immer auf und ab geht, werden alle anderen nervös.« Mutter setzte sich ein Weilchen auf das Sofa, rutschte dann aber hinunter auf den Boden, wo sie sich im Schneidersitz niederließ. Sie erklärte, wenn sie auf dem Sofa sitze, könne sie nicht atmen. Renmei war äußerst schüchtern, sie versteckte sich wie ein kleines Mädchen hinter dem Rücken meiner Mutter. Wenn ich zu ihr hinschaute, dreht sie jedes Mal schnell den Kopf weg. Ich sah, wie sie das gelbe Gestrickte aus dem Bündel hervorholte und ausbreitete. Es war ein handtellergroßes, handgestricktes Jäckchen. »Renmei, hast du das für eine Babypuppe gestrickt?« Sie wurde rot: »Ich habe es für das Kleine in meinem Bauch angefertigt.« Jetzt erst bemerkte ich, dass ihr Bauch schon eine beachtliche Wölbung zeigte. Auch die Pigmentflecken in ihrem Gesicht deuteten auf eine Schwangerschaft hin. Ich sagte noch: »Das Kind in deinem Bauch ist bestimmt nicht so klein.« Sie errötete wieder: »Renner, sag Gugu bitte, sie soll mir erlauben, es zu bekommen.« Mutter pochte geräuschvoll mit ihrem Stock auf den Boden: »Renmei, du bekommst es jetzt sofort. Ich passe auf, dass dir nichts geschieht. Der Krückstock der Beamtengattin schlägt nach oben den törichten Herrscher und nach unten den verräterischen Beamten. Wer mir in die Quere kommt, wird keines guten Todes sterben!« Mutter rammte den Krückstock gegen die Wand und traf einen Mechanismus, der sofort eine Geheimtür öffnete. Vor uns lag ein taghell erleuchteter Raum mit einem ausladenden Operationstisch, der mit einem schneeweißen Laken überzogen war. Zu beiden Seiten standen je vier Schwestern in weißen Kitteln und mit Mundschutz. Gugu stand an Kopfende des Tisches, auch sie war am ganzen Körper akkurat gekleidet, die Hände steckten in OP-Handschuhen. Als Renmei eintrat, merkte sie sofort, was gespielt wurde, machte auf dem Absatz kehrt und rannte weg, aber Gugu packte sie doch. Sie weinte, weinte schrecklich, wie ein kleines, hilfloses Mädchen: »Renner, ich flehe dich an, weil wir schon so viele Jahre ein Ehepaar sind, immer zusammen waren, Renner, ich flehe dich an, rette mich!« Mein Herz krampfte sich zusammen. Meine Augen wurden tränenfeucht ... Gugu machte nur eine Handbewegung. Da hatten die zweimal vier Krankenschwestern Renmei auch schon geschnappt und auf den OP-Tisch gehoben. Zwei, drei Handgriffe und sie hatten sie nackt ausgezogen. Dann sah ich, wie zwischen ihren Beinen eine kleine rosa Hand hervorkam, den kleinen Finger, den Ringfinger und den Daumen eingeknickt, den Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen gespreizt. Gugu und die Krankenschwestern lachten und konnten gar nicht wieder aufhören. Gugu sagte: »Jetzt wird nicht länger gefackelt. Jetzt kommst du raus.« Dann kam langsam das Baby. Als der Kopf draußen war, reckte es ihn wie ein argwöhnisches Tierchen, vorsichtig Ausschau haltend. Auf diese Gelegenheit hatte Gugu nur gewartet, sie packte es fest am Ohr und umfasste mit der anderen Hand seinen Schädel, dann zog sie mit äußerster Kraft: »Du kommst jetzt raus!« Dann ertönte ein Geräusch, wie wenn man Popcorn in der Pfanne brät, und ein über und über mit Blut und Schleim bedeckter Säugling kam zum Vorschein, den Gugu mit einer Hand gepackt hielt ... Ich schreckte hoch. Am ganzen Körper schweißnass und zitternd vor Kälte. Mein Cousin und Kleiner Löwe kamen zur Tür herein. Mein Kleiner Löwe hatte eine Mullwindel im Arm, aus der ein winziger Säugling herausschaute und mit feinem Stimmchen weinte. Mein Cousin flüsterte: »Renner, meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur Geburt deines Sohnes.« Dann brachte er uns mit dem Auto zu meinem Vater ins Dorf. Das Dorf ist inzwischen ein Stadtrandbezirk. Früher hieß es in den amtlichen Bekanntmachungen immer: Unser Kreisvorsteher hat angeordnet ... Heute gehören wir zur Stadt und haben einen Bürgermeister. Es heißt jetzt: Unser Bürgermeister hat angeordnet, dieses Dorf bestehen zu lassen und als Kulturdenkmal zu erhalten. Erhalten wird ein Dorf mit Häusern im Stil der Zeit der Kulturrevolution. An den Mauern stehen noch in großen roten Zeichen die Parolen, zu sehen sind der Dorfvorsteher mit dem Revolutionspappschild, die Lautsprecher der Dorfparteizentrale, der Versammlungsort der Produktionsbrigade ... Draußen graute bereits der Morgen, aber die Straße war menschenleer. Der Frühbus brachte eilig ein paar Fahrgäste fort, die verschlafen wie Gespenster auf ihren Plätzen saßen. Nur die Putzkolonne der Straßenreinigung war schon unterwegs, ein paar Vermummte, von denen nicht mehr als die Augen zu sehen waren, schwenkten ihre Besen und wirbelten dabei eine Menge Staub auf. Ich wollte so gern das Gesicht meines Kindes sehen. Aber Kleiner Löwes feierliche Miene, feierlicher als die jeder anderen Wöchnerin, und ihr müdes und doch glückliches Lächeln hinderten mich daran, sie zu bedrängen. Um den Kopf hatte Kleiner Löwe ein weinrotes Tuch gebunden, ihre Lippen waren aufgerissen und trocken. Sie hielt den Säugling eng umschlungen, immer wieder senkte sie den Kopf, um ihn anzuschauen oder seinen Geruch einzusaugen. Wir hatten alles, was wir für das Kind vorbereitet hatten, schon zu meinem Vater geschafft. Weil unsere Ziege gerade nicht zu finden war, hatte Vater von einem Bauern mit Namen Du bei uns im Dorf eine Portion Milch bestellt. Bauer Du hielt zwei Kühe, die jeden Tag fünfzig Liter Milch gaben. Vater bat ihn wiederholt, der Milch nichts hinzuzufügen. Bauer Du antwortete: »Gevatter, wenn du mir nie glauben willst, dann melk dir die Milch selber. Und gut ist’s.« Mein Cousin hielt den Wagen vor dem Haushof meines Vaters. Der stand schon längere Zeit draußen und wartete auf unsere Ankunft. Mit ihm zusammen erwarteten uns noch zwei entfernte Schwägerinnen und ein paar junge Mädchen, wohl alles Frauen meines Neffen und andere, die im selben Haus wohnten. Meine zweite Schwägerin griff sich sofort das Kind, die jungen Frauen halfen meiner Frau aus dem Auto, stützten sie und brachten sie über den Hof ins Haus in ihr Wöchnerinnenzimmer. Es war schon alles vorbereitet. Meine Schwägerin lüftete die Windel ein wenig, damit mein Vater seinen Enkel, den kleinen Spätankömmling, in Augenschein nehmen konnte. Vater sagte mit Tränen in den Augen immer nur: »Gut. Gut. Gut ... « Ich selbst war auch zu Tränen gerührt, als ich den schwarzen Haarschopf und das rosige Gesichtchen sah. Großes Gefühlskino. Treuer Freund, dieses Kind gibt mir meine Jugend zurück und schenkt mir Inspiration. Die Schwangerschaft und seine Geburt sind zwar komplizierter und verschlungener verlaufen als bei anderen Kindern, und es bedarf noch einiger Anstrengungen, um ihm den legitimen Status als mein Sohn zu verschaffen – eine heikle Angelegenheit. Und doch ist es schließlich so, wie meine Tante immer gesagt hat: »Ist das Kind erst durch das Ofenrohr, zählt es als Menschenleben, wird rechtmäßiger Bürger der Volksrepublik China und kommt in den Genuss aller Rechte und Leistungen für die Kinder hier bei uns. Wenn es Probleme gibt, sind wir, die wir es auf die Welt geholt haben, dafür verantwortlich. Denn wir geben ihm Liebe, nichts anderes.« Sugitani san, morgen lege ich mir mein Manuskriptpapier ausgebreitet auf den Tisch und beginne in Höchstgeschwindigkeit damit, dieses schwer zu gebärende Theaterstück fertigzustellen. Der nächste Brief, den Sie von mir bekommen werden, wird das Theaterstück enthalten, ein wahrscheinlich für alle Zeiten unmöglich aufzuführendes Stück mit dem Titel: Frösche 蛙 11 Sugitani san, ich sagte es schon, die Kliniktafel mit den Babyfotos hatte meine Seele geläutert, als wäre ich getauft worden. Meine Zweifel, die Stiche, die Prügel, die Schmach, auf Leben und Tod gejagt worden zu sein, waren der Weg gewesen, den ich bitter nötig gehabt hatte. So wie die einundachtzig Prüfungen, die Tripitaka bestehen musste , als er nach Indien reiste, um die heiligen Sutren zu holen. Wenn man keine Not erlitten hat, wird man die Frucht nicht richtig genießen. Hat man keine Schwierigkeiten überwunden, erlangt man die Erleuchtung über die wesentlichen Dinge des Lebens nicht. Wieder zu Hause angelangt, säuberte ich meine Wunden mit in Alkohol getränkten Wattebäuschen und nahm mit Schnaps Yunnan White Medicine ein, die bei inneren und äußeren Verletzungen infolge von Schlägereien gut hilft. Obwohl die körperlichen Blessuren, die ich davongetragen hatte, ihre Zeit brauchten, fühlte ich mich vom Kopf her so fit, dass ich Bäume hätte ausreißen können. Als Kleiner Löwe von der Arbeit zurückkam, nahm ich sie in die Arme, rieb meine Wange an der ihren und dann sagte ich zu ihr: »Liebste Gattin, ich danke dir, dass du für mich das Kind geschaffen hast. Obwohl es nicht in deiner Gebärmutter ausgetragen wird, trägst du es doch mit deinem Herzen aus. Und deswegen ist es unser leiblicher Sohn.« Sie weinte. Sugitani san, ich sitze am Schreibtisch und denke, während ich Ihnen, liebster Freund, einen Brief schreibe, darüber nach, wie ich diesen Säugling großziehen werde. Wir beide gehen auf die Sechzig zu. Wir sind körperlich nicht mehr so fit wie noch vor ein paar Jahren. Wir sollten wohl eine erfahrene Kinderfrau einstellen oder eine Amme, die selbst auch gerade ein Baby bekommen hat und noch stillt, damit unser Kind auch Muttermilch zu trinken bekommt und es menschlicher heranwächst. Meine Mutter sagte immer, wenn man den Säuglingen Kuhmilch oder Ziegenmilch zu trinken gibt, duften sie nicht nach Mensch. Obwohl man ein Kind mit Kuhmilch auch großkriegt, birgt das viele Gefahren. Ob die sich am Himmel versündigenden Geschäftemacher nach den Säuglingsmilchskandalen »Kongke«, »Melamine« oder »Sanlu« wohl ihre chemischen Versuche sein lassen? Wer weiß, was nach den zurückgebliebenen »Großkopfkindern« und den »Nieren- und Blasenstein-Säuglingen« noch kommt? Jetzt haben die Verantwortlichen den Schwanz eingezogen, wie Hunde, die eine Tracht Prügel bekommen haben, und sehen aus wie ein Häufchen Elend. Aber keine paar Jahre, dann steht der Schwanz wieder oben und es werden noch widerwärtigere, todbringende Rezepturen erfunden. Ich weiß schon, dass die kostbarste Flüssigkeit auf unserem Globus die Vormilch der Mutter ist, weil sie viele zaubermächtige Substanzen enthält. Sie ist stofflich gewordene Mutterliebe. Ich hörte damals, dass Paare der Tragemutter noch viel Geld für das Kolostrum bezahlten, nachdem sie ihr Kind abgeholt hatten. Manche ließen sie auch noch einen Monat lang stillen und holten erst dann ihr Kind ab. Natürlich kostete es in einem solchen Fall mehr. Kleiner Löwe sagte mir, die Firma sei aber entschieden dagegen. Denn wenn die Leihmutter damit beginne, das Kind zu stillen, entstehe eine tiefe Liebesbeziehung zum Kind, und das würde zu nicht endenden Komplikationen führen. Kleiner Löwe fügte dann aber mit feuchten Augen hinzu: »Ich bin doch seine Mama und ich werde Muttermilch für mein Kind haben.« Früher hörte ich meine Mutter oft solche Geschichten erzählen. Aber sie schmückte sie immer sehr aus, so dass man nicht alles für bare Münze nehmen sollte. Ich denke, dass bei jungen Müttern, die schon eine Schwangerschaft hatten, der Milchfluss erneut angeregt werden kann, wenn ein Säugling angelegt wird oder wenn große Mutterliebe besteht. Aber ich glaube kaum, dass bei jemandem wie Kleiner Löwe, die doch bald sechzig wird und niemals eine Schwangerschaft hatte, so ein Wunder geschehen kann. Wenn es tatsächlich wahr werden sollte, ist es kein Wunder, sondern Gotteswerk. Liebster Freund, wenn ich Ihnen solche Dinge schreibe, ist mir das gar nicht peinlich. Mit welcher großen Liebe Sie Ihren Sohn großgezogen haben, den das Krankenhaus für nicht überlebensfähig hielt. Wie viele ähnliche, von den Göttern gesandte Wunderwerke haben Sie erlebt! Deswegen, Sugitani san, denke ich, dass Sie jemand sind, der mich verstehen kann. Sie können auch die wie teuflisches Zauberwerk anmutenden Ideen meiner Frau verstehen. In letzter Zeit möchte sie fast täglich, dass ich mit ihr schlafe. Sie hat sich aus einer süßen Mohrrübe in einen saftigen Pfirsich verwandelt. Das ist schon wie ein Wunder und überrascht mich sehr. Jedes Mal sagt sie mir: »Kaulquappe, sei nicht so draufgängerisch, du muss es etwas vorsichtiger machen, du darfst doch unseren Sohn nicht verletzten!« Und danach legt sie jedes Mal meine Hand auf ihren Bauch: »Fühl doch mal, er tritt mich.« Jeden Morgen braust sie sich mit lauwarmem Wasser die Brüste ab und zupft zart die eingesunkenen Brustwarzen heraus. Wir erzählten unserem Vater, dass Kleiner Löwe ein Baby erwarte und bereits im sechsten Monat sei. Vater ist bald neunzig Jahre alt. Er war so dankbar, dass ihm die Tränen in Strömen flossen. Mit zitterndem Bart sagte er: »Der Himmel hat ein Auge auf uns! Unsere Ahnen haben sich offenbart, und der Himmel hat es uns vergolten. Die guten Menschen ernten Wohltaten. Namu Amithaba Buddha!« Lieber Freund, ich habe schon alles, was wir für das Kind brauchen werden, fertig vorbereitet und an Ort und Stelle. Wir haben von allem nur das Beste gekauft: einen japanischen Import-Kinderwagen, ein koreanisches Import-Kinderbett, Pampers einer Shanghaier Marke, eine eichene Badewanne, die in Russland getischlert wurde ... Kleiner Löwe besteht darauf, keine Babyflasche zu kaufen. Ich habe ihr gut zugeredet. »Was, wenn deine Milch nicht ausreicht?« Wir kauften eine, nur für den Notfall. Eine französische Babyflasche und einen Schnuller, und beim Milchpulver wählten wir ein in Neuseeland hergestelltes. Aber auch in dieses Milchpulver hatten wir kein volles Vertrauen. Deswegen riet ich: »Am besten wir kaufen eine Milchziege, die wir zu Vater auf den Hof stellen. Wir können dann zu Vater ziehen und dort wohnen und melken die Milch für unser süßes Kind jeden Tag frisch.« Kleiner Löwe hob mit beiden Händen ihre voluminösen Brüste an: »Ich bin mir sicher, dass meine Milch wie ein Springbrunnen sprudeln wird!« Meine Tochter rief aus Spanien an und fragte, was wir so trieben: »Yanyan, es ist mir richtig peinlich, aber wir haben unzweifelhaft eine freudige Nachricht. Deine Mama ist schwanger und du wirst ganz bald ein Brüderchen bekommen.« Ich hörte eine kurze Weile nichts, dann die aufgeregt freudige Nachfrage: »Papa, ist das wahr?« »Natürlich ist es wahr«, sagte ich. »Wie alt ist Mama jetzt eigentlich?« »Schau mal im Internet. Da kannst du lesen, dass in Dänemark kürzlich eine Zweiundsechzigjährige Mutter von gesunden Zwillingen geworden ist.« Meine Tochter freute sich: »Das ist aber schön, Papa, ich freue mich sehr für euch. Ganz, ganz doll freu ich mich für euch beide. Was könnt ihr denn gebrauchen? Ich schicke es euch.« »Wir brauchen nichts. Hier ist alles ausreichend vorhanden.« Meine Tochter sagte: »Ob ihr es braucht oder nicht, ich werde was Schönes kaufen. Die große Schwester will doch ihrem kleinen Bruder was schenken. Papa, ich wünsche euch alles, alles Gute für euer Baby! So wie der tausendjährige Sagopalmfarn blüht und ein zehntausend Jahre vertrockneter Zweig wieder austreibt, habt ihr ein Wunder vollbracht!« Sugitani san, ich habe wegen meiner Tochter ein ganz schlechtes Gewissen, das unsere Beziehung immer belastet hat, weil der Tod ihrer Mutter direkt mit mir zu tun hat. Um mir meine sogenannten Zukunftsaussichten zu erhalten, habe ich Renmei und dem Kind in ihrem Bauch den Tod gebracht. Wäre es damals am Leben geblieben, hätte ich jetzt einen Sohn von über zwanzig. Wenn jetzt, man mag sagen, was man will, wieder ein Sohn kommen sollte, werde ich mich damit trösten, dass er dann Renmeis Kind ist, zwar zwanzig Jahre später, dass aber der Kleine nun endlich doch noch gekommen ist. Sugitani san, es ist mir unangenehm, aber ich bekenne: Das Theaterstück muss noch warten. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist das doch um einiges wichtiger als ein Theaterstück. Aber es hat vielleicht sein Gutes, denn die Akte, die ich mir überlegt hatte, sind so düster und blutig, nur Vernichtung, keine Geburt. Wenn man so etwas schreibt, vergiftet man die Seele der Menschen. Unsere Verbrechen werden dadurch nur noch schwerwiegender. Bitte glauben Sie mir, Sugitani san, ich werde dieses Theaterstück schreiben. Wenn das Kind geboren ist, werde ich den Stift ergreifen und dem neuen Leben einen Hymnus singen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Während der geschilderten Zeit begleitete ich Kleiner Löwe zu einem Besuch bei Gugu. An diesem Tag hatten wir wunderschönes Wetter. Von den zwei Schnurbäumen in Gugus Hof stand der eine in voller Blüte, beim anderen fielen die Blüten gerade zu Boden. Gugu saß mit geschlossenen Augen unter dem verblühenden Schnurbaum und murmelte unhörbar Verse. Ihr weiß meliertes Haar stand dicht wie Katzenschweifkraut und war übersät von Schnurbaumblüten. Bienen summten über ihrem Kopf. Vor dem Fenster saß Hao Große Hand auf einem niedrigen Schemel vor einer dort montierten Kalksandsteinplatte. Der »Großmeister der volkstümlichen Tonkunst«, diesen Titel hatte ihm der Kreis verliehen, war gerade damit beschäftigt, seine Erde zu bearbeiten. Sein Blick war unscharf und ging ins Leere, er wirkte wie in Trance. Gugu sprach: »Der Vater dieses Kindes hat ein rundes Gesicht, lange schmale Augen, einen tiefen Nasenrücken, wulstige Lippen, fleischige Ohren, seine Mutter hat ein wunderschön ovales Gesicht, Mandelaugen, doppelte Lidfalten, einen kleinen Mund, eine steile Nase mit hohem Nasenrücken, dünnfleischige Ohren, angewachsene Ohrläppchen. Das Kind kommt nach seiner Mutter, aber der Mund ist größer als der ihre, die Lippen sind voller, die Ohren etwas größer, der Nasenrücken ist eine Spur niedriger ...« Wir sahen zu, wie unter Haos Händen langsam ein Tonkind entstand, während Gugu im Singsang die Beschreibung des Kindes vorgab. Er nahm einen spitzen Bambusstab und erweckte die Augen des Kindes zum Leben, indem er ihm Pupillen stach. Dann prüfte er das Ergebnis einen Augenblick, machte ein paar kleine Änderungen, stellte das Tonkind auf ein Brett und trug es zu Gugu. Gugu nahm es hoch und schaute es einmal an: »Die Augen noch ein wenig größer und die Lippen ein wenig voller.« Große Hand nahm das Tonkind wieder an sich, machte die Änderungen und gab es ihr wieder zurück. Sein Blick unter den grauen buschigen Brauen traf uns wie ein Blitz. Gugu hielt das Niwawa-Tonkind vor sich, schaute von fern, von nah, dann ließ sie einen zunehmend wohlwollendem Blick auf dem Kind ruhen. »Richtig, genau so stimmt es. Das ist er.« Plötzlich änderte sich ihr Tonfall und sie sagte in scharfem Ton zu dem Kind: »Genau, das bist du, du kleiner Dämon, du Schuldeneintreiber, der den Fuß zuerst herausgestreckt hat. Von den zweitausendachthundert Kindern, die ich zu Tode gebracht habe, hast du noch gefehlt. Jetzt haben wir dich auch gemacht und es fehlt keines mehr.« Ich stellte eine Flasche Wuliangye auf die Fensterbank, Kleiner Löwe legte ein Päckchen mit Bonbons vor Gugus Füße. »Gugu, wir sind dich besuchen gekommen.« Gugu war etwas verstört, sie fuchtelte mit Händen und Füßen, als täte sie etwas Verbotenes. Sie versuchte, das Tonkind unter ihrem Hemd zu verstecken, aber es war zu groß. Also hörte sie auf, es zu verstecken: »Ich will es euch gar nicht verheimlichen.« Ich antwortete: »Gugu wir haben uns den Dokumentarfilm angesehen, den Leber uns geschenkt hat. Wir können das gut verstehen, und wir wissen, wir dir zumute ist.« »Wenn ihr im Bilde seid, ist es ja gut«, gab sie zurück, dabei stand sie auf und ging mit dem gerade fertig gewordenen Tonkind auf dem Arm zum östlichen Seitenhaus. Mit bedrückter Stimme forderte sie uns auf: »Kommt mit!« und ging voraus, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Ihr massiger, schwarz gekleideter Körper zog uns in den Bann. Wir hatten Vater schon vor einiger Zeit erzählen hören, dass es bei Gugu im Oberstübchen nicht mehr ganz stimme. Deswegen hatten wir sie auch nur selten besucht, seit wir nach Hause zurückgezogen waren. Wenn ich an den Einfluss und das Ansehen meiner Tante in früheren Zeiten dachte und sie jetzt in ihrem wüsten Zustand sah, wurde ich sofort furchtbar traurig. Im Osthaus waren die Lichtverhältnisse schlecht. Es war schummrig und ein feuchtkalter Luftzug schlug uns entgegen. Gugu zog an der Schnur an der Wand, und eine Einhundert-Watt-Glühbirne erleuchtete das Seitenhaus bis in den letzten Winkel. Die Fenster der drei Zimmer im rechten Seitenhaus waren mit Backsteinen zugemauert, alle drei Wände von Holzregalen mit vielen gleich großen Kassettenfächern verdeckt, in denen jeweils, wie in kleinen Heiligennischen, eine Niwawa-Tonpuppe stand. Gugu stellte die Niwawa in ihrer Hand in das letzte freie Kassettenfach. Dann trat sie einen Schritt zurück. Im Zentrum des Zimmers befand sich ein kleiner Altar mit einem Weihrauchbrenner. Sie entzündete drei Räucherstäbchen, kniete vor dem Altar, beide Handflächen zum Gebet zusammengelegt, und murmelte stille Verse. Wir taten es der Tante sofort gleich und knieten auch nieder. Ich wusste nicht, was und wie ich beten sollte, die vielen hundert verschiedenen Babygesichter der Reklametafel zogen wie in einer Wundertrommel Bild für Bild vor meinem geistigen Auge vorbei. Mein Herz war voll von Dankbarkeit und überströmender Liebe, aber dann waren da auch noch Scham und Bildfetzen grauenhafter Ereignisse. Ich begriff, dass Gugu alle Kinder, die sie abgetrieben hatte, mit Hilfe von Hao Große Hands Händen, einzeln, Kind für Kind, zum Vorschein gebracht hatte. Ich glaube, dass das ihre Methode war, ihre Verbrechen zu sühnen und mit ihrer Reue fertig zu werden. Aber die Verbrechen konnte man nicht ihr persönlich anlasten. Wenn sie es nicht getan hätte, wären es andere gewesen. Außerdem hatten die Männer und ihre Frauen, die verbotenerweise schwanger geworden waren, auch ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Wenn niemand die Sache in die Hand genommen hätte, wie stünde es dann heute um China? Welche Meinung sollte man dazu haben? Das ist schwer zu beurteilen. Nachdem Gugu den Weihrauch entzündet und gebetet hatte, erhob sie sich und lächelte uns entspannt und froh an: »Renner, Kleiner Löwe, ihr kommt gerade recht! Ich habe soeben mein Gelübde erfüllt. Schaut euch genau um. Diese Babys haben alle Nachnamen und Vornamen. Ich habe sie hier versammelt, damit ich für ihre Seelen die Totenopfer darbringen kann, damit sie Seelenenergie ansammeln, um dann dort, wo sie wiedergeboren werden sollen, wiedergeboren werden zu können. Gugu führte uns herum und zeigte uns alle Tonkinder-Nischen, dabei erzählte sie uns, wo all die Bübchen und Mädchen herkamen. »Diese Kleine«, Gugu zeigte auf ein Niwawa-Baby mit Mandelaugen und kleinem Schmollmündchen, »sollte eigentlich 1974 in Tanjiazhuang bei den Eltern Tan Xiaoliu und Dong Yueer geboren werden, aber ich habe sie vernichtet. Jetzt ist es wieder gut, und sie ist wiedergeboren. Der Ehemann der Kleinen ist ein großer Gemüsebauer und sie seine tüchtige Ehefrau. Sie haben eine Methode entwickelt, Stangenselleriepflanzen mit Kuhmilch zu gießen und ernten dadurch einzigartig zarte Stauden. Jedes Kilo verkaufen sie zu einem Preis von sechzig Yuan RMB.« »Dieses kleine Bübchen«, sie zeigte auf ein Niwawa-Tonbaby mit blinzelnden Äuglein und lächelndem Mündchen, »wäre im Februar 1983 in Wujiaqiao bei den Eltern Wu Junbao und Zhou Aihua zur Welt gekommen, aber ich habe es vernichtet. Jetzt ist es wieder gut, der Kleine ist als Glückskind wiedergeboren worden, in einer Beamtenfamilie in der alten Präfektur Qingzhou, die Eltern sind beide Regierungskader, sein Opa ist ein leitender Funktionär der Provinzregierung; man sieht ihn oft im Fernsehen. Mein Kleiner, ich habe viel für dich gebetet! Hier sehr ihr noch zwei Zwillingsmädchen.« Sie zeigte auf zwei Püppchen in einer Doppelnische. »Sie hätten 1990 zur Welt kommen sollen. Ihre Eltern sind leprakrank gewesen. Obwohl sie geheilt wurden, waren ihre Hände deformiert wie Hühnerkrallen und ihre Gesichter schrecklich verunstaltet. Wenn man in so eine Familie geboren wird, hat man nur Not zu leiden, es ist wie ein Kopfsprung in die Hölle. Ich habe die beiden vernichtet, aber auch vor diesem Schicksal bewahrt. Jetzt ist es wieder gut, denn sie sind wiedergeboren, in der Silvesternacht 2000. Sie sind im Krankenhaus von Kiautschou zur Welt gekommen, der Vater der beiden Milleniumsbabys ist ein berühmter Operndarsteller der Gaomier Maoqiang-Oper, ihre Mutter besitzt ein Modegeschäft. Im letzten Jahr sind die beiden Zwillingsschwestern bei der Silvestershow im Fernsehen aufgetreten. Sie haben das berühmte Maoqiang-Opernlied »Zhao Meirong schaut sich die Lampions an« gesungen: 趙美蓉觀燈 ›Lampion, o Lampion! Salat Frisé, Grünkohlschnee!‹ 茄子燈,紫生生,韭菜燈,亂蓬蓬, Gurkengleich, angepiekst! Rettich rund! Seel gesund! 黃瓜燈,一身刺,蘿蔔燈,水靈靈, Und dann Faustkampf Hummerlicht 還有那打拳瞪眼蟹子燈, weil’s Ei’chen blubbt und 咯咯下蛋的母雞燈 ... ...’ Tuck tuck tuck das Hühnchen spricht ... Ihre Eltern haben mich extra angerufen und mir Bescheid gegeben, damit ich mir die Sendung aus Kiautschou im Fernsehen anschaue. Himmel, ich habe mir das angesehen, die Tränen sind mir aus den Augen geplätschert, dass man es hören konnte, so habe ich geweint ...« »Und dieser hier«, Gugu zeigte auf ein Niwawa-Baby, das schielte, »der kleine Mann wäre eigentlich im Dorf Dongfengcun in der Familie des Zhang Faust zur Welt gekommen, aber ich habe ihn vernichtet. Obwohl man mir in diesem Fall nicht die ganze Verantwortung zuschieben darf, übernehme ich meinen Teil. Der Kleine ist dann im Juli 1995 an Ort und Stelle als Fausts Enkel zur Welt gekommen, seine zweite Tochter Zhang Laiti hat ihn geboren. Laiti kam zu mir. Sie hatte schon zwei Mädchen, und ein drittes Kind sieht die Politik der Geburtenplanung nicht vor, es wäre also ein sogenanntes »überzähliges Kind« gewesen. Obwohl ihr Vater mir damals mit dem Knüppel die Kopfverletzung beigebracht hat und ich deswegen einen ziemlichen Hass auf ihn habe, hegen wir trotzdem auch freundschaftliche Gefühle füreinander, und daher habe ich ihm seinen Sohn, den eigentlich seine Frau bekommen sollte, wieder zurückgegeben. Eigentlich wäre er Laitis Bruder gewesen, und jetzt ist er ihr Sohn. Von diesem Geheimnis weiß außer mir niemand etwas. Und jetzt habe ich es euch gesagt, aber ihr verschließt eure Münder bitte so dicht wie der Korken die Flasche. Der Kleine ist ein böses Balg, er kennt meine Angst vor Fröschen. Er hat mich mal mit einem Frosch in einem Paket so heftig erschreckt, dass ich ohnmächtig wurde. Aber ich nehme es ihm nicht übel. Es gibt alles Mögliche auf der Welt, da gibt es natürlich auch Unvollkommenes. Die guten Menschen sind Menschen, die bösen auch.« Zuletzt zeigte Gugu auf das Baby, das sie gerade in die letzte noch übrige Nische an der Wand gestellt hatte: »Erkennt ihr ihn?« Ich weinte sofort: »Bitte Gugu, sag nichts, ich erkenne ihn ...« Kleiner Löwe sagte: »Gugu, der Kleine wird schon bald geboren. Sein Papa ist ein Theaterschriftsteller, die Mutter eine Krankenschwester in Rente. Danke, liebe Gugu! Ich bin schwanger!« Sugitani san, halten Sie mich für einen Narren, der hier seine irren Wunschgespinste zu Papier bringt? Ich gebe ja zu, dass Gugu einige psychische Probleme hat. Und meine Frau hat sich in ihre freudige Erwartung auf den Kleinen so sehr hineingesteigert, dass bei ihr die Nerven verrücktspielen. Jemand, der bekennt, ein Verbrechen begangen zu haben, muss aber auch versuchen, mit sich selbst nachsichtig zu sein. Ein Beispiel ist die auch Ihnen, lieber Freund, bekannte Kurzgeschichte »Das Neujahrsopfer« von Lu Xun. Einem wachen Menschen wie Xiang Linsao, die in Lu Xuns Geschichte für den Erdgotttempel eine teure Türschwelle tischlern lässt und ein Türschwellenopfer bringt, sollte man nicht den Glauben nehmen, man sollte ihm auf keinen Fall Aberglauben unterstellen, sondern ihm Hoffnung schenken. Die Hoffnung, dass er sich von seiner Schuld befreien kann, dass er nachts keine Alpträume mehr haben muss, dass er wie ein Mensch ohne Schuld weiterleben kann. Ich spielte also mit, ich war sogar fleißig bemüht zu glauben, woran Gugu und Kleiner Löwe glaubten. Das ist doch sicher die richtige Herangehensweise? Obwohl ich natürlich weiß, dass die Leute mit ihren naturwissenschaftlich geschulten Gehirnkästen mich belächeln. Dass die Moralapostel und Tugendverfechter mich kritisieren. Selbst wenn Leute, die ganz andere Erkenntnisse gewonnen haben, sich über mich beschweren, werde ich nichts ändern. Dem Baby zuliebe. Für Gugu und für meinen Kleinen Löwen, die beiden Frauen, die eine befremdliche Arbeit verrichtet haben, für sie werde ich weiterhin wie farbenblind durch die Welt laufen. Am selben Tag holte Gugu ihr Stethoskop aus dem Arzttornister und erklärte in vollem Ernst, sie müsse jetzt die Herztöne abhören. Kleiner Löwe machte den Bauch frei und legte sich auf den Rücken. Sie war voller Glück. Gugu hörte sie konzentriert und sorgfältig ab. Mit einem sehr ernsthaften Gesichtsausdruck. Als sie damit fertig war, befühlte sie den Bauch meiner Frau mit ihren von meiner Mutter immer so sehr gerühmten Händen. Gugu fragte: »Fünf Monate ist das Kleine wohl? Alles in Ordnung. Der Fötus macht deutliche Geräusche, er sitzt auch an der richtigen Stelle.« »Schon mehr als sechs Monate«, sagte Kleiner Löwe schüchtern mit rotem Gesichtchen. »Dann komm mal hoch.« Gugu klopfte zärtlich den Bauch meiner Frau. »Obwohl du ja schon älter bist, empfehle ich dir trotzdem eine natürliche Geburt. Mir widerstreben Kaiserschnitte. Eine Mutter, deren Kind nicht durch den Geburtskanal auf die Welt kommt, verpasst das Gefühl, Mutter zu werden. »Ich habe Bedenken ...«, wandte Kleiner Löwe ein. »Was kann dir mit mir an deiner Seite passieren, Kleiner Löwe?« Gugu streckte beide Hände in die Höhe: »Diesen beiden Händen, die zehntausend Babys auf die Welt geholt haben, solltest du vertrauen.« Kleiner Löwe nahm Gugus Hand und legte sie sich auf die Wange. Mit einer Kleinmädchenstimme sagte sie: »Gugu, ich vertraue dir.« 12 Sugitani san! Eine große Freude habe ich zu verkünden! Gestern vor Sonnenaufgang wurde mein Sohn geboren. Weil meine Frau als Spät- und Erstgebärende zu den absoluten Risikofällen gehörte, hatte selbst die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik mit ihren angeblich in Amerika und England ausgebildeten Ärzten eine Aufnahme abgelehnt. Da dachten wir dann natürlich an Gugu. Alter Ingwer ist ja auch der schärfste. Meine Gattin vertraut ohnehin nur Gugu. Sie hat ihr bei unzähligen Geburten assistiert und weiß natürlich, wie souverän sie mit Komplikationen fertig wird. Als Kleiner Löwe bei Backe und meinem kleinen Cousin in der Froschzuchtfirma Nachtschicht machte, setzten die Wehen ein. Man sollte, wenn es so weit ist, eigentlich zu Hause bleiben und sich schonen, aber starrsinnig, wie sie ist, hatte sie nicht hören wollen. Sie stolzierte hochschwanger über den Markt und präsentierte ihren Babybauch. Damit löste sie viele Diskussionen aus, und manch einer beneidete sie. Ihre Bekannten und Freunde riefen ihr schon von weitem zu: »Kleiner Löwe, tu dir das doch nicht an! Lauf schnell nach Hause und schon dich! Kaulquappe springt viel zu hart mit dir um.« Aber sie sagte nur: »Da ist doch nichts dabei! Mit dem Kinderkriegen ist es wie mit den Melonen, wenn sie reif sind, plumpsen sie vom Gestänge. Wie viele Bauersfrauen haben ihre Kinder schon im Baumwollfeld oder im Gebüsch am Fluss ohne jede Komplikation zur Welt gebracht. Je mehr man sich in Watte packt, umso wahrscheinlicher gibt es Probleme.« Ihre Ansichten decken sich in vielerlei Hinsicht mit den Erkenntnissen einiger unserer angesehenen Ärzte der Traditionellen Chinesischen Medizin. Die Leute hörten, was sie sagte, alle pflichteten ihr bei, keiner fing Streit mit ihr an. Als ich die Nachricht bekam, fuhr ich sofort zur Froschzuchtfirma. Yuan Backe hatte meinen Cousin schon veranlasst, Gugu abzuholen. Sie trug einen weißen Arztkittel und einen großen Mundschutz. Ihr widerspenstiges Haar hatte sie unter eine weiße Haube gesteckt. Ihr Gesicht war enthusiastisch, sie war aufgeregt. Sie kam mir vor wie ein edles Ross bei Turnierbeginn. Gugu wurde von einer weiß gekleideten jungen Dame in einen geheimen Kreißsaal geführt. Ich saß in Backes Büro und trank mit ihm schwarzen Tee. In seinem Büro befand sich mitten im Raum ein Schreibtisch aus Bahia-Rosenholz, dahinter stand ein schwarzer echtlederner Chefsessel mit hoher Lehne. Auf dem Schreibtisch lagen etliche dicke Bücher. Darunter, kaum zu glauben, ein Buch, in dem als Lesezeichen eine kleine chinesische Nationalflagge steckte. Er wusste sofort, was mir durch den Kopf ging, und sagte ernsthaft: »Kumpel, auch als Verbrecher habe ich das Recht, ein Patriot zu sein.« Sehr geübt bereitete er mir mit dem traditionellen Teebesteck in einem kleinen Kännchen einen besonderen Tee: »Das ist Dahongpao vom Berg Wuyishan. Es ist zwar nicht das allerfeinste Blatt, aber schon sehr, sehr gut. Wenn der Kreisvorsteher kommt, koche ich ihm immer diesen Tee. Aber dass ich ihn dir anbiete, beweist, dass ich noch Charakter habe.« Er bemerkte, dass ich nicht bei der Sache war: »Keine Sorge! Ich mache die Arbeit. Und du verlässt dich auf mich. Friedlich und sicher läuft hier alles. Es kommt nie zu Fehlern oder Komplikationen! Wir wagen es nicht umsonst, deiner Tante kostbare Zeit zu stehlen, sie ist die Schutzgottheit von Nordost-Gaomiland. Wenn sie dabei ist, kann es nur nach diesen acht Schriftzeichen ausgehen: 母子平安,皆大歡喜 Mutter und Kind sind wohlauf, alle freuen sich riesig.« Später schlief ich auf seinem großen Luxusledersofa ein. Ich träumte, dass meine Mutter und Renmei kämen. Mutter trug ein strahlendes, atlasseidenes Gewand und einen Krückstock mit einem Drachenkopfknauf, dem Erkennungszeichen der Unsterblichen. Renmei hatte eine wunderschöne rote Steppjacke an, dazu eine grüne Hose, sehr bäuerisch und bieder sah sie aus, aber auch ganz allerliebst. Auf dem linken Arm trug sie ein rotes Bündel. Aus dem Bündel konnte ich etwas gelbes Gestricktes hervorlugen sehen. Sie gingen beide auf dem Flur auf und ab, der Krückstock meiner Mutter pochte dabei gleichmäßig, aber nie hastig auf den Boden, trotzdem machte es mich nervös. Ich fragte: »Mama, kannst du dich ein Weilchen hinsetzen und ausruhen? Wenn ihr beide hier immer auf und ab geht, werden alle anderen nervös.« Mutter setzte sich ein Weilchen auf das Sofa, rutschte dann aber hinunter auf den Boden, wo sie sich im Schneidersitz niederließ. Sie erklärte, wenn sie auf dem Sofa sitze, könne sie nicht atmen. Renmei war äußerst schüchtern, sie versteckte sich wie ein kleines Mädchen hinter dem Rücken meiner Mutter. Wenn ich zu ihr hinschaute, dreht sie jedes Mal schnell den Kopf weg. Ich sah, wie sie das gelbe Gestrickte aus dem Bündel hervorholte und ausbreitete. Es war ein handtellergroßes, handgestricktes Jäckchen. »Renmei, hast du das für eine Babypuppe gestrickt?« Sie wurde rot: »Ich habe es für das Kleine in meinem Bauch angefertigt.« Jetzt erst bemerkte ich, dass ihr Bauch schon eine beachtliche Wölbung zeigte. Auch die Pigmentflecken in ihrem Gesicht deuteten auf eine Schwangerschaft hin. Ich sagte noch: »Das Kind in deinem Bauch ist bestimmt nicht so klein.« Sie errötete wieder: »Renner, sag Gugu bitte, sie soll mir erlauben, es zu bekommen.« Mutter pochte geräuschvoll mit ihrem Stock auf den Boden: »Renmei, du bekommst es jetzt sofort. Ich passe auf, dass dir nichts geschieht. Der Krückstock der Beamtengattin schlägt nach oben den törichten Herrscher und nach unten den verräterischen Beamten. Wer mir in die Quere kommt, wird keines guten Todes sterben!« Mutter rammte den Krückstock gegen die Wand und traf einen Mechanismus, der sofort eine Geheimtür öffnete. Vor uns lag ein taghell erleuchteter Raum mit einem ausladenden Operationstisch, der mit einem schneeweißen Laken überzogen war. Zu beiden Seiten standen je vier Schwestern in weißen Kitteln und mit Mundschutz. Gugu stand an Kopfende des Tisches, auch sie war am ganzen Körper akkurat gekleidet, die Hände steckten in OP-Handschuhen. Als Renmei eintrat, merkte sie sofort, was gespielt wurde, machte auf dem Absatz kehrt und rannte weg, aber Gugu packte sie doch. Sie weinte, weinte schrecklich, wie ein kleines, hilfloses Mädchen: »Renner, ich flehe dich an, weil wir schon so viele Jahre ein Ehepaar sind, immer zusammen waren, Renner, ich flehe dich an, rette mich!« Mein Herz krampfte sich zusammen. Meine Augen wurden tränenfeucht ... Gugu machte nur eine Handbewegung. Da hatten die zweimal vier Krankenschwestern Renmei auch schon geschnappt und auf den OP-Tisch gehoben. Zwei, drei Handgriffe und sie hatten sie nackt ausgezogen. Dann sah ich, wie zwischen ihren Beinen eine kleine rosa Hand hervorkam, den kleinen Finger, den Ringfinger und den Daumen eingeknickt, den Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen gespreizt. Gugu und die Krankenschwestern lachten und konnten gar nicht wieder aufhören. Gugu sagte: »Jetzt wird nicht länger gefackelt. Jetzt kommst du raus.« Dann kam langsam das Baby. Als der Kopf draußen war, reckte es ihn wie ein argwöhnisches Tierchen, vorsichtig Ausschau haltend. Auf diese Gelegenheit hatte Gugu nur gewartet, sie packte es fest am Ohr und umfasste mit der anderen Hand seinen Schädel, dann zog sie mit äußerster Kraft: »Du kommst jetzt raus!« Dann ertönte ein Geräusch, wie wenn man Popcorn in der Pfanne brät, und ein über und über mit Blut und Schleim bedeckter Säugling kam zum Vorschein, den Gugu mit einer Hand gepackt hielt ... Ich schreckte hoch. Am ganzen Körper schweißnass und zitternd vor Kälte. Mein Cousin und Kleiner Löwe kamen zur Tür herein. Mein Kleiner Löwe hatte eine Mullwindel im Arm, aus der ein winziger Säugling herausschaute und mit feinem Stimmchen weinte. Mein Cousin flüsterte: »Renner, meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur Geburt deines Sohnes.« Dann brachte er uns mit dem Auto zu meinem Vater ins Dorf. Das Dorf ist inzwischen ein Stadtrandbezirk. Früher hieß es in den amtlichen Bekanntmachungen immer: Unser Kreisvorsteher hat angeordnet ... Heute gehören wir zur Stadt und haben einen Bürgermeister. Es heißt jetzt: Unser Bürgermeister hat angeordnet, dieses Dorf bestehen zu lassen und als Kulturdenkmal zu erhalten. Erhalten wird ein Dorf mit Häusern im Stil der Zeit der Kulturrevolution. An den Mauern stehen noch in großen roten Zeichen die Parolen, zu sehen sind der Dorfvorsteher mit dem Revolutionspappschild, die Lautsprecher der Dorfparteizentrale, der Versammlungsort der Produktionsbrigade ... Draußen graute bereits der Morgen, aber die Straße war menschenleer. Der Frühbus brachte eilig ein paar Fahrgäste fort, die verschlafen wie Gespenster auf ihren Plätzen saßen. Nur die Putzkolonne der Straßenreinigung war schon unterwegs, ein paar Vermummte, von denen nicht mehr als die Augen zu sehen waren, schwenkten ihre Besen und wirbelten dabei eine Menge Staub auf. Ich wollte so gern das Gesicht meines Kindes sehen. Aber Kleiner Löwes feierliche Miene, feierlicher als die jeder anderen Wöchnerin, und ihr müdes und doch glückliches Lächeln hinderten mich daran, sie zu bedrängen. Um den Kopf hatte Kleiner Löwe ein weinrotes Tuch gebunden, ihre Lippen waren aufgerissen und trocken. Sie hielt den Säugling eng umschlungen, immer wieder senkte sie den Kopf, um ihn anzuschauen oder seinen Geruch einzusaugen. Wir hatten alles, was wir für das Kind vorbereitet hatten, schon zu meinem Vater geschafft. Weil unsere Ziege gerade nicht zu finden war, hatte Vater von einem Bauern mit Namen Du bei uns im Dorf eine Portion Milch bestellt. Bauer Du hielt zwei Kühe, die jeden Tag fünfzig Liter Milch gaben. Vater bat ihn wiederholt, der Milch nichts hinzuzufügen. Bauer Du antwortete: »Gevatter, wenn du mir nie glauben willst, dann melk dir die Milch selber. Und gut ist’s.« Mein Cousin hielt den Wagen vor dem Haushof meines Vaters. Der stand schon längere Zeit draußen und wartete auf unsere Ankunft. Mit ihm zusammen erwarteten uns noch zwei entfernte Schwägerinnen und ein paar junge Mädchen, wohl alles Frauen meines Neffen und andere, die im selben Haus wohnten. Meine zweite Schwägerin griff sich sofort das Kind, die jungen Frauen halfen meiner Frau aus dem Auto, stützten sie und brachten sie über den Hof ins Haus in ihr Wöchnerinnenzimmer. Es war schon alles vorbereitet. Meine Schwägerin lüftete die Windel ein wenig, damit mein Vater seinen Enkel, den kleinen Spätankömmling, in Augenschein nehmen konnte. Vater sagte mit Tränen in den Augen immer nur: »Gut. Gut. Gut ... « Ich selbst war auch zu Tränen gerührt, als ich den schwarzen Haarschopf und das rosige Gesichtchen sah. Großes Gefühlskino. Treuer Freund, dieses Kind gibt mir meine Jugend zurück und schenkt mir Inspiration. Die Schwangerschaft und seine Geburt sind zwar komplizierter und verschlungener verlaufen als bei anderen Kindern, und es bedarf noch einiger Anstrengungen, um ihm den legitimen Status als mein Sohn zu verschaffen – eine heikle Angelegenheit. Und doch ist es schließlich so, wie meine Tante immer gesagt hat: »Ist das Kind erst durch das Ofenrohr, zählt es als Menschenleben, wird rechtmäßiger Bürger der Volksrepublik China und kommt in den Genuss aller Rechte und Leistungen für die Kinder hier bei uns. Wenn es Probleme gibt, sind wir, die wir es auf die Welt geholt haben, dafür verantwortlich. Denn wir geben ihm Liebe, nichts anderes.« Sugitani san, morgen lege ich mir mein Manuskriptpapier ausgebreitet auf den Tisch und beginne in Höchstgeschwindigkeit damit, dieses schwer zu gebärende Theaterstück fertigzustellen. Der nächste Brief, den Sie von mir bekommen werden, wird das Theaterstück enthalten, ein wahrscheinlich für alle Zeiten unmöglich aufzuführendes Stück mit dem Titel: Frösche 蛙 DAS FÜNFTE BUCH Liebster Freund! Endlich habe ich das Theaterstück fertiggestellt. In meinem realen Leben geschehen immer Dinge, die mit seiner Handlung eng verwoben sind, so dass ich während des Schreibens manchmal nicht zu unterscheiden vermag, ob ich die Realität aufzeichne oder ob ich mich gerade zu Fiktivem inspirieren lasse. Ich habe nur fünf Tage gebraucht, um das Stück zu beenden. Ich fühlte mich dabei wie ein kleines Kind, das begierig ist, seinen Eltern das, was es gesehen hat, und das, was es sich dabei gedacht hat, eilig zu erzählen. Wenn ein fast Sechzigjähriger sich mit einem Kind vergleicht, nimmt man ihm das nicht unbedingt ab, sondern vermutet, dass er irgendetwas verschleiert. Aber ich empfinde wirklich so. Das Stück soll Gugus Lebensgeschichte enthalten. Diese soll wie ein Organismus sein, so wie ein Organismus aus einzelnen Körperteilen besteht. Wenn in der Handlung etwas vorkommt, das im tatsächlichen Leben nicht geschehen ist, dann habe ich es aber psychisch wirklich so erlebt. Deswegen rechne ich es dem real Vorgefallenen zu. Sugitani san, ich hatte angenommen, dass das Schreiben ein Weg für mich wäre, die eigenen Verbrechen zu sühnen. Aber als ich das Stück fertig geschrieben hatte, war mein Gewissen keineswegs entlastet, sondern ich trug an meiner Last, Verbrechen begangen zu haben, schwerer, schwerstens. Renmei und ihr Kind, – natürlich war es genauso mein Kind – sind tot. Selbstverständlich kann ich tausend Gründe anführen und mich von der Schuld freisprechen, natürlich auch die Verantwortung dafür komplett meiner Tante zuschieben, der Truppe, Yuan Backe; ich könnte sogar bei Renmei die Verantwortung suchen, – zig Jahre habe ich das auch getan – aber jetzt ist mir deutlich wie nie zuvor zu Bewusstsein gekommen, dass ich der einzige Schuldige und Erzverbrecher bin. Ich habe meine Renmei und unser Kind wegen sogenannter guter »Zukunftsperspektiven« zur Hölle fahren lassen. Dass ich mir einbilde, das Kind, das Augenbraue geboren hat, sei die Wiedergeburt des im Fegefeuer leidenden toten Babys von Renmei, ist Selbstbetrug. Ich versuche mich mit dieser Vorstellung zu trösten. So, wie es meine Tante über das Modellieren der Niwawa-Tonkinder macht. Jedes Kind ist immer einzigartig und lässt sich durch nichts und niemals ersetzen. Ist die Hand ein für alle Mal blutbefleckt und lässt sie sich niemals mehr reinwaschen? Ist die Seele darin gefangen, dass sie sich eines Verbrechens schuldig fühlt, und muss sie es ewig bleiben? Oder ist Rettung möglich? Liebster Freund, ich warte sehnlichst auf Ihre Antwort. Kaulquappe 3. Juni 2009 Liebster Freund! Endlich habe ich das Theaterstück fertiggestellt. In meinem realen Leben geschehen immer Dinge, die mit seiner Handlung eng verwoben sind, so dass ich während des Schreibens manchmal nicht zu unterscheiden vermag, ob ich die Realität aufzeichne oder ob ich mich gerade zu Fiktivem inspirieren lasse. Ich habe nur fünf Tage gebraucht, um das Stück zu beenden. Ich fühlte mich dabei wie ein kleines Kind, das begierig ist, seinen Eltern das, was es gesehen hat, und das, was es sich dabei gedacht hat, eilig zu erzählen. Wenn ein fast Sechzigjähriger sich mit einem Kind vergleicht, nimmt man ihm das nicht unbedingt ab, sondern vermutet, dass er irgendetwas verschleiert. Aber ich empfinde wirklich so. Das Stück soll Gugus Lebensgeschichte enthalten. Diese soll wie ein Organismus sein, so wie ein Organismus aus einzelnen Körperteilen besteht. Wenn in der Handlung etwas vorkommt, das im tatsächlichen Leben nicht geschehen ist, dann habe ich es aber psychisch wirklich so erlebt. Deswegen rechne ich es dem real Vorgefallenen zu. Sugitani san, ich hatte angenommen, dass das Schreiben ein Weg für mich wäre, die eigenen Verbrechen zu sühnen. Aber als ich das Stück fertig geschrieben hatte, war mein Gewissen keineswegs entlastet, sondern ich trug an meiner Last, Verbrechen begangen zu haben, schwerer, schwerstens. Renmei und ihr Kind, – natürlich war es genauso mein Kind – sind tot. Selbstverständlich kann ich tausend Gründe anführen und mich von der Schuld freisprechen, natürlich auch die Verantwortung dafür komplett meiner Tante zuschieben, der Truppe, Yuan Backe; ich könnte sogar bei Renmei die Verantwortung suchen, – zig Jahre habe ich das auch getan – aber jetzt ist mir deutlich wie nie zuvor zu Bewusstsein gekommen, dass ich der einzige Schuldige und Erzverbrecher bin. Ich habe meine Renmei und unser Kind wegen sogenannter guter »Zukunftsperspektiven« zur Hölle fahren lassen. Dass ich mir einbilde, das Kind, das Augenbraue geboren hat, sei die Wiedergeburt des im Fegefeuer leidenden toten Babys von Renmei, ist Selbstbetrug. Ich versuche mich mit dieser Vorstellung zu trösten. So, wie es meine Tante über das Modellieren der Niwawa-Tonkinder macht. Jedes Kind ist immer einzigartig und lässt sich durch nichts und niemals ersetzen. Ist die Hand ein für alle Mal blutbefleckt und lässt sie sich niemals mehr reinwaschen? Ist die Seele darin gefangen, dass sie sich eines Verbrechens schuldig fühlt, und muss sie es ewig bleiben? Oder ist Rettung möglich? Liebster Freund, ich warte sehnlichst auf Ihre Antwort. Kaulquappe 3. Juni 2009 Frösche 蛙 Schauspiel in neun Aufzügen Personen GUGU: Frauenärztin im Ruhestand, über siebzig KAULQUAPPE: Wan Kaulquappe, Dramatiker, Stückeschreiber, Gugus Neffe, Mitte fünfzig KLEINER LÖWE: Gugus ehemalige Assistentin, Kaulquappes Gattin, Ende fünfzig AUGENBRAUE: mit Nachnamen Chen, Leihmutter, zwanzig Jahre alt, Überlebende einer Brandkatastrophe, Schwerstbrandopfer mit schlimmsten Entstellungen CHEN NASE: Chen Augenbraues Vater, Kaulquappes Grundschulklassenkamerad, Pennbruder, Mitte fünfzig YUAN BACKE: Kaulquappes Grundschulklassenkamerad, Chef der »Froschfirma« und einer klandestinen »Leihmütteragentur«, Mitte fünfzig KLEINER COUSIN JINXIU: Kaulquappes Cousin, Backes Angestellter, Mitte vierzig LI HAND: Kaulquappes Grundschulklassenkamerad, Restaurantbesitzer, Mitte fünfzig REVIERFÜHRER: Polizeihauptmeister, Mitte vierzig XIAO WEI: Polizistin, hat gerade die Polizeischule absolviert und ist Anwärterin zur Polizeimeisterin, Mitte zwanzig HAO GROSSE HAND: Großmeister der volkstümlichen Lehmkunst QIN STROM: Meister der volkstümlichen Lehmkunst, herausragender Künstler, Gugus ewiger Verehrer LIU GUIFANG: Kaulquappes Grundschulklassenkameradin, Leiterin des Gästehauses der Kreisregierung GAO MENGJIU: Kreismagistrat zu Zeiten der Republik China, also vor Errichtung des kommunistischen Staates in China. Sein historischer Name lautet Cao Mengjiu Qingtian, man vergleicht ihn immer mit Richter Bao, dem sagenhaften, gerechten Richter Bao Qingtian Amtsdiener I und einige Amtsdiener im Mandariat Zwei Männer des Sicherheitsdienstes der Klinik Zwei Schwarzvermummte Fernsehkamerateam TV-Reporterin und weitere Kollegen des Fernsehteams Erster Aufzug Vor der Chinesisch-Amerikanischen Mutter-und-Kind-Klinik. Am Haupteingang der Klinik fällt auf, dass alles prächtig hergerichtet ist. Regierungsvertreter scheinen vor Ort zu sein oder erwartet zu werden. Am marmornen Portal des Haupteingangs fällt am linksseitigen Torbogen der Zufahrt das Namensschild der Klinik ins Auge. Rechts vom Portal und dem Hauptkliniktor ist eine überdimensionale Hinweistafel zu sehen. Diese Tafel zeigt ein Kaleidoskop aus einigen hundert Fotos von Säuglingen in allen möglichen Posen. Ein Wachmann in grauer Uniform steht kerzengerade, eine Hand an der Hosennaht, die andere zum militärischem Gruß erhoben, links neben der Auffahrt des Haupteingangs, über die sich große Luxuslimousinen wie eine nicht enden wollende Schlange auf das Krankenhausgelände hinauf- und wieder hinunterschieben. Weil der Wachmann den militärischen Gruß übertrieben ausführt, ist die Ernsthaftigkeit dahin und er wirkt lächerlich. Ein wagenradgroßer Mond geht strahlend am Himmelszelt auf. Hinter dem Vorhang hört man Böllerschüsse. In kurzer Abfolge werden Feuerwerksraketen abgefeuert, die den Himmel bunt erleuchten. WACHMANN: (holt sein Handy aus der Jackentasche und liest eine SMS, kann ein amüsiertes Lachen nicht zurückhalten) Hihihi .... (sein Schichtführer kommt leise herbei) SCHICHTFÜHRER: (steht unauffällig hinter dem Wachmann und sagt mit gedämpfter Stimme, aber insistierend, streng) Li Jiatai, worüber lachst du? (merkt, dass etwas auf seinen Fuß gesprungen ist) Es geht doch längst auf den Herbst zu. Wie kommt es, dass es hier immer noch so viele Frösche gibt? Sag schon, worüber lachst du? WACHMANN: (überwindet seinen Schrecken, nimmt mit fliegenden Händen Haltung an) Ich melde meinem Gruppenführer: Auf Grund erhöhter Erderwärmung kommt es zum Treibhauseffekt. Ich lache gar nicht ... SCHICHTFÜHRER: Wenn es nichts zu lachen gibt, was lachst du dann? (schüttelt den Frosch ab, der auf seinen Fuß gehopst ist) Was hat das nun wieder zu bedeuten? (mit Blick auf den Frosch) Kriegen wir wieder ein Erdbeben? Sag jetzt, warum du lachst! Das ist ein Befehl! WACHMANN: (blickt wachsam um sich, als niemand zu sehen ist, sagt er lachend) Vorarbeiter, der Witz hier ist zu gut ... SCHICHTFÜHRER: Ich habe doch deutlich Anweisung gegeben, dass während der Arbeitszeit das Verschicken von SMS verboten ist! WACHMANN: Ich melde meinem Gruppenführer, ich habe keine SMS verschickt, ich habe nur einige gelesen. SCHICHTFÜHRER: Ist das nicht das Gleiche? Wenn Abteilungsleiter Liu das erfährt, stehst du auf der Straße. WACHMANN: Egal. Ich will hier sowieso nicht mehr arbeiten. Der Chef der Froschzuchtfirma ist der Mann meiner Cousine. Meine Mutter hat diese längst gebeten, mal mit meinem Schwager zu besprechen, wann er mich zu sich in die Firma holt. SCHICHTFÜHRER: (unwillig) Es reicht. Hör mir mit deinen Cousinen auf. Davon werd ich ganz duselig. Wenn du dich beim Mann deiner Cousine verkriechen willst, hast du ja nichts zu befürchten. Ich bin drauf angewiesen, dass die mir hier den Napf füllen. Deswegen lass dir gesagt sein, dass es verboten ist zu telefonieren, und zwar Gespräche anzunehmen und selbst anzurufen, SMS zu verschicken und zu empfangen. WACHMANN: (nimmt Haltung an, hebt die Rechte zum militärischen Gruß) Jawohl! Gruppenführer! SCHICHTFÜHRER: Nimm dich in Acht! WACHMANN: (nimmt noch einmal Haltung an, hebt die Rechte zum militärischen Gruß) Jawohl! Gruppenführer! (kann das Lachen nicht zurückhalten) Hihihi ... SCHICHTFÜHRER: Freundchen, hast du Hundepisse gesoffen? Oder geträumt, dass du ’ne reiche Frau abkriegst? Heraus mit der Sprache! Worüber lachst du? WACHMANN: Ich lache ja gar nicht. SCHICHTFÜHRER: (streckt die rechte Hand vor) Her damit! WACHMANN: Wie bitte? SCHICHTFÜHRER: Du fragst? Das Handy sollst du hergeben! WACHMANN: Gruppenführer, ich verspreche, dass ich nicht mehr draufschaue, in Ordnung? SCHICHTFÜHRER: Laber nicht! Gibst du es mir jetzt? Wenn nicht, sage ich sofort dem Chef Bescheid. WACHMANN: Gruppenführer, ich habe eine Liebesgeschichte am Laufen. Ohne Handy geht’s nicht. SCHICHTFÜHRER: Als dein Vater mit deiner Mutter zusammengekommen ist, gab es nicht mal Telefon, und er hat sie trotzdem gekriegt. Nun schnell her damit! WACHMANN: (muss sich geschlagen geben und händigt dem Schichtführer sein Handy aus) Ich wollte gar nicht lachen. Die SMS war so lustig, dass es mir rausgerutscht ist. SCHICHTFÜHRER: (nimmt das Handy und öffnet die Kurzmitteilungen) Ich will wissen, was das war, das dich so zum Lachen gebracht hat. »... um einen unschlagbaren Kurzstreckenläufer heranzuziehen, hat der Chinesische Sportverband auf höchster Ebene entschieden, dass der Champion über hundert Meter, Athlet Qian Leopard, und die Athletin Jin Reh, Champion im Langlauf, unverzüglich zu heiraten haben. Als Jin Reh neun Monate später im Krankenhaus ihr Kind zur Welt gebracht hat, fragt Qian Leopard: Ist es ein Mädchen oder ein Junge geworden? Der Arzt sagt: Ich habe es so schnell nicht erkennen können. Es ist sofort nach der Geburt abgedüst.« SCHICHTFÜHRER: Für so einen Witz, bei dem einem die Zähne rausfallen, lohnt sich das Gelache? Jetzt lese ich dir mal ein paar gute Witze vor. (will sein Handy hervorholen und lesen, da fällt ihm ein, dass sein eigenes Gerät und das des Wachmanns zusammen in seiner Jackentasche stecken) Heute ist Mitteherbstfest. Unser Chef sagt, besonders an Festtagen muss man die Alarmbereitschaft verstärken. WACHMANN: (streckt die Hand aus, öffnet sie, bereit, etwas entgegenzunehmen) Mein Handy! SCHICHTFÜHRER: Ich nehme es dir nur vorübergehend ab. Du kannst es wieder bei mir abholen, wenn du Feierabend machst. WACHMANN: (bettelnd) Gruppenführer, an so einem wichtigen Feiertag, an dem alle Familien vereint sind, alle sich verabreden, zusammen Mondkuchen essen, Böller zünden, Vollmondspaziergänge machen, sich alle Verliebten treffen und diesen Tag richtig ausnutzen ... Da stehe ich hier wie ein Pfosten, den man in die Erde gerammt hat, und darf nicht einmal meiner Freundin eine kleine SMS schicken? Selbst diese winzige Freude nimmst du mir? SCHICHTFÜHRER: Fasel nicht! Konzentriere dich lieber auf die Arbeit. Behalte hier alles, alle Zugänge und Ausgänge, im Auge und im Ohr! Alle verdächtigen Personen sind anzuweisen, vor dem Tor zu bleiben, denn sie haben zum Klinikgelände keinen Zutritt. WACHMANN: Nun ist es aber gut! Nimm das Gequatsche vom Chef nicht zu ernst! Heute ist Feiertag. Die Strauchdiebe und Verbrecher schieben auch ’ne ruhige Kugel und begehen das Mitteherbstfest. SCHICHTFÜHRER: Mehr Ernsthaftigkeit bitte! Glaubst du, wir haben dich nur zum Spaß hierher gestellt? (mit gedämpfter Stimme, geheimnisvoll) In der Nacht auf das Chinesische Neujahr haben sich Terroristen hier Zutritt verschafft, (mit nuschelnder Stimme) die sind in die Wöchnerinnenstation eingedrungen und haben dort acht Säuglinge entführt und als Geiseln genommen. WACHMANN: O weh ... SCHICHTFÜHRER: (geheimnisvoll) Du weißt doch, dass die Zweitfrauen der Bonzen hier in den Krankenzimmern ihre Niederkunft erwarten? WACHMANN: (neigt den Kopf, um besser zu verstehen) SCHICHTFÜHRER: (flüstert noch leiser) Dann verstehst du jetzt wohl? Präg dir das ein. Zwei schwarze Mercedes und ein blaugrüner Ferrari sind die Karren, die solchen Bonzen gehören. Wenn die hier auftauchen: Haltung annehmen und korrekt grüßen, aufmerksam sein, sie nicht aus den Augen lassen, da darf absolut nichts schiefgehen, da muss alles perfekt laufen. WACHMANN: Zu Befehl, Gruppenführer! (streckt die Hand aus) Kannst du mir jetzt mein Handy wiedergeben? SCHICHTFÜHRER: Das geht auf keinen Fall. Heute Abend steht einiges an: Nicht nur, dass die Frau von Geschäftsführer Jin wahrscheinlich ihr Baby bekommt, der Geburtstermin der Schwiegertochter von Parteisekretär Song soll auch der heutige Abend sein. Song fährt einen Audi A6, Kennzeichen 08858. Sperr deine Augen auf, ist das klar? WACHMANN: (mault) Können sich diese Karnickeljungen nicht einen anderen Tag für ihre Geburt aussuchen? Meine Freundin sagt, wir werden heute Abend den größten Vollmond seit fünfundfünfzig Jahren haben. (schaut zum Mond am Himmel, singt) Wann hatten wir einen solchen Vollmond, erhebe ich mein Glas und frage den blauen Himmel. Wann ... SCHICHTFÜHRER: (ironisch) Pass auf, dass du nicht anfängst zu flennen! Wenn du in der Schule fleißig auswendig gelernt hättest, bräuchtest du hier nicht den Wachmann zu machen. (in Alarmbereitschaft) Was ist das? Chen Augenbraue trägt einen langen schwarzen Mantel, ihr Gesicht ist schwarz verhüllt, in der Hand hält sie ein kleines rotes Pullöverchen. AUGENBRAUE: (schwankt wie betrunken) Mein Baby ... mein Baby ... mein Baby ... Wo bist du? Mama sucht dich. Wo hast du dich versteckt, mein Kind? WACHMANN: Die schon wieder! Die ist nicht richtig im Kopf. SCHICHTFÜHRER: Scheuch sie weg! WACHMANN: (nimmt Haltung an, die Hand zum militärischen Gruß erhoben) Es ist mir nicht erlaubt, mich von meinen Arbeitsplatz zu entfernen! SCHICHTFÜHRER: Ich gebe dir die strikte Anweisung, sie wegzuscheuchen. WACHMANN: Ich halte hier Wache. SCHICHTFÜHRER: Du musst den gesamten Bereich rund um den Haupteingang und den Zufahrtsbereich und dazu noch einen fünfzig Meter breiten Einzugsbereich kontrollieren und dort für Sicherheit sorgen. WACHMANN: Wenn es am Zufahrtsportal zu verdächtigen Vorfällen kommt, sollte der diensthabende Torwachmann auf seinem Posten stehen, um Verdächtige, die sich Zutritt zum Haupttor verschaffen wollen, unerbittlich aufzuhalten und dann seinem Gruppenführer unverzüglich Meldung zu machen. (er nimmt das Walkie-Talkie, das er am Gürtel trägt, in die Hand) Gruppenführer, ich mache Meldung: Rechts vom Eingangsbereich habe ich unter der Reklametafel eine verdächtige Person entdeckt. Bitte blitzschnell und unverzüglich zu Hilfe kommen. SCHICHTFÜHRER: Ach, fick deine Oma, du Scheißkerl. Das Licht schwenkt zur großen Reklametafel der Klinik hinüber. AUGENBRAUE: (mit Blick auf die Säuglingsfotos auf der Kliniktafel) Kind, mein Kleines, Mama ruft dich. Hörst du mich? Spielst du mit mir Kuckuck, da bin ich? Hast du dich versteckt, mein Kleines? Du Schlingel! Du Schätzchen! Komm schnell hervor, Mama gibt dir die Brust. Wenn du nicht kommst, kommt das Hündchen und schnappt sie dir vor der Nase weg ... (schaut zu den Fotos hoch und zeigt mit der Hand auf eines der Babybilder) Willst du meine Milch trinken, Kleines? Nein, dir gebe ich sie nicht, denn du bist ja nicht mein Kind. Meines hat große Kulleraugen und eine doppelte Lidfalte. Deine Augen sind schmal wie ein Strich. Du dort willst meine Milch? Du bist auch nicht mein Kind. Das Gesicht meines Kleinen ist rosigrot wie ein Äpfelchen. Du aber hast ganz gelbe Haut. Du bist noch weniger mein Kleines. Mein Baby ist ein Bübchen, ein kleines rundes Bübchen. Und du bist ein Mädchen. Kleine Mädchen sind nichts wert, die sind billiger. (sachlich und sehr deutlich) Einen Jungen gebären bringt fünfzigtausend Yuan, ein Mädchen nur dreißigtausend. Ihr feudalistischen Missgeburten! Ihr Machos! Sind eure Mütter etwa keine Frauen? Und eure Großmütter, sind sie keine Frauen? Alles Jungs, keine Mädchen? Dann ist es mit unserer Welt doch aus und vorbei! Ihr hohen Funktionäre, ihr Intellektuellen, ihr eingebildeten Pappnasen. Versteht ihr nicht mal dieses allereinfachste Prinzip? Wie? Du meinst, du bist mein Kind? Du kleines Karnickeljunges. Hast meine Milch gerochen, wie? Deswegen läuft dir so das Wasser im Munde zusammen? (schnuppert, wie deutlich an den Nasenlöchern zu sehen ist) Du führst mich an der Nase herum, kleiner Mümmelmann! Von mir kriegst du nichts! Ich sag dir eins: Auch wenn man mir die Augen verbindet, allein am Geruch erkenne ich mein Kind unter tausend anderen. Hat deine Mutter dir das nicht gesagt? Jedes Kind hat seinen eigenen Geruch! Wenn du die Brust willst, geh zu deiner Mama. Was mir noch einfällt, ihr Reiche-Leute-Kinder sagt ja nicht Mama, ihr sagt Mami, ihr sagt nicht die Brust geben, ihr sagt stillen. Hat deine Mami keine Milch? Das kann keine richtige Mama sein, wenn sie keine Milch für dich hat. Ihr predigt tagtäglich den Fortschritt. Ich finde, ihr seid nicht fortschrittlich, sondern im Gegenteil so rückschrittlich, dass eure Kinder nicht mehr durch die Scheide geboren werden und eure Brüste keine Milch mehr geben. Ihr lasst eure Arbeit von den Kühen und Ziegen machen. Die Kinder, die mit Kuhmilch großgezogen werden, haben einen Kuhmilchgeruch, die, die Ziegenmilch trinken, den Geruch von Ziegen. Nur die mit Muttermilch großgezogenen Kinder duften nach Mensch. Ach, ihr wollt meine Milch kaufen? Das schlagt euch aus dem Kopf! Meine Milch bekommt allein mein Kind zu trinken, da könnt ihr bergeweise Geld anschleppen, es interessiert mich nicht. Kind, komm schnell zu mir! Kommst du nicht, kommen diese Kinder hier und wollen sie dir vor der Nase wegschnappen. Schau, wie gierig sie sind, sie haben die Mündchen schon aufgesperrt, hungrig sind sie. Ihre Mamis haben ihre Mich verkauft und sich dafür Schminke besorgt, die sie sich aufs Gesicht geschmiert haben; und Parfum, womit sie sich einsprühen. Das sind keine guten Mamas, wenn sie immer nur an die eigene Schönheit denken und ihnen die Gesundheit ihrer Kinder nicht wichtig ist. Mein Kleines, komm schnell zu Mama. SCHICHTFÜHRER: (nimmt Haltung an, grüßt militärisch) Gute Frau, sehen Sie, dass Sie sich hier auf dem Gelände einer Mutter-und-Kind-Klinik mit Wöchnerinnenstation befinden? Die Wöchnerinnen und ihre Kinder brauchen Ruhe. Verlassen Sie deshalb sofort unser Gelände und machen Sie hier keinen Lärm. AUGENBRAUE: Wer bist du? Was machst du hier? SCHICHTFÜHRER: Ich bin Wachmann. AUGENBRAUE: Was macht man als Wachmann? SCHICHTFÜHRER: Wir sorgen dafür, dass alles im Fluss bleibt, schützen die Sicherheit der staatlichen Organe und Behörden, der Schulen, der sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, der Post, der Banken, der Warenhäuser, der Restaurants, der Bahnhöfe. AUGENBRAUE: Ich kenne dich! (lacht aus vollem Halse) Du bist Backes Leibwächter. Man nennt dich seinen Hofhund! SCHICHTFÜHRER: Es ist verboten, uns zu beleidigen. Ohne uns würde in unserer Gesellschaft das Chaos ausbrechen. AUGENBRAUE: Du bist es, der mir mein Kind gestohlen hat! Ich erkenne dich, auch wenn du den Arztkittel und den Mundschutz ausgezogen hast! SCHICHTFÜHRER: (panisch) Gute Frau, halten Sie sich an die Wahrheit bei dem, was sie sagen. Passen Sie auf! Sonst zeige ich Sie wegen Verleumdung an. AUGENBRAUE: Du meinst, ich würde dich nicht erkennen, wenn du die Kleider tauschst? Du denkst, in der Uniform des Sicherheitsdienstes bist du wieder ein guter Mensch? Du bist einer von Backes Hofhunden. Wan Herz, die alte Hexe, war meine Hebamme, sie hat mir mein Baby nur ganz kurz gezeigt. (weint bitterlich) Stimmt nicht, sie hat es mir überhaupt nicht zu sehen gegeben. Sie haben ein weißes Tuch über mein Gesicht gebreitet. Ich wollte mein Neugeborenes sehen, ich wollte es nur einmal sehen, aber sie haben es mir gestohlen, es mich nicht einmal anschauen lassen, aber ich habe sein Weinen gehört. Es weinte, weil es zu seiner Mutter wollte, es wollte mich auch sehen. Wo gibt es auf der Welt ein Baby, das seine Mutter nicht sehen wollte? Sie haben es mir mit Gewalt weggenommen. Ich weiß, dass es hungert, dass es meine Brust will. Ihr alle wisst das. Ihr alle wisst, wie wichtig die erste Milch der Mutter für das Baby ist. Ihr meint, ich habe keine Bildung. Doch! Ich weiß das. Ich habe das Beste, das mein Leib geben kann, in meine Brüste geleitet, auch den Knochenkalk, auch die Knochenmarksflüssigkeit, auch das Eiweiß aus dem Blut, die Vitamine aus meinem Fleisch, alles ist in meine Brüste geflossen. Wenn mein Kind meine Milch trinkt, ist es geschützt vor Erkältung, vor Durchfall, vor Fieber. Und es wächst schnell und gut und wird schön. Aber ihr habt es nicht einen Schluck von meiner Milch trinken lassen und es mir einfach fortgenommen. (kommt auf ihn zu und zerrt am seinem Ärmel) SCHICHTFÜHRER: Gute Frau, hier liegt eine Verwechslung vor. Sie irren sich. Jemanden, der Backe heißt, kenne ich nicht. AUGENBRAUE: Natürlich leugnest du, ihn zu kennen! Ihr Verbrecher, Kriminelle, die hilflose Kinder stehlen, Kinderhändler, ihr Teufel! Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch! Nachdem ihr mir mein Kind gestohlen hattet, gabt ihr mir Schlaftabletten zu schlucken, damit ich einschlief. Als ich wieder aufwachte, habt ihr behauptet, mein Kind wäre gleich nach der Geburt gestorben, nicht wahr? Und ihr habt eine tote Katze, der ihr das Fell abgezogen hattet, vor meinen Augen geschwenkt, das sei der Leichnam meines Kindes, sagtet ihr mir. Verbrecherpack, mein Kind habt ihr geraubt, nicht einmal das Geld soll ich kriegen. Ihr sagt, für einen Jungen gibt es eigentlich fünfzigtausend, aber mein Kind sei tot gewesen, deshalb soll ich nur zehntausend bekommen. Dann wolltet ihr mir noch meine Vormilch rauben. Habt eine Schale unter meine Brüste gehalten, mir meine Vormilch rausgequetscht, einen Milliliter für zehn Yuan! Viehische Bande, meine Vormilch ist nur für mein Kind. Zehn Yuan? Nicht mal für zehntausend verkaufe ich die. SCHICHTFÜHRER: Gute Frau, ich fordere Sie nun zum zweiten Mal auf, das Gelände zu verlassen. Sonst rufe ich die Polizei. AUGENBRAUE: Die Polizei rufen? Ja, ruft die Polizei, ich will das auch! Die Volkspolizei liebt das Volk. Wenn im Volk ein Kind verloren geht, wird sie sich darum kümmern. SCHICHTFÜHRER: Ja, darum kümmern die sich. Nicht nur, wenn du dein Kind vermisst, sogar deinen verlorenen Welpen suchen sie dir. AUGENBRAUE: Gut. Dann gehe ich zur Polizei. SCHICHTFÜHRER: Ja. Mach dich schnell auf den Weg. (zeigt mit dem Finger in die Richtung) Die Straße hoch, an der Ampel rechts. Neben der Tanzbar. Es ist die Wache an der Binhe Road. Eine Limousine verlässt hupend das Krankenhausgelände. AUGENBRAUE: (stutzt einen Augenblick lang, ruft dann wie aus dem Schlaf hochschreckend) Mein Kind! Sie haben es mir weggenommen und in dieses Auto gesteckt. (will sich auf das Auto stürzen) Ihr Diebe, Verbrecher, gebt mir mein Kind zurück! Der Schichtführer versucht sie aufzuhalten, aber auf einmal entwickelt Chen Augenbraue Bärenkräfte und wirft sich so heftig gegen ihn, dass er das Gleichgewicht verliert. SCHICHTFÜHRER: (in Panik) Haltet sie auf! Der Wachtmann am Eingangsportal stürzt vor und hält Chen Augenbraue fest, bevor sie das Auto erreicht hat. Augenbraue kämpft bis aufs Blut. Der Schichtführer kommt dazu. Beide Männer bringen sie mit vereinten Kräften unter Kontrolle. Während sie kämpft, löst sich der schwarze Schleier und rutscht von ihrem Kopf. Das entstellte Gesicht einer Schwerstbrandverletzten kommt zum Vorschein. Die beiden Wachmänner erschrecken und weichen zurück. WACHMANN: Himmel, ich glaube es nicht ... SCHICHTFÜHRER: (schaut zu Boden und sieht zahllose plattgefahrene und totgetretene Frösche) Was für eine Scheiße! Woher kommen plötzlich diese vielen Frösche? Ende des ersten Aufzugs Zweiter Aufzug Im grünen Scheinwerferlicht sieht die Bühne aus wie eine düstere Unterwasserwelt. Im hinteren Bühnenbereich befindet sich eine rundherum von zartem Gras bewachsene Berghöhle. Aus der Höhle hört man Fröschequaken und das Weinen von Säuglingen. Einige Säuglinge baumeln an Stricken von der Bühnendecke herab. Sie strampeln mit Armen und Beinen und weinen durchdringend. Im vorderen Bühnenbereich sind zwei Werkbänke zum Modellieren von Niwawa-Tonkindern aufgestellt. Hao Große Hand und Qin Strom hocken im Schneidersitz hinter den Werkbänken und modellieren konzentriert. Gugu kommt aus der Höhle hervorgekrochen. Sie trägt einen schweren schwarzen chinesischen Mantel, ihr Haar steht widerspenstig nach allen Seiten ab. GUGU: (leiert wie auswendig gelernt) Ich heiße Wan Herz und bin dieses Jahr dreiundsiebzig geworden. Ich bin seit fünfzig Jahren als Frauenärztin tätig. Obwohl ich inzwischen den Dienst quittiert habe, bin ich noch Tag und Nacht im Einsatz. Insgesamt sind neuntausendachthundertdreiundachtzig Babys mit Hilfe meiner Hände zur Welt gekommen. (blickt nach oben und schaut sich die von der Decke baumelnden Babys an) Kinder, euer Schreien ist für mich der schönste Gesang! Wenn ich euer Weinen höre, fühle ich mich wohl. Höre ich es nicht, ist die Welt für mich ohne Sinn. Es klingt von allen Geräuschen auf der ganzen Welt am allersüßesten. Es ist mein Requiem. Wie bedauerlich, dass wir früher kein Tonaufnahmegerät hatten und euer erstes Weinen nicht aufgenommen haben, sonst könnte ich es mir, solange ich lebe, täglich vorspielen, und wenn ich sterbe, wäre es die Totenmusik für meine Beerdigung. Was für ein Chor wäre das, wenn neuntausendachthundertdreiundachtzig Säuglinge gleichzeitig weinten. Herzergreifend! (völlig von dieser Idee gefangengenommen) Euer Weinen erweicht Himmel und Erde. Es wird mich in den Himmel geleiten. QIN STROM: (finster, in sich gekehrt) Pass auf, dass dich ihr Weinen nicht in die Hölle hinabzieht. GUGU: (geht zwischen den von der Decke baumelnden Säuglingen leichtfüßig hin und her, wie ein Fisch, der frisch und fröhlich im Wasser umherschwimmt; jedem Säugling, an dem sie vorbeikommt, gibt sie einen Klaps auf den Po) Ihr sollt weinen, ihr Schätzchen! Weint! Wenn ihr nicht weint, stimmt bei euch etwas nicht, wenn ihr weint, seid ihr kerngesund. HAO GROSSE HAND: Bist wohl nicht richtig im Oberstübchen? QIN STROM: Wen meinst du? GROSSE HAND: Dich meine ich. QIN STROM: Du bist vielleicht nicht richtig im Kopf! Da magst du recht haben, aber auf mich trifft das nicht zu. (selbstgefällig) Weil ich nämlich der berühmteste Niwawa-Lehmkünstler Nordost-Gaomis bin. Obwohl einige Leute das nicht zugeben wollen. Aber das ist deren Problem und nicht meins. Was das Umgehen mit Ton betrifft, bin ich in diesem Beruf nun mal der Beste überhaupt. Man muss lernen, sich selbst zu schätzen. Wenn man sich noch nicht einmal selbst achtet, warum sollten es dann andere tun? Die Tonkinder, die ich modelliere, sind wirkliche Kunstwerke. Jedes Tonkind ist hundert amerikanische Dollar wert. GROSSE HAND: Weißt du überhaupt, wie unverschämt du bist? Du warst noch ein Krabbelkind, das auf dem Boden die Hühnerkacke zusammenklaubte, als ich schon Tonkinder modellierte. Ich sag dir, Kleiner, mir wurde vom Kreisvorsteher der Titel Großmeister der volkstümlichen Lehmkunst verliehen. Und was bist du dagegen, wenn ich fragen darf? QIN STROM: Genossen und Freunde, habt ihr das vernommen? Große Hand, du bist nicht unverschämt, wie? Du mit deiner Elefantenhaut, geisteskrank bist du, eine Zwangsneurose hast du, knetest dein gesamtes Leben lang Niwawa-Tonpüppchen. Aber bis heute habe ich kein einziges fertiges Tonkind zu Gesicht bekommen. Denn jedes Mal, wenn du eins fertig hast, zerstört du es wieder, denkst, das nächste würde noch besser. Du bist wie ein Bär, der Maiskolben pflücken will. Du kriegst es einfach nicht hin. Genossen, Freunde! Schaut euch seine Hände an! Von wegen Große Hand. Er hat keine Hände, er hat Froschfüße, Entenfüße, mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. GROSSE HAND: (bewirft Qin Strom mit einem Lehmklumpen) Red keinen Unsinn, du Geisteskranker! Verschwinde hier auf der Stelle! QIN STROM: Was sollte dir das Recht verschaffen, mich von hier wegzuschicken? GROSSE HAND: Du bist hier in meinem Haus. QIN STROM: Wer kann beweisen, dass das hier dein Haus ist? (zeigt auf Gugu vor den von der Decke baumelnden Säuglingen) Kann Gugu es beweisen? GROSSE HAND: (zeigt auf Gugu) Natürlich kann sie es beweisen. QIN STROM: Wie und mit welchem Recht? GROSSE HAND: Sie ist meine Frau! QIN STROM: Mit welchem Recht behauptest du, dass sie deine Frau ist? GROSSE HAND: Wir beide haben geheiratet. QIN STROM: Was beweist, dass ihr beide geheiratet habt? GROSSE HAND: Dass ich mit ihr geschlafen habe. QIN STROM: (gequält, mit beiden Händen vor dem Gesicht, zu Gugu) Nein! Du Scharlatanin! Du hast mich betrogen. Deinetwegen habe ich meine Jugend verschwendet. Du hast mir früher versprochen, dass du nie heiraten würdest. Dein Leben lang nicht. GUGU: (keift Große Hand an) Warum reizt du ihn so? Wir haben doch vorher klare Vereinbarungen getroffen. GROSSE HAND: Daran erinnere ich mich nicht. GUGU: Das hast du vergessen? Darf ich dir ins Gedächtnis rufen, dass ich dir damals gesagt habe, ich könne dich heiraten, aber unter der Voraussetzung, dass du seine Gegenwart akzeptierst. Dass du ihn als meinen kleinen Bruder betrachtest und seine Verrücktheit, seine Überspanntheit, sein Gefasel tolerierst. Dass er bei uns isst, bei uns wohnt und dass wir ihn kleiden. GROSSE HAND: Ich muss wohl auch noch hinnehmen, dass er mit dir schläft? GUGU: Ihr Wahnsinnigen! Ihr seid beide nervenkrank! QIN STROM: (zeigt wütend auf Hao Große Hand) Er ist nervenkrank, meine Nerven sind in Ordnung. GROSSE HAND: Rumbrüllen bringt nichts, aus Scham in Wut zu geraten, bringt nichts. Da kannst du deine Faust baumhoch erheben, deine Augen können vor Wut rot wie Kirschen sein, du kannst den gehörnten Ehemann spielen, da kann dir ein Vöglein aus dem Mund fliegen, da kannst du behaart wie Borstenvieh sein. Es ändert nichts daran, dass du geisteskrank bist. Das ist so deutlich, wie mit dem Hammer in den Holzbalken getrieben, wie mit dem Meißel in den Stein graviert. GUGU: (ironisch) Diese schlechten Verse stammen wohl aus Kaulquappes Theaterstück? GROSSE HAND: (zeigt mit dem Finger auf Qin Strom) Du bist doch in regelmäßigen Abständen für drei Monate in der Nervenheilanstalt und wirst da in eine Zwangsjacke gesteckt und ruhiggestellt. Und wenn du dann immer noch nicht spurst, verpassen sie dir auf dem elektrischen Stuhl eine Elektrokrampftherapie. Die traktieren dich, bis du nur noch Haut und Knochen bist und geradeaus ins Leere starrst, wie ein afrikanisches Waisenkind. Das Gesicht voller Fliegenkot wie alter Mauerputz. Seit du dort raus bist, sind wohl schon wieder zwei Monate um? Morgen oder übermorgen musst du doch zurück, oder nicht? (Qin Strom imitiert täuschend echt das Geräusch eines Unfallwagens, am ganzen Leib zitternd kniet er auf dem Boden) Wenn du diesmal wieder reinkommst, dann bleib drinnen. Wenn sie manisch Depressive wie dich aus der Psychiatrie lassen, verursacht das in einer harmonischen Gesellschaft wie der unseren nur Unruhe! GUGU: Es reicht! Absolut! GROSSE HAND: Wäre ich Arzt, würde ich eine lebenslange Unterbringung veranlassen, ich würde dich mit einem Elektroschocker bearbeiten, bis du weißen Schaum erbrichst und die Augen verdrehst, am ganzen Körper Zuckungen hast und so einen Schock erleidest, dass du niemals mehr aufwachst. Und wenn du doch wieder aufwachst, dann ohne Gedächtnis. (mit in beide Hände vergrabenem Gesicht wälzt sich Qin Strom auf dem Boden und stößt markerschütternde Schmerzensschreie aus) GROSSE HAND: Das, was du da tust, heißt: Der Esel wälzt sich. Für mehr langt es nicht, denn die Begabung des Esels ist dürftig. Wälz dich schön weiter, immer weiter, dann wird dein Gesicht länger. Fühl mal deine Ohren, die sind schon gewachsen. Gleich bist du ein Esel. Der läuft Runde um Runde im Göpelpatt. (Qin Strom geht auf allen Vieren, den Po rausgestreckt, und imitiert den Esel im Göpel) Brav, so ein braver Esel. Nach zwei Schütten schwarzer Bohnen werden zehn Schütten Mohrenhirse gemahlen. Ein guter Esel trägt keine Augenbinde und frisst auch nicht heimlich Getreide vom Mahlstein. Sei schön fleißig, dein Herr wird dich belohnen. Ich hab schon Heu für dich geholt, das du gleich zu fressen bekommst. (Gugu kommt nach vorn und will Qin Strom hochhelfen, aber er beißt ihr in die Hand) GUGU: Du merkst nicht, wenn man gut zu dir ist. GROSSE HAND: Ich sagte bereits, hier gibt es nichts für dich zu tun. Kümmere du dich um die Kinder, lass sie nicht frieren und nicht hungern. Aber gib ihnen auch nicht zu viel, lass sie halb satt, und halte sie nicht zu warm, nur halb warm. Du hast doch immer gesagt: Wie brauchen es die Säuglinge, damit es ihnen an nichts fehlt? Zu siebzig Prozent satt, zu dreißig Prozent hungrig; zu siebzig Prozent warm, zu dreißig Prozent kalt. (dreht sich zu Qin Strom um) Warum ziehst du nicht mehr? Du bist ein fauler Esel! Muss ich dir erst Peitschenhiebe verpassen, damit du arbeitest? GUGU: Quäl ihn nicht! Er ist krank! GROSSE HAND: Er und krank? Ich glaube, die Kranke bist du! (Qin Strom steht Schaum vor dem Mund, und er fällt ohnmächtig auf den Bühnenboden) GROSSE HAND: Steh auf! Markier nicht den Toten! Dieses Spielchen treibst du nicht zum ersten Mal mit mir! Ich kenne es in- und auswendig! Auch der Heilige Pillendreher spielt es in der Jauchegrube! Pfui! Du willst dich tot stellen und mich damit erschrecken? Das funktioniert nicht, na warte! Ist doch gut, wenn du tot bist! Nun stirb, lass dich nicht aufhalten, jede Minute deines Lebens ist eine zu viel! (Gugu kommt eilig vor, sie will Qin Strom helfen, aber Hao Große Hand steht sofort auf und stoppt sie) GROSSE HAND: (voller Schmerz) Ich habe schon alles ertragen, meine Geduld ist erschöpft. Ich werde es nicht mehr erlauben, dass du dich dieser Methode bedienst, um ihn zu retten. (Gugu geht nach links, Große Hand folgt ihr, Gugu geht nach rechts, Große Hand folgt ihr) GUGU: Er ist krank. In den Augen von uns Ärzten gibt es auf der Welt nur zwei Sorten von Menschen: Die Gesunden und die Kranken. Selbst wenn jemand tags zuvor meine Eltern geschlagen hätte, würde er tags darauf krank, müsste ich den Hass vergessen und ihn retten. Selbst wenn sein großer Bruder mich vergewaltigen würde und dabei einen epileptischen Anfall bekäme, müsste ich ihn von mir runterschieben und sofort lebensrettende Maßnahmen ergreifen. GROSSE HAND: (flüstert kerzengerade aufgerichtet voller Schmerz) Jetzt hast du es zugegeben, dass du zu beiden Brüdern, zu allen beiden, tatsächlich diese zwielichtige Beziehung hast. GUGU: So ist das mit der Geschichte, mit der einige Jahrtausende währenden Zivilisationsgeschichte: Jeder, der zur Geschichte steht, ist ein Vertreter des historischen Materialismus. Jeder, der die Geschichte leugnet, ist ein Vertreter des historischen Idealismus! GUGU: (sitzt neben Qin Strom, nimmt ihn fest in den Arm, wie man einen Säugling in den Arm nimmt, schaukelt ihn und singt mit warmer, leiser Stimme ein Lied, dessen Text nicht deutlich zu verstehen ist) Wenn ich denk an dein und mein Herz, immer so leidend, dass sie fast zerspringen wollten ..., wenn ich denk an deine und meine Seele, immer nahe am Weinen, aber die Tränen durften nie sein ..., denk ich daran, dass ich Briefe schreiben wollte, aber deine Adresse nicht fand, denk ich daran, dass ich deine Lieder singen wollte, aber den Text nicht konnte ..., ich wünsche mir, dich zu küssen, finde aber deinen Mund nicht, ich wünsche mir, dich zu umarmen, finde aber deinen Körper nicht ... Ein Kleinkind mit einem grünen Lätzchen (auf das Lätzchen ist ein Frosch aufgestickt), den Schädel kahl geschoren wie eine Wassermelone, führt eine Schar Frösche (von Kindern dargestellt) in Rollstühlen, auf Krücken, mit dicken Verbänden um den Leib aus der Berghöhle heraus. Das Grüne Kind mit dem Lätzchen schreit laut: »Wir kommen die Schulden eintreiben! Wir kommen die Schulden eintreiben!« Die Frösche machen »Quak! Quak! Quak!« Gugu entfährt ein gellender Schmerzensschrei, sie schiebt Qin Strom zur Seite und versucht, den auf die Bühne drängenden Fröschen und dem Grünen Kind auszuweichen. Große Hand und Strom, der wieder bei Bewusstsein ist, schützen Gugu vor der Flut angreifender Frösche und dem Grünen Kind und geleiten sie von der Bühne. Das Grüne Kind mit dem Lätzchen und die Frösche folgen ihnen. Ende des zweiten Aufzugs Dritter Aufzug Der Besucherraum der Polizeiwache. Im Raum gibt es nur einen langen, schmalen Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Telefonbuch. An der Wand hängen eine Nationalfahne aus Goldbrokat, Urkunden für besondere Verdienste und andere Auszeichnungen. Die Polizistin Xiao Wei sitzt aufrecht und adrett gekleidet hinter dem Tisch, sie weist mit dem Finger auf den Stuhl vor dem Tisch, bedeutet Chen Augenbraue, sich zu setzen. Augenbraue, im üblichen Aufzug, mit einem schwarzen, bodenlangen Mantel und einem schwarzen Schleier, der das Gesicht verhüllt. XIAO WEI: (mit ernster Miene und der Stimme einer kleinen Studentin) Guten Tag Bürgerin, setzen Sie sich! AUGENBRAUE: (wirr, stößt unvermittelt hervor) Warum bringen Sie vor der Amtshalle nicht links und rechts eine große Trommel an? XIAO WEI: Was für Trommeln? AUGENBRAUE: Früher gab es vor der Halle des Yamen immer links und rechts eine große Trommel. Warum macht ihr das nicht? Wie soll das Volk Alarm schlagen, wie soll es jemanden anzeigen, wenn es keine Trommeln mehr gibt? XIAO WEI: Du meinst die Amtstrommeln in einem feudalistischen Yamen? Wir haben Sozialismus, Trommeln gegen erlittenes Unrecht gibt’s nicht mehr, die sind schon lange abgeschafft. AUGENBRAUE: In Kaifeng hat man sie stehen lassen. XIAO WEI: Das hast du wohl in einer Vorabendserie im Fernsehen gesehen? Mit Richter Bao in seinem Amtssitz in Kaifeng. AUGENBRAUE: Ich möchte zu Richter Bao Qingtian vorgelassen werden. XIAO WEI: Bürgerin, dies hier ist die Polizeiwache Binhe-Straße, und du befindest dich im Raum für den Publikumsverkehr. Bitte schildere mir dein Problem. Ich fertige ein Protokoll an und erstatte meinem Vorgesetzten Bericht. AUGENBRAUE: Mein Problem ist groß. Nur Richter Bao Qingtian kann es lösen. XIAO WEI: Bürgerin, Richter Bao Qingtian ist heute nicht vor Ort. Berichte mir alles, und ich werde dafür sorgen, dass er davon erfährt. Einverstanden? AUGENBRAUE: Du stehst dafür ein und versprichst es mir? XIAO WEI: Ich verspreche es. (zeigt auf den Stuhl ihr gegenüber) Setz dich bitte. AUGENBRAUE: Das einfache Volk wagt es nicht, sich zu setzen. XIAO WEI: Wenn ich möchte, dass du dich setzt, dann setz dich. AUGENBRAUE: Eure Magd dankt für den Platz. XIAO WEI: Möchtest du Wasser? AUGENBRAUE: Eure Magd trinkt jetzt kein Wasser. XIAO WEI: Bürgerin, wir drehen hier keine Fernsehfolge ab! Wie heißt du? AUGENBRAUE: Der ursprüngliche Name Eurer Magd ist Chen Augenbraue, aber sie ist tot. Besser gesagt, sie ist zur Hälfte tot, die andere Hälfte lebt noch. Eure Magd weiß ihren Namen nicht mehr. XIAO WEI: Bürgerin, erlaubst du dir einen Spaß mit mir? Wir befinden uns hier auf der Polizeiwache. Das ist kein Ort für Witze. AUGENBRAUE: Ursprünglich besaß ich die hübschesten Augen und Augenbrauen in Nordost-Gaomiland, deswegen nannten sie mich Augenbraue. Jetzt habe ich keine Augenbrauen mehr ..., nicht nur die Augenbrauen sind weg. (schrill) Auch die Wimpern und mein Haar! Deswegen gibt es keine Berechtigung mehr für den Namen Augenbraue. XIAO WEI: (begreift plötzlich) Bürgerin, kannst du einmal deinen Schleier lüften, wenn es dir nichts ausmacht? AUGENBRAUE: Das kann ich nicht. XIAO WEI: Ist meine Vermutung richtig, dass du eine Schwerbrandverletzte der Dongli-Plüschtierfabrik bist? AUGENBRAUE: Du bist wirklich klug. XIAO WEI: Ich habe damals noch die Polizeischule besucht und habe die Berichterstattung über diesen Brand im Fernsehen mitverfolgt. Wie pechrabenschwarz sind doch die Herzen der Kapitalistenbrut! Ich bemitleide dich aus tiefstem Herzen. Wenn es um die Entschädigung für deine Verletzungen geht, wende dich damit am besten ans Gericht oder ans Parteikomitee oder gleich an die Regierung oder geh zu den Nachrichtenagenturen und Medien. AUGENBRAUE: Kennst du Richter Bao Qingtian nicht? Nur er kann mir in Bezug auf das, was ich erzähle, einen Rat geben. XIAO WEI: (missmutig) Gut, dann erzähl. Ich werde deinen Bericht an meinen Vorgesetzten weitergeben, ich werde mich nach Kräften bemühen. AUGENBRAUE: Ich will Anzeige erstatten. Sie haben mir mein Kind geraubt. XIAO WEI: Wer hat dir dein Kind geraubt? Erzähl eins nach dem anderen, lass dir Zeit! Ich denke, du solltest erst einmal ein Glas Wasser trinken, den Gaumen befeuchten, du hast ja einen richtigen Frosch im Hals. (gießt Augenbraue ein Glas Wasser ein) AUGENBRAUE: Ich trinke nichts. Ich weiß, dass du die Gelegenheit nutzen wirst, mein Gesicht anzusehen. Ich hasse mein Gesicht, ich hasse es, wenn andere mein Gesicht sehen. XIAO WEI: Entschuldige vielmals. Daran habe ich gar nicht gedacht. AUGENBRAUE: Ich habe nur ein einziges Mal in den Spiegel geschaut, seit ich diese Brandverletzungen erlitten habe. Seitdem hasse ich Spiegel. Ich hasse alles, worin der Mensch sein Spiegelbild sieht. Ich wollte eigentlich sofort, nachdem ich die Schulden meines Vaters bezahlt hätte, Selbstmord begehen. Aber jetzt will ich mich nicht mehr umbringen, denn dann müsste doch mein Kind verhungern. Wenn ich mich umbrächte, würde mein Kind zur Waise. Als ich das Weinen meines Kindes hörte ... (hat einen Frosch im Hals, muss sich räuspern) wollte ich es sofort stillen, meine Brüste sind vor Milch prall wie Luftballons, sie platzen jeden Moment. Aber sie haben mir mein Kind weggenommen und vor mir versteckt ... XIAO WEI: Wer sind diese Leute? AUGENBRAUE: (schaut wachsam zur Tür) Es sind Frösche, Frösche so groß wie Topfdeckel, die wie Ochsen muhen. Es sind boshafte Frösche, Frösche, die kleine Kinder vertilgen. XIAO WEI: (steht auf und macht die Tür fest zu) Schwester, sei beruhigt, das hier sind schallgedämpfte Wände. AUGENBRAUE: Die haben übermenschliche Kräfte, sie haben ihre Hände und Augen überall, sie machen mit den Behörden gemeinsame Sache. XIAO WEI: Bao Qingtian fürchtet sie nicht. AUGENBRAUE: (verlässt ihren Stuhl und kniet am Boden) Weiser Bao Qingtian, das Unrecht, dass Eurer Magd zugefügt wurde, ist so groß wie der Ozean. Weiser Bao Qingtian entscheidet bitte für mich. XIAO WEI: Erzähl weiter! AUGENBRAUE: Großer Bao Qingtian, ergebenst erstattet Eure Magd, Chen Augenbraue aus Nordost-Gaomiland, Euch Bericht. Mein Vater Nase achtet nur Männer und missachtet Frauen. Um einen Sohn zu bekommen, schwängerte er meine Mutter heimlich mit einem überzähligen Kind. Ich bin unglücklicherweise geboren worden. Zuerst musste sich meine Mutter ständig verstecken, zuletzt haben die Behörden sie auf dem Fluss gejagt. Während sie mich auf einem Floß gebar, starb sie. Als mein Vater erkennen musste, dass ich ein Mädchen war, war er so enttäuscht, dass er mich nicht zu sich nahm, sondern mich meinem Schicksal überließ. Erst viele Monate später verlangte er mich zurück und nahm mich zu sich. Weil ich ein überzähliges Kind war, musste er eine hohe Geldbuße zahlen. Seitdem ist er ein Trinker. Wenn er betrunken war, beschimpfte und schlug er mich und meine große Schwester. Später ging ich mit ihr zusammen nach Kanton in die Fabrik. Zum einen wollten wir Geld verdienen, um die Schulden unseres Vaters zu bezahlen, zum anderen wollten wir uns eine Zukunft aufbauen. Meine Schwester und ich waren von allen bewunderte Schönheiten. Wären wir auf die schiefe Bahn geraten, hätten wir das Geld nur so gescheffelt, aber wir beide blieben tugendhaft, wir wollten wie die Lotusblumen sein, die aus dem Schlamm emporwachsen und trotzdem rein bleiben. Nie hätte ich erwartet, dass ein großes Feuer mir meine Schwester nehmen und mein Gesicht zerstören würde ... (Xiao Wei trocknet sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen) AUGENBRAUE: Meine Schwester ist gestorben, weil sie mich retten wollte. Schwester, wozu nur hast du mich gerettet? So ein Leben, nicht Mensch, nicht Geist, ist noch furchtbarer als der Tod. XIAO WEI: Diese widerwärtigen Kapitalisten. Die sollte man alle festnehmen, einsperren und exekutieren! AUGENBRAUE: Sie waren ja noch in Ordnung, für meine Schwester haben sie zwanzigtausend Yuan Entschädigung gezahlt, sie haben meine gesamten Krankenhauskosten übernommen und mir zusätzlich fünfzehntausend Yuan gegeben. Das Geld habe ich vollständig meinem Vater in die Hand gedrückt. Ich habe ihm gesagt: Vater, weil ich ein überzähliges Kind war, hattest du eine Geldbuße zu bezahlen. Dazu kommen Zinsen für zwanzig Jahre. Dieses Geld gebe ich dir jetzt komplett. Und von heute an bin ich dir nichts mehr schuldig! XIAO WEI: Dein Vater ist kein guter Vater. AUGENBRAUE: Auch wenn er schlimm ist, bleibt er mein Vater. Dir steht es nicht zu, ihn zu beschimpfen. XIAO WEI: Was hat er mit dem Geld gemacht? AUGENBRAUE: Na was schon? Futtern, trinken, rauchen; es ist alles längst vergeudet. XIAO WEI: Dieser heruntergekommene Mann, schlimmer als jeder Hund und jedes Schwein. AUGENBRAUE: Ich habe schon gesagt, ich verbitte mir, dass du meinen Vater beschimpfst. XIAO WEI: (selbstironisch) Ja, logisch, ich bin ja völlig blind. Was geschah dann? AUGENBRAUE: Dann bin ich in die Froschzuchtfirma arbeiten gegangen. XIAO WEI: Ich habe von dieser Firma gehört. Sie ist sehr bekannt. Ich hörte, dass sie aus der Froschhaut hochwertige Schutzstoffe extrahieren. Wenn sie damit erfolgreich sind, können sie ein internationales Patent anmelden. AUGENBRAUE: Genau die will ich anzeigen. XIAO WEI: Erzähl! AUGENBRAUE: Die Froschzucht ist bei denen nur ein Vorwand, um anderes zu kaschieren. Ihr eigentliches Geschäft sind Babys. XIAO WEI: Was für Babys? AUGENBRAUE: Sie haben einige Mädchen fest eingestellt, die für die Reichen als Leihmütter Babys bekommen. XIAO WEI: So etwas gibt es? AUGENBRAUE: Die Firma hat zwanzig Geheimzimmer, zu denen Außenstehende keinen Zutritt haben; dort gibt es Frauen, die schon mal verheiratet waren oder auch nicht, hässliche, wunderschöne, welche für Schwangerschaften mit Sex und welche für Schwangerschaften ohne Sex. XIAO WEI: Was? Ich kapier das nicht. Was heißt mit oder ohne Sex? AUGENBRAUE: Stell dich nicht dumm! Das musst du doch wissen, was das bedeutet? Bist du noch Jungfrau? XIAO WEI: Ich begreife das wirklich nicht. AUGENBRAUE: Für Schwangerschaften mit Sex muss die Frau mit dem Mann schlafen, als wären sie ein Paar, sie müssen solange zusammen wohnen, bis die Schwangerschaft eingetreten ist. Bei denen ohne Sex kommen die Spermien in ein Reagenzglas und werden in die Gebärmutter der Frau hineingespritzt. Bist du noch Jungfrau? XIAO WEI: Und was ist mit dir? AUGENBRAUE: Natürlich bin ich Jungfrau. XIAO WEI: Aber du hast doch gerade noch gesagt, dass du ein Kind bekommen hast. AUGENBRAUE: Ich habe ein Baby geboren, aber ich bin Jungfrau. Sie haben ihre dicke Krankenschwester damit betraut, die Spermien aus dem Reagenzglas in meine Gebärmutter zu spritzen. Deswegen bin ich zwar schwanger geworden und habe auch das Baby geboren, aber ich habe niemals mit einem Mann geschlafen. Insofern bin ich unberührt und eine Jungfrau. XIAO WEI: Wer sind diese Leute, von denen du sprichst? AUGENBRAUE: Das kann ich nicht sagen. Wenn ich das sage, dann ermorden sie mein Kind. XIAO WEI: Ist das der Dicke von der Froschzuchtfirma? Wie heißt er gleich? ... Yuan Backe! AUGENBRAUE: Wo ist Backe? Den suche ich nämlich! Dieses Vieh! Der hat mich betrogen! Die ganze Bande macht gemeinsame Sache und hat mich betrogen! Die haben behauptet, mein Kind wäre gleich nach der Geburt gestorben. Die haben eine tote Katze genommen, der sie das Fell über die Ohren gezogen hatten, und sie für mein Baby ausgegeben. Die haben mir Theater vorgespielt, die moderne Version von Den Himmelssohn gegen eine Schleichkatze eingetauscht. Die haben das als Vorwand genommen, um mir mein Geld vorzuenthalten. Damit ich mein Kind nicht suche. Das Geld will ich nicht. Ich hänge nicht am Geld. Sonst hätte ich damals in Kanton eingewilligt, als ein taiwanesischer Geschäftsführer mir eine Million Yuan geboten hat, wenn er mich drei Jahre lang besitzen könnte. Ich will das Kind. Mein Kind ist das allerfeinste auf der ganzen Welt. Richter Bao! Eure Magd bittet Euch untertänigst, sich für sie einzusetzen. XIAO WEI: Haben sie einen Vertrag mit dir geschlossen, den ihr gemeinsam unterschrieben habt, bevor die künstliche Befruchtung bei dir durchgeführt wurde? AUGENBRAUE: Haben sie. Nach Vertragsabschluss haben sie auch ein Drittel der Leihmutterpauschale bezahlt. Nach der Geburt des Kindes sollte die zweite Rate und nach der erfolgten Übergabe des Kindes der Rest bezahlt werden. XIAO WEI: Das könnte zum Problem werden. Aber egal. Richter Bao Qingtian wird den Fall schon richtig analysieren. Fahr bitte fort. AUGENBRAUE: Sie sagten mir, die Spermien seien von einem hohen Tier. Der habe gute Gene, er sei ein Genie. Sie sagten, dass er, um ein gesundes Baby zu bekommen, ein halbes Jahr lang mit dem Rauchen aufgehört habe, mit dem Schnapstrinken sowieso, und jeden Tag eine Abalone-Schnecke und zwei Seegurken verspeist habe. XIAO WEI: (höhnisch) Der muss es ja richtig dicke haben. AUGENBRAUE: Eine gesunde Nachkommenschaft zu zeugen ist eine große, langfristige Aufgabe, für die kein Einsatz zu hoch ist. Man sagte mir, der Kader habe Fotos von mir aus der Zeit vor meiner Brandverletzung gesehen, und er fände, ich sei eine wunderschöne gemischtrassige Frau. XIAO WEI: Wenn du für Geld nicht empfänglich bist, warum arbeitest du dann als Leihmutter? AUGENBRAUE: Habe ich gesagt, dass ich kein Geld mag? XIAO WEI: Das hast du gerade wörtlich gesagt. AUGENBRAUE: (erinnert sich) Mir fällt es jetzt wieder ein. Weil mein Vater einen Verkehrsunfall hatte und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, deswegen habe ich eingewilligt, eine Leihmutterschaft zu übernehmen, damit ich seine Krankenhauskosten bezahlen konnte. XIAO WEI: Du besitzt wahrlich Kindespietät. Und das bei solch einem Vater. Ob er tot oder lebendig ist, spielt doch eigentlich gar keine Rolle. AUGENBRAUE: Darüber habe ich natürlich auch nachgedacht. Aber er ist schließlich doch mein Vater. XIAO WEI: Deswegen sage ich ja, du besitzt eine beispielhafte Kindespietät. AUGENBRAUE: Ich bin mir sicher, dass mein Kind lebt. Weil ich seinen ersten Lebensschrei gehört habe. Horch mal! Es weint schon wieder. Ach, mein liebes Kind, nicht einen einzigen Schluck Milch durftest du bei deiner Mutter trinken. Mein armes, armes Kind. (der Revierführer kommt zur Tür herein) REVIERFÜHRER: Was ist das hier für ein Gejaule? Wenn’s was zu sagen gibt, dann bitte vernünftig, Wort für Wort! AUGENBRAUE: (am Boden kniend) Weiser Richter Bao, wollen Richter Bao sich für Eure Magd einsetzen und den Prozess führen? REVIERFÜHRER: Was ist hier los? Der reinste Hühnerhof! XIAO WEI: (mit gedämpfter Stimme) Revierführer, das hier ist sehr wahrscheinlich ein erschütternder Fall von größerer Bedeutung! (händigt dem Revierführer das Protokoll aus, der schaut einmal kurz darüber) Es handelt sich offensichtlich um organisiertes Verbrechen auf den Gebieten Prostitution und Menschenhandel mit Säuglingen. AUGENBRAUE: Weiser Richter Bao, ich flehe Euch an, rettet bitte mein Kind! REVIERFÜHRER: Ist gut, Bürgerin Chen Augenbraue. Wir haben den von dir geschilderten Fall aufgenommen. Wir werden Richter Bao bestimmt davon in Kenntnis setzen. Du kannst jetzt gehen und unsere Nachricht abwarten. (Augenbraue verlässt die Bühne) XIAO WEI: Revierführer! REVIERFÜHRER: Du bist neu hier und kennst dich mit den hiesigen Gepflogenheiten nicht aus. Diese Frau ist eins der Schwerbrandopfer der Dongli-Plüschtierfabrik. Sie ist geistig verwirrt. Man sollte Mitleid mit ihr haben, aber wir können ihr nicht helfen, selbst wenn wir es möchten. XIAO WEI: Revierführer, ich habe gesehen ... REVIERFÜHRER: Was hast du gesehen? XIAO WEI: (geniert sich) Aus ihren Brüsten tropft Milch. REVIERFÜHRER: Das wird Schweiß gewesen sein. Xiao Wei, du bist neu im Revier, frisch im Beruf. Wenn man unseren Job machen will, muss man immer wachsam sein und niemals sensibel. Die Nerven dürfen nicht verrücktspielen. Ende des dritten Aufzugs Vierter Aufzug Gleiches Bühnenbild wie zweiter Aufzug. Hao Große Hand und Qin Strom formen Tonkinder, jeder vor seiner eigenen Werkbank. Ein Mann mittleren Alters, gekleidet in einen zerknitterten grauen Anzug, mit einer roten Krawatte um den Hals, in der Brusttasche einen Füllfederhalter und eine Aktentasche unter den Arm geklemmt, betritt leise, verstohlen die Bühne. GROSSE HAND: (schaut gar nicht auf) Kaulquappe, du schon wieder! KAULQUAPPE: (bewundernd, respektvoll) Onkel Hao, du hast übernatürliche Fähigkeiten. Dein Gehör sagt dir, dass ich es bin. GROSSE HAND: Ich habe dich nicht kommen hören, ich habe dich gerochen! QIN STROM: Der Geruchssinn eines Hundes ist zehntausendmal besser als der eines Menschen. GROSSE HAND: Wag es nicht, mich zu beschimpfen! QIN STROM: Habe ich dich beschimpft? Ich habe nur gesagt, dass Hunde einen zehntausendmal besseren Geruchssinn besitzen als Menschen. GROSSE HAND: Du hörst also immer noch nicht auf damit? (knetet rasch ein Gesicht, das die Gesichtszüge von Qin Strom trägt, hält es hoch, lässt Kaulquappe und Qin Strom einen Blick darauf werfen, um es sodann mit Schwung auf den Boden zu pfeffern) Dich unverschämte Person werfe ich auf dem Boden platt. QIN STROM: (formt blitzschnell Große Hands Gesicht, hebt es hoch, damit Kaulquappe es sehen kann, und schmeißt den Klumpen mit aller Kraft zu Boden) Ich werfe dich alten Hund platt! KAULQUAPPE: Onkel Hao und Onkel Qin, streitet euch nicht! Ihr beiden Großmeister, was ihr da gerade modelliert habt, sind zwei großartige Kunstwerke gewesen. Zu schade, dass ihr sie zerstört habt! GROSSE HAND: Hör auf, überflüssiges Zeug zu reden. Sonst modellier ich dich und werf dich auch platt! KAULQUAPPE: Ich bitte dich, modellier mein Gesicht, ohne es danach auf den Boden zu werfen. Wenn mein Stück als Buch erscheint, werde ich ein Foto davon für den Umschlag verwenden. GROSSE HAND: Ich habe dir bereits gesagt, deine Tante beobachtet lieber Ameisen, die am Baum hochkrabbeln, als dass sie dein dürftiges Theaterstück lesen wird. QIN STROM: Sei fleißig und bestell dein Feld. Wozu schreibst du ein Theaterstück? Wenn du gute Theaterstücke schreiben kannst, dann futtre ich diesen Klumpen Tonerde auf. KAULQUAPPE: Onkel Hao, Onkel Qin! Gugu ist nicht mehr die jüngste. Ihre Sehkraft hat nachgelassen. Ich wage nicht, euch alte Leute zur Aufführung einzuladen. Ich möchte Gugu das Stück vorlesen, und gleichzeitig euch. Ihr kennt ja sicher die meisterhaften Dramatiker Cao Yu und Lao She, die immer erst einmal zu den Schauspielern ins Theater gegangen sind und ihnen ihre Stücke vorgelesen haben. GROSSE HAND: Du bist aber weder Cao Yu noch Lao She. QIN STROM: Und wir sind auch keine Schauspieler und noch weniger Regisseure. KAULQUAPPE: Aber ihr seid Charaktere in meinem Schauspiel. Ich habe eine Menge Tinte verbraucht, um euch gelungen dazustellen. Wenn ihr es nicht hören wollt, verpasst ihr einiges. Wenn ihr es euch jetzt anhört und euch missfällt etwas, kann ich es zurzeit noch ändern. Wenn ihr es euch nicht anhört, es dann aber im Theater seht, oder es erscheint als Buch, dann kommt die Reue, es vorher nicht gehört zu haben, zu spät. (plötzlich mit tragischem Gesichtsausdruck) In dieses Theaterstück sind zehn Jahre meiner Lebenszeit geflossen, das gesamte Familienvermögen ist dabei draufgegangen, sonst hätte ich es nicht schreiben können. Ich habe sogar ein paar der besten Balken aus unserem Dach entfernt und verkauft. (hält sich die Hand auf die Brust, hustet ein paar Mal gequält) Um dieses Stück zu schreiben, habe ich bitteren, scharfen Pfeifentabak geraucht – wenn ich keinen Pfeifentabak mehr hatte, habe ich Schnurbaumblätter genommen –, ich habe ungezählte schlaflose Nächte durchlebt, meinen Körper ruiniert, Reserven aufgebraucht, die ich gar nicht hatte. Und warum das alles? Um berühmt zu werden? Um Profit zu machen? (schrill) Nein! Bestimmt nicht! Ich tat es aus Liebe zu meiner Tante! Um ihr, der heiligen Mutter unserer Heimat Nordost-Gaomi, ein Denkmal zu setzen, um ihre Biographie aufzuzeichnen. Wenn ihr mich heute nicht lesen lasst und mir nicht zuhört, sterbe ich hier vor euren Augen. GROSSE HAND: Wen willst du damit ins Bockshorn jagen? Wie willst du sterben? Dich aufhängen oder Gift trinken? QIN STROM: Das klingt alles sehr ergreifend. Ich denke, dass ich es doch ganz gern hören möchte. GROSSE HAND: Wenn du das Stück vorlesen willst, dann lies, aber nicht hier in meinem Haus. KAULQUAPPE: Dieses Haus ist wohl in erster Linie Gugus Haus und erst in zweiter Linie, und auch nur möglicherweise, deines. Gugu kommt aus der Höhle hervorgekrochen. GUGU: (ziemlich träge) Wer spricht da von mir? KAULQUAPPE: Gugu, ich bin es. GUGU: Ich weiß schon, dass du es bist. Was führt dich her? KAULQUAPPE: (öffnet eilig bemüht die Aktentasche, greift einen Stapel Manuskriptpapier heraus, um dann rasch herunterzubeten) Gugu, ich bin es, die Kaulquappe der beiden Kreise Nordost-Gaomi und Pingdu. (Qin Strom und Hao Große Hand tauschen einen beklommenen Blick aus) Yu Peisheng ist mein Vater und Sun Fuxia ist meine Mutter. Ich bin eines von den Süßkartoffelkindern, und ich bin das erste Kind, das du auf die Welt geholt hast. Meine Frau Tan Yuzi gehört auch zu den Kindern, die du auf die Welt geholt hast. Ihr Vater ist Tan Jinhai und ihre Mutter ist Huang Yueling. GUGU: Hör auf damit! Jetzt hast du als Stückeschreiber sogar die Nachnamen geändert. Die Geburtstage auch? Die Eltern stimmen nicht mehr? Der Geburtsort soll auch ein anderer sein? Und die Ehefrau ist ebenfalls eine andere? (Gugu läuft grübelnd, mit gesenktem Kopf zwischen den von der Decke baumelnden zwölf, dreizehn Kindern hin und her. Dann stampft sie auf und schlägt sich mit der Faust gegen die Brust. Kurz darauf drischt sie einem der Kinder brutal auf den Po. Es beginnt zu weinen. Gugu schlägt den Säuglingen reihum auf den Po, alle beginnen zu weinen. Gugu fällt mit einem nicht enden wollenden Redefluss in das Stimmengewirr der Säuglinge ein, deren Weinen mit der Zeit schwächer wird.) Ihr Süßkartoffelkinder, seid brav und hört auf mich, ich habe euch alle mit meinen eigenen Händen ans Licht der Welt gezogen! Ihr kleinen Racker habt mich Kraft gekostet! Jeder einzelne von euch! Über fünfzig Jahre lang habe ich in diesem Beruf gearbeitet, und auch jetzt lege ich die Hände noch nicht in den Schoß. In den vergangenen fünfzig Jahren habe ich nur wenige Mahlzeiten warm verzehrt, nur selten durchgeschlafen, hatte blutige Hände, schweißnasses Haar, war kotbeschmiert, vollgepinkelt. Denkt ihr vielleicht, ich habe als Dorffrauenärztin eine einfache Arbeit? Bei jeder der mehr als fünftausend Familien unserer achtzehn Dörfer in Nordost-Gaomiland bin ich zu Hause gewesen. Ich habe die fahle Haut am Bauch eurer Frauen und Mütter gesehen. Eure miesen Väter habe ich sterilisiert! Und egal, ob ihr jetzt hohe Beamte seid oder schwer zu Geld gekommen, egal, ob ihr beim Kreisvorsteher bockig seid oder euch beim Bürgermeister wild aufführt, vor mir müsst ihr schön brav, ehrlich und anständig sein, ihr habt gerade zu stehen und zu warten. Wenn ich es mir recht überlege, hätte ich euch Bande wilder Rüden doch alle kastrieren sollen. Eure Frauen hätten dann weniger zu leiden gehabt. Grinst nicht so dumm! Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit! Die Geburtenplanung ist eine Angelegenheit von erstrangiger Bedeutung, sie wirkt sich aus auf die Finanzen unseres Staates und auf die Lebensqualität unseres Volkes. Da nutzt auch euer breites Grinsen nichts, die Abtreibungen, die sein müssen, werden gemacht, und wer kastriert werden muss, wird kastriert. Die Männer sind einer wie der andere schlimme Finger. Von wem stammt dieser Satz? Ihr wisst es nicht? Ihr nicht, und ich auch nicht. Ich weiß dafür aber, dass er stimmt. Die Männer sind alle schlimme Finger. Und trotzdem können wir ohne euch nicht sein! Seit Pangu Himmel und Erde schuf, besteht diese Ordnung: es gibt den Tiger und das Wildkaninchen, den Sperber und den Spatz, die Fliegen und die Mücken ... Nicht eine einzige Art darf fehlen zu einer vollständigen Welt. Im afrikanischen Urwald soll es einen Stamm geben, der auf den Bäumen lebt. In den Ästen haben sie mehrstöckige Nester gebaut, und die Frauen sitzen in den Nestern und legen Eier. Wenn sie ihr Ei gelegt haben, hocken sich die Frauen auf einen Ast und essen von den Früchten des Baumes. Die Männer tragen Kleidung aus Blättern, sitzen im Nest und brüten die Eier aus. Sie brüten siebenmal sieben Tage lang, also insgesamt neunundvierzig. Dann stoßen die Kindchen die Eischale von innen auf und springen heraus. Sie können sofort auf den Bäumen klettern. Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich glaube es. Ich habe mal ein Ei auf die Welt gezogen, groß wie ein Fußball ist es gewesen. Das haben wir auf den Kang gelegt und es einen halben Monat lang ausgebrütet. Dann ist die Schale gesprungen, und es blubbte ein Kindchen heraus, ein Dickerchen mit schöner weißer Haut, das wir Dansheng, Eigeburt, nannten. Leider ist das hübsche Kind an einer Hirnhautentzündung gestorben. Wäre es am Leben geblieben, wäre es heute vierzig Jahre alt. Wenn Eigeburt noch lebte, wäre er sicher ein berühmter Schriftsteller geworden, denn er wählte an seinem ersten Geburtstag den Pinsel. Die Eltern hatten nach altem Brauch für verschiedene Berufe typische Gegenstände vor ihn hingelegt, von denen er einen auswählen durfte. Wenn im Wald der Tiger fehlt, wird der Affe König. Eigeburt starb, so erst kam es, dass es an dir war, dich mit Tusche und Pinsel zu versuchen. KAULQUAPPE: (in grenzenloser Bewunderung) Gugu, du sprichst mal wieder druckreif. Du bist nicht nur eine hervorragende Frauenärztin, sondern auch eine exzellente Stückeschreiberin! Deine beiläufig ausgespuckten Reden sind stets ausgezeichnete Bühnendialoge! GUGU: Was heißt hier beiläufig ausgespuckte Reden? Darüber habe ich lange Zeit gewissenhaft nachgedacht. (zeigt auf den Stapel Manuskriptpapier in Kaulquappes Hand) Ist dies das von dir verfasste Theaterstück? KAULQUAPPE: (höflich und bescheiden) Ja. GUGU: Wie ist der Titel des Stücks? KAULQUAPPE: Frösche 蛙 GUGU: Ist es das 娃 »Wa« von Baby wie im Wort Niwawa oder das 蛙 »Wa« von Frosch wie im Wort Qingwa? KAULQUAPPE: Vorläufig ist es noch das Wa der Frösche, aber natürlich können wir es auch in das Wa von Baby wie im Wort Niwawa oder in das Wa von Nüwa, der Urahnin der Menschheit, ändern. Nüwa erschuf die Menschen, und die Frösche sind bei uns das Symbol für Kinderreichtum, sie sind unsere Totemtiere hier in Nordost-Gaomi; in unserer Lehmkunst, in unseren Neujahrsbildern, überall finden sich viele Beispiele, wie wir die Frösche vergöttern. GUGU: Aber dir war doch bewusst, dass ich entsetzliche Angst vor Fröschen habe? KAULQUAPPE: Mein Stück analysiert deine Froschphobie. Wenn du mein Stück zu Ende gelesen hast, sollte der Knoten geplatzt sein, und dann hast du vielleicht nie wieder Angst vor Fröschen. GUGU: (streckt die Hand aus) Dann gib mir mal dein Manuskript. (Kaulquappe reicht ihr respektvoll das Theaterstück) GUGU: (zu Qin Strom und Hao Große Hand gewandt) Hört zu, ihr beiden: Wer von euch wirft dieses dumme Geschreibsel ins Feuer? KAULQUAPPE: Gugu, zehn Jahre meines Lebens und mein Herzblut stecken darin! GUGU: (hebt die Hand mit dem Stapel Papier und wirft ihn schwungvoll zu Boden, wobei die Blätter völlig durcheinander geraten) Ich muss das nicht erst lesen. Ich brauche nur daran zu riechen und bin im Bilde, von was für Blähungen du dich da befreit hast. Und deine kleine Buchgelehrsamkeit soll dich in die Lage versetzt haben, den Grund für meine Angst vor Fröschen zu analysieren? Kaulquappe, Qin Strom und Hao Große Hand kriechen auf dem Bühnenboden herum, um die Manuskriptseiten aufzuklauben. GUGU: (besessen davon, sich ganz genau zu erinnern) An dem Vormittag, als du geboren wurdest, habe ich mir die Hände im Fluss gewaschen, und da habe ich ganze Trauben von Kaulquappen gesehen, das Wasser war über und über voll davon. In jenem Jahr hat eine große Trockenheit geherrscht; deshalb hat es ausgesehen, als wären es mehr Kaulquappen als Wasser. Bei diesem Anblick dachte ich: Wahrscheinlich wird nicht mal ein Zehntausendstel davon zu Fröschen, die meisten werden im Schlamm vertrocknen. Sie waren den männlichen Samenfäden sehr ähnlich. Samenfäden gibt es massenweise, aber mit der Eizelle verschmelzen und zu einem Baby werden kann wohl höchstens einer von zehn Millionen. Damals spürte ich, dass zwischen der Fruchtbarkeit der Frösche und der Menschen ein geheimnisvolles Band besteht. Als deine Mutter mich um einen Namen für dich bat, sagte ich intuitiv: Kaulquappe. Deine Mutter sagte: Ein vortrefflicher Name! Kaulquappe, mit einem so erbärmlichen Namen ist das Kind geschützt, dann kriegen wir es leichter groß. Kaulquappe, dein Name ist königlich. Kaulquappe, Qin Strom und Hao Große Hand halten jeder ein paar Seiten des Manuskripts in der Hand und hören still zu. KAULQUAPPE: Danke, Gugu! GUGU: Dann stand in der Volkszeitung ein Bericht über eine Verhütungsmethode namens Kaulquappenmethode. Die Frauen mussten, wenn der Eisprung nahte, vor dem Geschlechtsverkehr vierzehn lebendige Kaulquappen schlucken. Das sollte die Befruchtung verhindern. Die Frauen, die diese Methode anwandten, gebaren aber kleine Frösche. GROSSE HAND: Gugu, bitte hör davon auf! Sonst bekommst du wieder einen Rückfall. GUGU: Was sagst du, wer erleidet einen Rückfall? Ich habe keine Krankheit. Die Leute, die Frösche gegessen haben, sind krank. Sie stiften Frauen dazu an, dass sie den Fröschen am Fluss mit einer scharfen Schere den Kopf abschneiden und sie dann häuten, als würden sie ihnen die Hosen ausziehen. Die Schenkel der Frösche haben große Ähnlichkeit mit Frauenbeinen. Damals begann das mit meiner Froschphobie. Die Schenkel der Frösche sind wie Frauenschenkel. QIN STROM: Leute, die Frösche essen, bekommen irgendwann ihre Strafe. Die Frösche haben bestimmte Parasiten, die auch ins Gehirn wandern. Die Leute werden also verrückt davon. Zum Schluss fällt auf, dass ihre Gesichtszüge denen von Fröschen immer ähnlicher werden. KAULQUAPPE: Das ist eine gute Idee für mein Stück. Die Leute, die Frösche gegessen haben, werden zuletzt selber zu Fröschen. Aber Gugu ist eine die Frösche schützende Heldin. GUGU: (erbärmlich leidend) Das stimmt nicht, mein Körper ist bereits mit Froschblut in Kontakt gekommen. Ich wusste nichts davon, man hat mich betrogen. Ich habe Froschfleisch gegessen, aus dem man Fleischklößchen zubereitet hatte. Wie in der Sage, die dein Großonkel mir erzählt hat: König Wenwang vom Reich der Zhou aß versehentlich das Fleisch seines eigenen Sohnes, denn man hatte davon Fleischklößchen gemacht und ihn aufgefordert, sie zu essen. Dann floh König Wen aus Zhaoge. Als er sich bückte, erbrach er die kleinen Klößchen. Sie wurden alle zu Wildkaninchen. Als ich an jenem Tag nach Hause kam, hatte ich furchtbare Magenkrämpfe, auch ein Rumoren wie Fröschequaken konnte man hören. Es war so unangenehm, so ekelerregend. Am Flussufer hielt ich es nicht mehr aus und erbrach kleine grüne Klößchen. Als sie ins Wasser plumpsten, wurden sie zu Fröschen. Das Grüne Kind mit dem grünen Lätzchen führt die Schar schwerbehinderter Frösche aus der Berghöhle heraus und schreit mit hohem Stimmchen. GRÜNES KIND: Wir kommen die Schulden eintreiben! Wir kommen die Schulden eintreiben! Die »Frösche« quaken erbost in voller Lautstärke »Quak! Quak! Quak!« Gugu schreit gellend auf und sinkt ohnmächtig zu Boden. Hao Große Hand hält Gugu umfasst und zupft ihr am Philtrum, damit sie wieder zu sich kommt. Qin Strom vertreibt das Kleinkind mit dem grünen Lätzchen und die von ihm angeführte Froschschar. Kaulquappe hebt sein Manuskript Blatt für Blatt auf. KAULQUAPPE: (holt eine leuchtend rote Einladungskarte hervor) Gugu, ich kenne den ursächlichen Grund für deine Froschphobie. Ich weiß auch, dass du in den letzten Jahren angefangen hast, auf verschiedene Art und Weise das zu sühnen, was du für dein Verbrechen hältst. Aber eigentlich hast du nichts Böses getan, denn die zerstückelten Frösche sind nur Chimären, die deinen Geist belagert haben. Gugu, mit deiner Hilfe wurde mein Sohn geboren. Zu seiner Geburt richte ich ein großes Fest aus. Ich möchte dich dazu einladen, Gugu. (zu Große Hand und Qin Strom gewandt) Euch beide lade ich auch ein, kommt vorbei. Ende des vierten Aufzugs Fünfter Aufzug Nachts zu später Stunde. Das Licht fällt schräg auf die Bühne, die golden leuchtet. An einer Ecke des Niangniang-Tempels, am Fuße einer mächtigen Säule, sieht man Chen Nase zusammengekrümmt mit seinem Hund sitzen (den Hund kann ein Mensch spielen). Vor Nase steht ein verbeulter Blechnapf, in dem sich ein paar Geldscheine und einige Münzen befinden. Nases Krücken stehen neben ihm. Chen Augenbraue trägt den üblichen langen schwarzen Mantel, ihr Gesicht ist schwarz verhüllt, wie ein Spukgespenst erscheint sie auf der Bühne. Zwei Männer in schwarzer Kleidung und mit schwarz verhüllten Gesichtern folgen ihr auf die Bühne. AUGENBRAUE: (wehklagend) Kind ... mein Kleines ... wo bist du ... mein Kind ... wo bist du ... (die beiden schwarz vermummten Männer kommen auf Augenbraue zu) AUGENBRAUE: Wer seid ihr? Warum habt ihr euch wie ich ganz schwarz vermummt? O, ich verstehe, ihr gehört wie ich zu den Schwerbrandopfern von Dongli. VERMUMMTER 1: Richtig, wir gehören auch dazu. AUGENBRAUE: (mit wachem, klarem Geist) Das kann nicht sein. Die Opfer des Brandes in Dongli waren ausschließlich Frauen, ihr aber seid Männer. Da besteht kein Zweifel. VERMUMMTER 2: Wir sind Opfer eines Brandes in einer anderen Fabrik. AUGENBRAUE: Wie ich euch bedauere! VERMUMMTER 1: Richtig, wir sind sehr zu bedauern. AUGENBRAUE: Ihr habt so zu leiden ... VERMUMMTER 2: Richtig, wir haben sehr zu leiden. AUGENBRAUE: Habt ihr eine Hauttransplantation bekommen? VERMUMMTER 1: (versteht nicht) Transplantation? Welche Haut? AUGENBRAUE: Von deinem Hintern, deinem Oberschenkel, von den nicht brandverletzten Stellen wird gute Haut abgeschält und auf die verbrannten Stellen übertragen. Habt ihr etwa keine Transplantation bekommen? VERMUMMTER 2: Doch, die Haut von unseren Pobacken hat der Arzt runtergeschält und sie auf unser Gesicht gepflanzt. AUGENBRAUE: Haben sie euch Augenbrauen gemacht? VERMUMMTER 1: Haben sie. AUGENBRAUE: Haben sie euer Kopfhaar oder euer Schamhaar benutzt? VERMUMMTER 2: Was sagst du da? Schamhaare können auch zu Augenbrauen werden? AUGENBRAUE: Wenn die Kopfhaut restlos verbrannt ist, dann werden die Schamhaare benutzt. Schamhaare sind besser als gar keine Haare. Wenn auch die Schamhaare komplett weg sind, dann muss es ohne gehen. Dann bleibt das Gesicht nackt wie bei einem Frosch. VERMUMMTER 1: Richtig, wir haben überhaupt keine Haare. Wir sind splitternackt und sehen aus wie Frösche. AUGENBRAUE: Habt ihr euch mal im Spiegel angeschaut? VERMUMMTER 2: Wir schauen nie in den Spiegel. AUGENBRAUE: Wir Verbrennungskranken fürchten und hassen nichts mehr als Spiegel. VERMUMMTER 1: Richtig. Wir zertrümmern Spiegel. AUGENBRAUE: Es ist doch zwecklos, dass ihr Spiegel zerstört, aber die Schaufenster der Geschäfte ganz lasst, die Marmorwände nicht anrührt, auch nicht das Wasser und die Augen, in denen wir uns ebenso spiegeln. Die Leute schreien entsetzt auf, wenn sie uns sehen, laufen fort. Die Kinder weinen vor Schreck. Sie beschimpfen uns als Dämonen, Hexen. In ihren Augen erblicken wir unser Spiegelbild. Die beste Methode ist immer noch, das eigene Gesicht zu verstecken. VERMUMMTER 2: Richtig! Deswegen haben wir unsere Gesichter schwarz verschleiert. AUGENBRAUE: Habt ihr daran gedacht, euch umzubringen? VERMUMMTER 2: Wir ... AUGENBRAUE: Soviel ich weiß, haben sich von uns Mädchen, die als Schwerbrandopfer überlebten, schon fünf das Leben genommen. Nachdem sie in den Spiegel geschaut hatten, haben sie ihrem Leben ein Ende gemacht. VERMUMMTER 1: Daran sind die Spiegel schuld. VERMUMMTER 2: Deswegen zertrümmern wir Spiegel. AUGENBRAUE: Ich wollte mich ursprünglich auch umbringen, aber dann wollte ich doch am Leben bleiben. VERMUMMTER 1: Am Leben bleiben ist besser. Ein guter Tod wiegt ein qualvolles Leben nicht auf. AUGENBRAUE: Seit ich schwanger war, seit ich spürte, dass da ein kleines Wesen in meinem Bauch rumorte, seit diesem Augenblick wollte ich leben und nicht sterben. Ich fühlte mich wie eine hässliche Hülle, aus der ein hübsches Leben schlüpfen sollte. Danach würde ich als leere Puppenhülse zurückbleiben. VERMUMMTER 2: Das hast du schön gesagt. AUGENBRAUE: Als ich mein Kind geboren hatte, war ich wider Erwarten keine leere Puppe geblieben und nicht von selbst langsam abgestorben. Ich war keineswegs vertrocknet und auch nicht verschrumpelt. Ich bin saftig geworden wie ein Pfirsich, die stramme Haut auf meinem Gesicht fühlt sich nun fast zart an. Meine Brüste laufen von Milch über ... Die Schwangerschaft hat mir ein neues Leben geschenkt. Aber sie haben mir mein Kind weggenommen. VERMUMMTER 1: Komm mit uns. Wir wissen, wo dein Kind steckt. AUGENBRAUE: Ihr wisst, wo mein Kleines ist? VERMUMMTER 2: Wir sind hier, weil wir dich zu deinem Kind bringen wollen, damit du es sehen kannst. AUGENBRAUE: (aufgeregt) Dem Himmel sei Dank! Bringt mich schnell zu ihm! Schnell! Die schwarz Vermummten ergreifen sie, haken sie fest von beiden Seiten unter. Chen Nases Hund springt pfeilschnell den schwarz vermummten Mann Nr. 1 an und beißt ihn ins linke Bein. Nase springt auf und hüpft auf beiden Krücken herbei. Auf eine Krücke gestützt, versetzt er mit der anderen Hand dem Vermummten Nr. 2 einen Stoß und rammt ihn wiederholt. Die beiden Vermummten reißen sich vom Hund und von Nase los und weichen auf eine Seite der Bühne zurück. In ihrer Hand blitzt ein Dolch oder eine ähnlich scharfe Waffe auf. Nase und sein Hund stehen nebeneinander. Augenbraue befindet sich vorn auf der Bühne. Die beiden Maskierten, Nase und Augenbraue bilden so ein Dreieck. CHEN NASE: (wütend brüllend) Lasst meine Tochter los! VERMUMMTER 1: Du Halbtoter, Säufer, Pennbruder, du Bettler, du wagst es, jemanden deine Tochter zu nennen? VERMUMMTER 2: Ruf sie mal beim Namen, deine Tochter. Wollen mal sehen, ob sie dich überhaupt kennt. CHEN NASE: Augenbraue, mein armes, armes Kind. AUGENBRAUE: (kalt) Hier liegt eine Verwechslung vor. Du hast dich getäuscht. CHEN NASE: (zerknirscht) Augenbraue, ich weiß, dass du mich hasst. Ich habe dich und deine Schwester um Verzeihung zu bitten. Auch deine Mutter. Ich habe euer Leben zerstört, ich bin ein Verbrecher, ein Stück Müll, jemand, der lebt, aber nicht leben will. Ich bin wie ein Toter, der noch am Leben ist. VERMUMMTER 1: Das nennst du deine Verbrechen bereuen? Gibt es hier in der Nähe eine Kirche? VERMUMMTER 2: Rechts hinunter den Fluss entlang kommt nach zehn Kilometern eine seit kurzem fertiggestellte katholische Kirche. CHEN NASE: Augenbraue, du bist ihnen ins Netz gegangen. Dein Vater kennt sie. Diese Betrüger sind alte Freunde deines Vaters. Ich werde Gerechtigkeit für dich einfordern! VERMUMMTER 1: Alter, geh aus dem Weg und halt den Mund. VERMUMMTER 2: Mädchen, komm mit uns, wir versprechen dir, dass du dein Kind sehen wirst. Chen Augenbraue will zu den Vermummten gehen, aber Nase und sein Hund halten sie auf. AUGENBRAUE: (wutentbrannt) Wer bist du, dass du es wagst, dich mir in den Weg zu stellen? Ich will jetzt zu meinem Kind, ist dir das klar? Mein Kind hat seit seiner Geburt nicht einen einzigen Schluck Milch zu trinken bekommen. Wenn ich ihm jetzt nicht zu trinken gebe, wird es verhungern, verstehst du das nicht? CHEN NASE: Augenbraue, ich kann verstehen, dass du mich hasst. Dass du mich nicht mehr als deinen Vater anerkennst, kann ich nachvollziehen. Aber geh nicht mit ihnen mit. Sie haben dein Kind verkauft. Wenn du mit ihnen gehst, werden sie dich im Fluss ertränken, sie werden behaupten, dass du in den Fluss gesprungen bist und dich umgebracht hast. So etwas machen sie nicht zum ersten Mal. VERMUMMTER 1: Alter, du betreibst hier Rufmord! Du scheinst wirklich genug vom Leben zu haben, wie? VERMUMMTER 2: Was faselst du? In unserer Gesellschaft gibt es solche verächtlichen Vorfälle, wie du sie schilderst, gar nicht: Meuchelmord und andere grausige Bluttaten. VERMUMMTER 1: Der hat zu viele Filme in den kleinen Klitschen an der Straße gesehen. VERMUMMTER 2: Wahrscheinlich hat er Halluzinationen, ist nicht ganz richtig im Kopf. VERMUMMTER 1: Der verwechselt Sozialismus und Kapitalismus. VERMUMMTER 2: Richtig! Der hält die Guten für die Bösen! VERMUMMTER 1: Richtig! Großherzigkeit hält der für ruchlose Bestialität. CHEN NASE: Richtig! Bestien seid ihr: eine teuflische Drachenbrut, wie bluttriefende Innereien vom Rind, Rindskutteln und Blutsuppe, wie Wölfe und Katzen, wie das vom Hund Erbrochene, noch unterhalb des Abschaums unserer Gesellschaft angesiedelte, verabscheuenswerte Untermenschen. VERMUMMTER 2: Du erdreistest dich, uns als gesellschaftlichen Abschaum zu beschimpfen? Uns Untermenschen zu nennen? Du im Müll wühlendes Dreckschwein, weißt du eigentlich, mit wem du es hier zu tun hast? CHEN NASE: Ich weiß nur zu gut, was ihr tut und wer ihr seid. Ich weiß nicht nur, was ihr tut, ich weiß auch, was ihr getan habt. VERMUMMTER 1: Ich sehe, wir sollten dich zum Fluss schaffen, damit du ein kühles Bad nehmen kannst. VERMUMMTER 2: Morgen früh werden die Gläubigen, die zum Tempel kommen, um Weihrauch zu verbrennen und für ihr Tonkind ein rotes Band zu erbitten, feststellen, dass der alte Bettler am Tempeltor samt seinem humpelnden Hund verschwunden ist. VERMUMMTER 1: Das kümmert aber keinen. Die Vermummten Nr. 1 und Nr. 2 fechten mit Chen Nases Hund einen heftigen Kampf aus. Der Hund wird von ihnen erschlagen. Nase wird zu Fall gebracht und liegt am Boden. Als die Vermummten ihn gerade erstechen wollen, zieht Augenbraue ihren Schleier vom Kopf, zeigt ihr grimmiges, furchterregendes Antlitz und stößt den schrillen Schrei eines Dämons aus. Die maskierten Männer lassen von ihrem Vater ab und suchen zu Tode erschrocken das Weite. Ende des fünften Aufzugs Sechster Aufzug Ein großer runder Tisch steht im Hof eines bäuerlichen Anwesens. Der Tisch ist festlich gedeckt, und im Hintergrund der Bühne verkündet ein Spruchband mit sechs Schriftzeichen: 金娃滿月盛宴 Monatsfeier für das Goldkind. Kaulquappe trägt ein traditionelles chinesisches Festgewand aus Brokat mit den aufgestickten Schriftzeichen Glück 福 und Langes Leben 壽. Kaulquappes Grundschulfreunde Hand, Backe und der kleine Cousin betreten nacheinander die Bühne, sprechen höfliche Worte und beglückwünschen Kaulquappe. Gugu betritt in Begleitung von Hao Große Hand und Qin Strom feierlich die Bühne; sie trägt einen purpurfarbenen langen chinesischen Mantel. KAULQUAPPE: (voller Freude) Gugu, nun bist du doch gekommen! GUGU: Die Familie Wan hat einen kleinen Stammhalter bekommen. Wie könnte ich da nicht zugegen sein? KAULQUAPPE: Dass jetzt ein Goldkind auf dem bescheidenen Anwesen der Wans ins Gras plumpst, daran hat unsere Gugu den allergrößten Verdienst. GUGU: Aber nicht doch, Renner! Ausnahmslos alle schauen sich an und lachen, aber keiner der Anwesenden versteht, was gemeint ist. Gugu zeigt auf Große Hand und Qin Strom. Mit Ausnahme dieser beiden habe ich euch, die ihr hier versammelt seid, alle mit meinen eigenen Händen ans Licht der Welt befördert. Wie viele Pickel eure Mütter auf dem Bauch haben, darüber weiß ich Bescheid. (alle lachen) Warum bittet hier keiner die Gäste an den Tisch und sagt ihnen, dass sie sich setzen sollen? KAULQUAPPE: Bevor du nicht Platz nimmst, Tante, traut sich keiner an den Tisch. GUGU: Wo ist dein Vater? Er soll sich auf den Ehrenplatz an den Kopf des Tisches setzen. KAULQUAPPE: Mein Vater hat eine leichte Erkältung. Er ist zu meiner Schwester hinübergegangen und ruht sich aus. Er sagt, du sollst dich auf den Ehrenplatz setzen. GUGU: Dann will ich diese Aufgabe gewissenhaft übernehmen. GÄSTE: So soll es sein! Das mach mal! GUGU: Kaulquappe, du und Kleiner Löwe, ihr seid beide über ein halbes Jahrhundert alt und habt trotzdem dieses kleine Dickerchen zur Welt gebracht. Obwohl wir uns damit nicht für das Guinness-Buch der Weltrekorde – es heißt doch Guinness? – bewerben können, ist es das erste Mal in meiner über fünfzigjährigen Berufspraxis, dass so etwas vorkommt. Deswegen verheißt das mit Sicherheit besonders viel Glück. Alle pflichten Gugu bei, manche sagen: »Besonders glückverheißend!«, manche sagen: »Ein Wunder!« KAULQUAPPE: Das haben wir Gugus guter Zaubermedizin zu verdanken! GUGU: (ergriffen) Als ich jung war, bin ich eine resolute Materialistin gewesen, aber auf meine alten Tage gehe ich immer mehr in Richtung Idealismus. LI HAND: In der Philosophiegeschichte sollte der Idealismus auf jeden Fall seinen angestammten Platz haben. GUGU: Hört, hört! Da sieht man’s mal wieder, dass die Studierten und die ohne Bücherwissen sich eben doch unterscheiden. YUAN BACKE: Wir sind doch alle ungehobelte Landnasen und kümmern uns nicht um materialistisch oder idealistisch. GUGU: Es mag sein, dass es in unserer Welt keine Götter und Geister gibt, aber das Gesetz von Ursache und Wirkung und die Vergeltung schlechter Taten gibt es. Dass Kaulquappe und Kleiner Löwe mit über fünfzig Jahren noch einen Sohn bekommen haben, beweist, dass die Wans in der Vergangenheit Wohltaten angehäuft haben. COUSIN JINXIU: Es ist aber auch deiner Medizin zu verdanken. GUGU: Da sieht man mal wieder: Ehrlichkeit bringt’s weit. (zu Kaulquappe gewandt) Als deine Mutter noch lebte, war sie immer mit allem geizig. Mit dir sind andere Zeiten gekommen, Geld ist reichlich vorhanden, und dazu schneit so ein freudiges Ereignis herein. Jetzt können die Wans auch mal zeigen, wer sie sind, und können beim Geldausgeben beherzter sein! KAULQUAPPE: Gugu, sei beruhigt! Wir werden zwar keine Kamelhufe und Bärentatzen verspeisen, aber es wird genug Geflügel, Fisch und Fleisch geben. GUGU: (blickt über den Tisch und sieht sich das Essen an) Es ist wie eh und je. Viele Schalen, aber knapp bemessenes Essen. Wie sieht es mit Schnaps aus? Was trinken wir? KAULQUAPPE: (holt zwei Flaschen Maotai hervor, die er unter den Tisch gestellt hatte) Es gibt Maotai. GUGU: Ist das echter oder gepanschter? KAULQUAPPE: Von Liu Guifang, der Chefin des Gästehauses der Stadtregierung, habe ich ihn. Sie hat gesagt, der sei hundertprozentig echt. LI HAND: Wir sind mit ihr zusammen zur Schule gegangen. YUAN BACKE: Wenn man betrogen wird, dann immer von alten Klassenkameraden. GUGU: Die Kleine ist die zweite Tochter des Liu Baofu aus Liujiazhuang, die habe ich auch ans Licht der Welt geholt. KAULQUAPPE: Ich habe diese Verbindung zu dir auch besonders betont, und sie hat mir aus Ehrerbietung dir gegenüber nur Schnaps aus ihrem Tresor gegeben. GUGU: Na, gut. Dann will ich mal davon ausgehen, dass es ihr peinlich wäre, mir keinen echten Schnaps zu trinken zu geben. Kaulquappe öffnet den Schnaps und bittet Gugu, davon zu kosten und ihn auf Echtheit zu überprüfen. GUGU: Der Schnaps ist gut! Hundertprozentig echter Maotai. Schenkt euch alle ein! Gebt eure Gläser her! Kaulquappe gießt allen Schnaps ein. GUGU: Weil ich auf dem Ehrenplatz sitze, will ich auch einen Trinkspruch aussprechen: Das erste Glas trinke ich auf die Kommunistische Partei und danke unseren Kadern für ihren guten Führungsstil, dafür, dass nun alle über genug Geld verfügen und alle ihr Denken befreit haben, also dafür, dass es allen gut geht. Dieser Satz war nötig, damit wir mit dem Guten, das wir noch vorhaben, beginnen können. Was meint ihr, habe ich richtig gesprochen oder nicht? Alle pflichten ihr bei. GUGU: Na, dann lasst uns darauf trinken! Auf ex! Alle leeren ihr Glas mit einem Zug. GUGU: Das zweite Glas Schnaps? Das trinke ich auf die ehrwürdigen Totengeister am Himmelssaum, auf die Ahnen der Wans, die so viele Wohltaten angehäuft haben, dass ihre Nachkommen nun mit Kindern und Enkeln gesegnet wurden. Alle leeren ihr Glas mit einem Zug. GUGU: Mit dem dritten Glas Schnaps kommen wir zum Thema: Ich wünsche dem liebenden Ehepaar Kaulquappe und Kleiner Löwe viel Glück und Erfolg mit ihrem späten Kinderglück. Alle erheben ihr Glas, erwidern den Gruß, lärmen durcheinander. Liu Guifang tritt auf, zwei ihrer Ober tragen einige Kartons herbei. Später kommen eine TV-Reporterin und ein Kamerateam. LIU GUIFANG: Herzlichen Glückwunsch! Herzlichen Glückwunsch! KAULQUAPPE: Na, alte Klassenkameradin! Was führt dich her? LIU GUIFANG: Ich möchte ein Glas Schnaps auf das fröhliche Ereignis trinken! Bin ich nicht willkommen? (geht um den Tisch herum und schüttelt jedem die Hand, spricht ein paar höfliche Worte und begrüßt dann Gugu) Gugu! Das Alter hast du gegen die Jugend eingetauscht, stimmt’s? GUGU: Ich bin ein alter Fuchsgeist geworden. KAULQUAPPE: Hab versucht, dich einzuladen, aber vergeblich. Wie schön, dass du trotzdem da bist! Aber du hättest nicht so viel mitbringen dürfen! Das war bestimmt teuer! LIU GUIFANG: Ich bin doch aus der Gastronomie, da ist das nicht der Rede wert. Den Gelben Fisch habe ich selbst für euch frittiert! Das hier ist von mir selbst gemachte Schweinssülze! Und das sind selbst gemachte Shandong Hefenudeln! Alles nur kleine Kostproben! Probiert, wie ich koche. Gugu, ich habe dir einen fünfzig Jahre alten Maotai mitgebracht! Weil ich dir wie eine Tochter Ehre erweisen möchte. GUGU: So einer ist wirklich was Feines! Am letzten Neujahr hat die Frau eines hohen Kaders aus Pingnan mir eine Flasche vorbeigebracht. Ich habe nur den Korken geöffnet, und schon war das ganze Zimmer voller Wohlgeruch. KAULQUAPPE: (vorsichtig) Schulkameradin, weißt du, was diese Leute hier wollen? LIU GUIFANG: (zieht die TV-Reporterin am Ärmel zu sich herüber) Xiao Gao, ich habe ganz vergessen, dich allen vorzustellen. Sie ist TV-Reporterin beim Fernsehjournal »Land und Leute« 社會萬象, Moderatorin und Produzentin. Xiao Gao, das ist Onkel Kaulquappe, Theaterschriftsteller und im hohen Alter noch Vater eines Sohnes geworden. Eine große Leistung! Das ist Gugu, eine Halbgöttin, unsere alte Frauenärztin in Nordost-Gaomi. Alle, Alt und Jung, nennen sie Gugu. Uns alle und noch zwei Generationen nach uns hat Gugu hier auf die Welt geholt. GUGU: (zieht die TV-Reporterin an der Hand zu sich) Was bist du für ein niedliches Kind geworden! Wenn ich dich anschaue, sehe ich gleich deine Eltern vor mir. Wenn man früher den Kindern einen geeigneten Ehepartner aussuchte, hat man darauf geachtet, dass er standesgemäß war. Heute vertrete ich: zuerst nach den Genen schauen und erst dann prüfen, ob der Partner standesgemäß ist. Nur wenn die Gene gut sind, werden gesunde und kluge Nachkommen geboren. Wenn sie nicht gut sind, ist alles verschwendete Liebesmüh. TV-REPORTERIN: (es wird angedeutet, dass die Kamera läuft und der Reporterin folgt) Gugu, du gehst mit der Zeit, alle Achtung! GUGU: Ich würde nicht sagen, dass ich mit der Zeit gehe, eher, dass ich ein paar Brocken aus der modernen Fachwelt aufgeschnappt habe, weil ich mit den unterschiedlichsten Menschen aus allen möglichen Berufen zu tun habe. KAULQUAPPE: (leise und heimlich zu Liu Guifang) Alte Schulfreundin, diese Sache wird nicht in die Öffentlichkeit hinausposaunt, okay? LIU GUIFANG: Xiao Gao ist unsere zukünftige Schwiegertochter. Der Konkurrenzkampf zwischen den Fernsehstationen ist hart, die klauen sich die Informationen, die Storys, die Ideen. Deswegen greifen wir ihr ein bisschen unter die Arme. TV-REPORTERIN: Gugu, darf ich Sie um Ihre Einschätzung bitten? Denken Sie, dass der Grund, warum Lehrer Kaulquappe und seine Frau so spät noch ein Kind bekamen, ihre besonders guten Gene sind? GUGU: Natürlich. Die Gene der beiden sind ausgezeichnet. TV-REPORTERIN: Was meinen Sie, sind die Gene von Lehrer Kaulquappe besser oder die seiner Frau? GUGU: Ich muss erst einmal genau definieren, was Gene wirklich sind, dann können Sie mich dazu noch einmal befragen. TV-REPORTERIN: Können Sie unserem Publikum mit knappen Worten erklären, um was es sich bei den Genen handelt? GUGU: Was die Gene sind? Die Gene sind das Schicksal. Das Lebensschicksal. TV-REPORTERIN: Das Lebensschicksal? GUGU: Verstehst du folgenden Satz: »Fliegen setzen sich nicht auf Hühnereier, wenn diese keinen Riss haben.« TV-REPORTERIN: Den verstehe ich. GUGU: Wenn die Gene bei einem Menschen nicht tadellos sind, sind sie wie ein Hühnerei mit einem Riss. Ein frisch gelegtes Eis mit Riss. Hast du das verstanden? LIU GUIFANG: Xiao Gao, wir lassen Gugu jetzt einen Schnaps trinken, damit sie einmal Luft holen kann. Befrag erst einmal Onkel Kaulquappe. Das hier ist Onkel Backe, und das ist Onkel Hand. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Sie kennen sich mit der Problematik der Gene bestens aus, du kannst sie nacheinander interviewen. (schenkt Gugu einen Schnaps ein) Ich wünsche Gugu gute Gesundheit und ein langes Leben, und dass du auf ewig unsere Kinder in Nordost-Gaomi beschützt! TV-REPORTERIN: Onkel Kaulquappe, ich weiß, dass Sie 1953 geboren sind. Sie sind in diesem Jahr fünfundfünfzig geworden. Das ist ein Alter, in dem wir bei uns auf dem Land Enkelkinder bekommen. Sie aber sind gerade Vater geworden. Erzählen Sie uns ein wenig von ihrer Gemütslage. Wie fühlt man sich, wenn man so spät Vater wird? KAULQUAPPE: Ein paar Wochen ist es her, da hat der achtundsiebzigjährige Professor Li von der Ost-Shandong Universität die Monatsfeier seines Sohnes begangen. Professor Li ist zu seinem hundertdreijährigen Vater in die Klinik gefahren. Haben Sie diese Nachrichten gesehen? TV-REPORTERIN: Ja, die habe ich gesehen. KAULQUAPPE: Ein Mann ist mit fünfundfünfzig noch auf der Höhe seines Lebens. Das Ausschlaggebende ist die Frau. TV-REPORTERIN: Darf ich dazu Ihre Ehefrau befragen? KAULQUAPPE: Sie ruht sich gerade aus. Wenn sie zu Tisch kommt und mit den Gästen anstößt, dann haben Sie dazu Gelegenheit. TV-REPORTERIN: (dreht sich zu Yuan Backe um) Geschäftsführer Yuan, wenn Sie Lehrer Kaulquappe mit seinem Söhnchen sehen, brennt es Ihnen dann unter den Nägeln? Möchten Sie das auch? YUAN BACKE: Hör zu! Ob ich begierig bin, es auch zu versuchen? Ich bin zwar begierig und es gefällt mir, aber ich möchte nicht noch einen Sohn. Wahrscheinlich sind meine Gene nicht die besten. Ich habe zwei Söhne, und die beiden verschwenden mein Geld nach Kräften, einer schlimmer als der andere. Wenn ich noch einen bekäme, würde er sich vermutlich auch nicht anders entwickeln. Außerdem ist der Acker meiner Alten völlig hart geworden. Würde man dort einen zarten Baum pflanzen, wäre er in drei Tagen vertrocknet und nur noch als Krückstock zu verwenden. LI HAND: Das kannst du eine Zweitfrau machen lassen, sie kann das Baby für dich bekommen! YUAN BACKE: Hand, du bist doch auch nicht mehr dreizehn oder sechzehn Jahre alt? Wie kommt es, dass du so etwas sagst? Wir hier sind doch Männer mit Anstand, die Fairplay schätzen. Wie könnten wir so etwas Schmutziges tun? LI HAND: Ist so etwas schmutzig? Das ist doch neuerdings modern, en vogue, frischt die Gene auf und ist sozial verträglich, denn es hilft den wirtschaftlich schlechter Gestellten, es kurbelt die Konjunktur an, weil die Binnennachfrage steigt. YUAN BACKE: Halt den Mund! Wenn das gesendet wird, dann nimmt man dich noch fest! LI HAND: Frag sie doch mal, ob sie sich trauen, das zu senden? TV-REPORTERIN: (lacht, antwortet aber nicht, sondern wendet sich Gugu zu) Gugu, ich habe gehört, dass Sie eine Arznei zusammengestellt haben, eine Antiaging-Pille, mit der die Menopause rückgängig gemacht werden kann. GUGU: Viele, viele haben meine Arznei geschluckt. Glaubt ihr etwa auch, dass sich das Geschlecht des Kindes im Bauch der Mutter noch verändern lässt? TV-REPORTERIN: Es ist immer klüger, etwas für möglich zu halten, als es von vornherein zu bezweifeln. GUGU: Glaubst du an die Götter, so sind sie bei dir. Glaubst du nicht, so sind sie nur unglasierte Lehmfiguren. So funktioniert die Psyche der Menschen. KAULQUAPPE: Xiao Gao, komm mit deinen Kollegen vom Fernsehteam mit an unseren Tisch, lass uns zusammen ein paar Schnäpse trinken. Wenn wir getrunken haben, machen wir mit den Interviews weiter. Was hältst du davon? TV-REPORTERIN: Trinkt, trinkt ohne uns. Wir sind nicht dabei. LI HAND: Ihr seid mitten unter uns, geht von einem zum andern. Dann kommt auch an den Tisch! TV-REPORTERIN: Bitte seht in uns keine Gäste, haltet uns für – was immer ihr wollt! YUAN BACKE: Guifang, alte Klassenkameradin, ich war damals so was von verknallt in dich! Ich muss jetzt erst mal richtig einen auf dich trinken. LIU GUIFANG: (hebt ihr Glas und stößt mit Yuan Backe an) Ich wünsche dir gute Geschäfte in deiner Froschzuchtfirma, alter Freund; ich wünsche dir, dass du mit deinen »Angels Protect«-Hautschutzstoffen bald berühmt wirst! YUAN BACKE: Guifang, lenk mal nicht vom Thema ab, ich hab dir gerade erzählt, dass ich damals über beide Ohren in dich verliebt war. LIU GUIFANG: Krieg dich wieder ein, Backe! Anbaggern hat nichts mit wahren Gefühlen zu tun. Wer wüsste nicht, dass Geschäftsführer Yuan in seiner Froschzuchtfirma massenweise hübsche Mädchen beherbergt? TV-REPORTERIN: (ergreift die Gelegenheit, ins Mikrophon zu den Zuschauern zu sprechen) Verehrte Zuschauer! Heute kommt »Land und Leute« 社會萬象 aus Nordost-Gaomi zu Ihnen nach Hause. Wir sind für Sie zu Gast bei einer Monatsfeier, die einem ganz besonders freudigen Ereignis gilt. Der berühmte Theaterschriftsteller Kaulquappe, der in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist, um sich im Ruhestand ganz seiner Schriftstellerei zu widmen, und seine Gattin Kleiner Löwe erleben im hohen Alter von fast sechzig Jahren das süße Geheimnis der Geburt ihres ersten Sohns, der am Fünfzehnten des vergangenen Monats gesund das Licht der Welt erblickte ... GUGU: Es ist Zeit, das Kind zu holen, damit alle es anschauen können. Kaulquappe rennt von der Bühne. LIU GUIFANG: (wirft Yuan Backe einen vielsagenden Blick zu und murmelt leise) Red keinen Unsinn, von wegen Gugu freut sich nicht. Kaulquappe führt Kleiner Löwe auf die Bühne. Sie hat sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt, im Arm trägt sie ein Bündel in einer Mullwindel. Der Kameramann beginnt sofort zu filmen. Alle klatschen und rufen dem Kleinen Glückwünsche zu. KAULQUAPPE: Komm, zeigt es zuerst seiner Großtante. Kleiner Löwe bringt das Bündel zu Gugu, die die Windel hochschlägt und das Baby betrachtet. GUGU: Ein hübsches, gutes Kind. Ein wirklich gutes Kind. Hervorragende Gene, ein ebenmäßiges Gesicht. In der feudalistischen Gesellschaft würde so ein kleiner Kerl es bestimmt zum Zhuangyuan, dem besten Kandidaten bei den Staatsprüfungen, bringen. LI HAND: Oder er übertrifft den Zhuangyuan noch, vielleicht hätte der Kleine sogar das Potenzial zum Kaiser? GUGU: Gut, dann veranstalten wir eben einen Wettstreit im Angeben. TV-REPORTERIN: (hält Gugu das Mikrophon vors Gesicht) Gugu, hast du bei diesem Kind auch die Geburtshilfe gemacht? GUGU: (steckt einen roten Umschlag in das kleine Windelpaket; Kaulquappe und Kleiner Löwe weisen das Geld zurück, aber Gugu winkt ab) Es muss sein, es gehört sich so! Außerdem hat die Großtante Geld. (der Reporterin zugewandt) Ich besitze das Vertrauen der beiden. Sie war eine Spätgebärende, eine besondere psychische Belastung war das. Ich habe ihr anfangs geraten, ins Krankenhaus zu gehen und die Melone aufschneiden zu lassen. Sie wollte das partout nicht. Ich habe sie dann unterstützt, denn ich sehe ein, dass Frauen sich nur, wenn ihr Kind durch den Geburtskanal geboren wird, als vollwertig begreifen und wirklich verstehen, was es heißt, Mutter zu sein. Während Gugu das Interview gibt, zeigen Kleiner Löwe und Kaulquappe ihr Kind herum. TV-REPORTERIN: Gugu, ist dieses Kind das letzte, für das du die Geburtshilfe übernommen hast? GUGU: Was meinst du? TV-REPORTERIN: Ich habe gehört, dass nicht nur die Frauen aus Nordost-Gaomi dich schätzen und dir vertrauen, sondern dass auch viele Schwangere aus Pingdu und aus Kiautschou dich vor der Geburt aufsuchen. GUGU: Ich bin von Natur aus ein Workaholic. TV-REPORTERIN: Ich habe auch gehört, dass deine Hände eine wunderbare Gabe besitzen, dass eine geheimnisvolle Energie von ihnen ausgeht, dass du sie nur auf den Bauch der Gebärenden zu legen brauchst und schon leidet diese weniger, und dass du ihr so alle Sorgen und Ängste nehmen kannst. GUGU: So entstehen Mythen. Es wird ständig noch mehr hinzugedichtet. TV-REPORTERIN: Gugu, streck bitte deine Hände vor, damit wir ein paar Close-Ups filmen können. GUGU: (mit ironischem Unterton) Die Massen brauchen übernatürliche Fähigkeiten, geheimnisvolle Mythen! Nicht wahr? (zu allen) Wisst ihr, von wem dieser Satz stammt? LI HAND: Das klingt nach einer Berühmtheit, wenn man dich so hört. GUGU: Dieser Satz stammt von mir. YUAN BACKE: Na ja, Gugu ist doch auch ziemlich berühmt. LIU GUIFANG: Was meinst du mit ziemlich berühmt? Natürlich ist Gugu berühmt. TV-REPORTERIN: (feierlich) Diese beiden ganz normal aussehenden Hände haben einige tausend Säuglinge auf unsere Welt geholt ... GUGU: ... und diese beiden ganz normalen Hände haben einige tausend Säuglinge zur Hölle befördert! (trinkt einen Schnaps auf ex) Meine Hände sind von zweierlei Blut befleckt, das eine angenehm duftend, das andere nach Verwesung stinkend. LIU GUIFANG: Gugu, du bist der menschgewordene Bodhisattva in unserem Nordost-Gaomiland, unsere Kinder schenkende Niangniang, die Götterstatuen in unserem Tempel sehen dir immer ähnlicher, je länger man sie betrachtet. Ich glaube, sie sind dir nachgebildet. GUGU: (betrunken, wirr) Die Massen brauchen übernatürliche Fähigkeiten, geheimnisvolle Mythen ... TV-REPORTERIN: (hält Kleiner Löwe das Mikrophon vors Gesicht) Frau Wan, wollen Sie uns ein bisschen was erzählen? Und uns schildern, wie Sie sich fühlen? KLEINER LÖWE: Was genau soll ich erzählen? TV-REPORTERIN: Nichts Bestimmtes. Vielleicht, was für ein Gefühl es für Sie war, als Sie erfahren haben, dass Sie schwanger sind. Dann, wie Sie sich während der Schwangerschaft fühlten, warum Sie unbedingt Gugu als Geburtshelferin wollten ... KLEINER LÖWE: Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, glaubte ich zu träumen, eine über Fünfzigjährige, die Menopause lag zwei Jahre zurück. Was die Zeit meiner Schwangerschaft angeht, empfand ich zur Hälfte Vorfreude, zur anderen Hälfte machte ich mir Sorgen. Ich freute mich natürlich, dass ich endlich Mama werden würde. Ich war an die fünfzehn Jahre Assistentin bei Gugu gewesen. Ich hatte ihr bei vielen Geburten assistiert. Aber ein eigenes Kind hatte ich nicht. Eine Frau ohne eigenes Kind ist aber keine richtige Frau. Sie hat auch als Ehefrau einen schweren Stand und traut sich zuletzt nicht mehr, ihrem Mann in die Augen zu sehen. Das ist jetzt alles vorüber. TV-REPORTERIN: Und neben der Vorfreude? Was bereitete Ihnen Sorgen? KLEINER LÖWE: Vor allem machte ich mir wegen meines hohen Alters Sorgen. Ich hatte Angst, dass ich ein krankes Kind zu Welt bringen könnte. Und ich hatte Angst, dass die Geburt nicht in Gang kommen könnte und meine Melone dann im OP aufgeschnitten werden müsste. Natürlich waren alle Sorgen wie weggeblasen, sobald Gugu ihre Hände auf meinen Bauch legte, als es so weit war. Der Rest bestand dann nur noch darin, Gugus Anordnungen Folge zu leisten und die Geburt zu vollenden. GUGU: (betrunken, wirr) Mit dem wohlriechenden Blut den Pfuhl aus übel riechendem, schmutzigem Blut reinwaschen ... Chen Nase betritt leise auf Krücken die Bühne. CHEN NASE: Es ist doch ziemlich unverschämt, die Monatsfeier des kleinen Söhnchens zu begehen und nicht mal dessen Opa mütterlicherseits einzuladen und ihm einen Schnaps anzubieten! Alle sind verstört, entsetzt. KAULQUAPPE: (stark verunsichert) Freund, das tut mir leid! Das tut mir wirklich leid, dass wir dich vergessen haben. CHEN NASE: (lacht wild) Du nennst mich Freund? Ha! (zeigt mit der Krücke auf den Säugling in Kleiner Löwes Arm) Dein Söhnchen sollte dich dazu veranlassen, dass du dich vor mich hinkniest und vor mir dreimal Kotau machst. Und dann solltest du mich Schwiegervater nennen. YUAN BACKE: (kommt vor und will Chen Nase fortzerren) Alter Nase, nun komm schon! Lass uns schnell hier weggehen. Ich bringe dich zu dem Fischspezialitätenrestaurant Baochi Huang, da lasse ich dir ein schönes Menü zusammenstellen. CHEN NASE: Hau ab! Verpiss dich! Du mieser, schamloser Widerling. Du willst mich mit ein paar stinkenden Abalone und Haifischflossen mundtot machen? Vergiss es! Heute ist mein Enkelkind einen Monat alt, und das ist ein Glückstag. Heute geh ich nirgendwo anders hin. Da bleib ich bei meinem Enkel und trink einen Schnaps auf ihn. (setzt sich an den Tisch und sieht Gugu) Gugu, dein Herz ist doch wie ein heller Spiegel, in dem man alles deutlich sieht. Alles, was bei uns mit dem Kinderkriegen zu tun hat, geht durch deine Hand. Bei wem die gesetzten Sämlinge nicht recht gedeihen wollen, bei wem kein Gras mehr wächst, weil der Boden zu hart ist, das weißt du alles. Du weißt genau, bei wem du dir Sämlinge ausleihen kannst, du hilfst den Acker verpachten, du bist diejenige, die gute Balken gegen morsche Stützen eintauscht, diejenige, die unbemerkt betrügen kann, diejenige, die Schleichwege geht, während sie vorgibt, breite Straßen zu benutzen. Du versuchst die Menschen zu täuschen, gibst Birnen für Pfirsiche aus, lockerst verschlagen die Schlinge, um sie fester zuzuziehen, du bedienst dich anderer, lässt sie deine Feinde beseitigen, sollen doch anderer Leute Messer für dich morden ... Die sechsunddreißig Strategeme unseres Generals Tan Daojin sind dir geläufig, du hast sie alle erprobt. GUGU: Nur zwei dieser Täuschungsmanöver hab ich an dir ausprobiert. An der rechten Tür rütteln, dabei die linke im Visier haben, und das Goldzikadenspielchen. Du hättest mich damals um ein Haar überlistest. Das übelriechende, schmutzige Blut an meinen Händen (führt die Hände an die Nase und schnüffelt daran) hast zur Hälfte du an mich geschmiert! LI HAND: (schenkt Chen Nase Schnaps ein) Alter Nase! Prost, trink einen Schnaps! CHEN NASE: (trinkt den Schnaps mit einem Zug aus) Hand! Du bist ein Ehrenmann! Bitte sag deine Meinung, ich möchte deine Einschätzung und dein Urteil hören. LI HAND: (unterbricht Nase, gießt ihm noch einmal Schnaps ein, diesmal ein großes Glas voll) Was rechtens ist und was gerecht ist, das weiß nur der Himmel ganz genau. Komm, alter Freund, lass die kleinen Schnapsgläser. Wir nehmen die großen. CHEN NASE: Du willst mich wohl betrunken machen? Damit ich so voll bin, dass ich keinen Ton mehr sage. Mir mit Schnaps den Mund schließen? Da irrst du dich. Daraus wird nichts. LI HAND: Natürlich wird nichts daraus. Da hätte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich weiß, dass du einmalig trinkfest und selbst nach tausend Gläsern noch nicht volltrunken bist. Der Schnaps, den wir hier heute haben, ist echter, richtig guter Maotai. Wann können wir sonst so was Gutes trinken, und das noch umsonst? Komm schon! Prost! Leeren wir die Gläser! CHEN NASE: (richtet sich auf, streckt sein Gesicht himmelwärts und leert das große Glas Schnaps in einem Zug, keucht außer Atem, weint wie ein Schlosshund) Gugu, Kaulquappe, Kleiner Löwe, Backe, Jinxiu, dass ich es mit mir so weit kommen lassen konnte! Es ist so jämmerlich, entsetzlich, ich arme Sau. Keinem von uns sechzigtausend Leuten in Nordost-Gaomiland, in unseren achtzehn Dörfern, geht es so dreckig, so elend wie mir. Sagt doch selbst! Es gibt keinen, dem es so grauenhaft beschissen geht wie mir. Aber ihr? Tut euch noch zusammen und haltet euch an mir Krüppel schadlos! Wenn ihr mich schikanieren müsst, meinetwegen, ich will mich nicht beschweren, denn für edel und gut halte ich mich nicht. Wenn ihr mich tyrannisiert, lasse ich das gelten als Strafe, die mir der Himmel auferlegt hat! Aber ihr hättet meiner Tochter keinen Schaden zufügen dürfen! Ihr habt Augenbraue hier aufwachsen sehen. Das schönste Mädchen in ganz Nordost-Gaomi! Genauso ihre Schwester Ohr! Mit ihrer Schönheit hätten sie in den Harem des Kaisers eingeheiratet, sie hätten ein Leben unter Prinzen und Prinzessinnen geführt, sie wären Königinnen geworden, Lieblingsmätressen von Königen und Fürsten, aber ... Klagt mich an, beschuldigt mich! Es ist die Strafe des Himmels! Meine Tochter wird deine Leihmutter, (zeigt wütend mit dem Finger auf Kaulquappe) um meine Klinikrechnung bezahlen zu können. Aber ihr! Ihr alten Schulfreunde, Klassenkameraden, ihr guten Onkel, ihr feinen Schriftsteller, ihr, die Chefs von den fetten Firmen! Ihr habt sie noch dazu betrogen! Sie angelogen, habt ihr gesagt, ihr Kind wäre gleich nach der Geburt gestorben. Ihr leugnet, dass ihr die vierzigtausend Yuan Leihmütterhonorar schuldig geblieben seid, ihr wollt nicht bezahlen, ihr betrügt sie! Vier, fünf Ellen über unseren Köpfen beginnt die göttliche Sphäre. Die Götter sehen, was hier geschieht. Ihr Götter! Schaut hin, ein zum Himmel schreiendes Unrecht geschieht nur fünf Ellen unter euch! Schaut euch diese skrupellosen Verbrecher an. Ihr Fernsehleute! Genossen! Nehmt das auf! Haltet die Kamera drauf! Zeigt mich, zeigt sie, filmt die ganze Bande hier. Gebt alles dem Volk zu sehen! Verbreitet es im Fernsehen. LIU GUIFANG: Alter Chen, was nimmst du den Mund so voll, dich könnte keiner unter den Tisch trinken, aber schon nach zwei Bechern Schnaps erzählst du hier so einen Unsinn, tischst uns haarsträubende Geschichten auf. CHEN NASE: Guifang, du supergescheite Geschäftsfrau, die kaum, dass unser altes Gästehaus nicht mehr von der Partei geführt wurde, die große Chefin des Ladens wurde, die Reichtümer und Besitz angehäuft hat. Als ich dich angefleht habe, meiner Tochter Arbeit zu geben, keine besondere, nur Küchenarbeit, am Herd bei den dampfenden Töpfen ... Da kanntest du keine Barmherzigkeit! Du hast mir gesagt, deine Firma müsse Personal abbauen, die Zeiten seien schwierig, mit Wohltätigkeit ließe sich eine Firma nicht führen, zu viele solche Anfragen kämen. LIU GUIFANG: Alter Schulkamerad! Das war ein Fehler. Sie anzunehmen, hätte nur bedeutet, einen Menschen mehr zu versorgen. Ich werde mich ab jetzt um sie kümmern, geht das für dich in Ordnung? Yuan Backe und Jin Jinxiu versuchen, Chen Nase wegzuschaffen. CHEN NASE: (wehrt sich, kämpft) Ich habe meinen Enkel noch nicht gesehen! (zieht einen roten Umschlag aus seinem Hemd hervor) Mein Enkelchen, dein Opa ist zwar arm, aber er weiß noch, wie man sich zu benehmen hat. Opa hat einen kleinen roten Umschlag für dich, den er dir jetzt schenken will. Backe und Jin Xiu ziehen Nase von der Bühne. Zur gleichen Zeit betritt von der anderen Seite Chen Augenbraue, schwarz verschleiert, im langen, schwarzen Mantel die Bühne. Alle sind geschockt, als sie Augenbraue sehen. Es ist sofort totenstill. AUGENBRAUE: (schnieft übermäßig laut, zuerst in einer tiefen, dann in einer hohen Tonlage) Kind, Schätzchen. Ich kann deinen Geruch schon wahrnehmen. Einen süßen Duft nach süßer Haut. (wie eine Blinde tappt sie vorwärts auf Kleiner Löwe zu, kommt ihr immer näher; das Kind beginnt heftig zu schreien) Kindchen, seit du geboren bist, hat man dir keinen einzigen Schluck Muttermilch zu trinken gegeben, mein Kleines muss doch am Verhungern sein! Chen Augenbraue entreißt Kleiner Löwe das Kind und rennt eilig von der Bühne. Alle sind starr vor Entsetzen. Keiner rührt sich von der Stelle. KLEINER LÖWE: (breitet beide Arme aus, resigniert) Mein kleiner Goldschatz, mein Goldfrosch, mein Kindchen ... Kleiner Löwe an der Spitze, Kaulquappe und die anderen, jagen Augenbraue hinterher, auf der Bühne herrschen chaotische Zustände. Ende des sechsten Aufzugs Siebter Aufzug Das an die hintere Bühnenwand projizierte Bild wechselt ohne Unterbrechung in rascher Folge. Erst sieht man eine geschäftige Straßenszene, dann eine Marktszene, Menschengedränge auf dem Markt, dann einen Park, eingerahmt von Verkehrsstraßen. Im Park gibt es Menschen, die Schattenboxen trainieren, andere, die ihre Vögel in Käfigen spazieren führen, wieder andere, die ins Erhu-Geigenspiel vertieft sind ... Schriftzeichen verweisen auf Ortsnamen und zeigen den Weg, den Augenbraue auf ihrer Flucht nimmt. Augenbraue rennt mit ihrem Kind auf dem Arm vorher. Während sie läuft, hört man sie ständig mit dem Kind sprechen. AUGENBRAUE: Mein Schätzchen, endlich hat Mama dich gefunden. Mama lässt dich nie wieder allein. Kleiner Löwe und Kaulquappe sind ihr auf den Fersen. KLEINER LÖWE: Goldkind, mein Söhnchen! Auf der Bühne ist jetzt nur Augenbraue zu sehen, die dort alleine vorbeirennt und sich dabei immer wieder umblickt. Sie ruft von Zeit zu Zeit den Leuten auf der Straße etwas zu. AUGENBRAUE: Zu Hilfe! Helft meinem Kind! Dann sind die Verfolger und die Verfolgte gemeinsam auf der Bühne zu sehen. AUGENBRAUE: (ruft den Passanten zu) Hilfe! Rettet uns! KLEINER LÖWE: (rennt hinter ihr her und ruft den Passanten zu) Haltet sie auf! Haltet die Kindsdiebin auf! Haltet die Wahnsinnige fest! Augenbraue stolpert. Rappelt sich auf. Stolpert. Rappelt sich auf. Schrille Erhu-Geigenmusik im Prestissimo mischt sich mit dem lauten Weinen des Säuglings. Diese Geräuschkulisse ist schon zu hören, wenn sich der Vorhang zum siebten Aufzug öffnet, und verebbt erst, wenn der Vorhang wieder fällt. Ende des siebten Aufzugs Achter Aufzug Drehort der Verfilmung der Oper »Gao Mengjiu« Die Bühne zeigt das Innere der Haupthalle des Yamen des Kreises Gaomi. Wir befinden uns in der Zeit der Republik, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Obwohl es Reformen gab, wird noch nach den alten Prinzipien regiert. In der oberen Mitte der rückwärtigen Wand der Amtshalle des Kreismagistrats hängt eine Tafel mit den vier Schriftzeichen: 正大光明 Ehre, Recht und Redlichkeit. Zu beiden Seiten der Inschriftentafel hängt ein Couplet mit großen Schriftzeichen. Das rechte trägt die Zeichen: 一陣風一陣雨一陣青天 Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel. Das linke trägt die Zeichen: 半是文半是武半是野蠻 Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei. Auf dem großen Amtstisch steht wie auf einem Altar ein überdimensionaler Schuh. Gao Mengjiu trägt einen schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug und einen westlichen Hut, man sieht die Kette seiner Taschenuhr aus der Brusttasche hervorlugen. Zu beiden Seiten der Bühne stehen einige Amtsdiener mit den langen schwarzroten Schlagstöcken, wie sie im chinesischen Mandariat üblich waren. Aber die Amtsdiener sind in Sun-Yat-Sen-Anzüge gekleidet. Sie sehen lächerlich aus. Regisseur, Kameramann und Tonassistent, das ganze Fernsehteam ist schwer beschäftigt. REGISSEUR: Alle auf ihre Plätze, bitte. Und Achtung: Action! GAO MENGJIU: (greift nach dem Schuh und schlägt damit geräuschvoll auf den Tisch) Auwei, auwei, auwei ... Das macht mir Sorgen. (singt) Kreismagistrat Gao prüft gerichtlich den strittigen Fall ~ Bei den Wangs und den Zhangs ist ein Streit um ihren Grund und Boden entbrannt ~ Zhang und Wang haben beide gute Gründe, alle haben immer gute Gründe ~ Zu entscheiden, wer Recht bekommt und wer nicht, liegt wie immer bei mir! ~ Mit Namen heiß ich Gao, und ich bin hier Magistrat. Ich stamme aus Tianjin aus dem Kreis Weibaochi. In meiner Jugend diente ich bei der Armee. Ich folgte Marschall Feng Yuxiang und zog mit ihm gen Süden ins Feld. Einige außergewöhnliche Erfolge hatte ich. Marschall Feng beförderte mich in den Rang eines Wachbataillonskommandeurs. Es geschah eines Tages, dass ein mir unterstellter Soldat, eine Sonnenbrille auf der Nase, mit einem Freudenmädchen herumlief und angab. Marschall Feng sah ihn und rügte mich, dass ich mit meinen Soldaten nicht streng genug sei. Ich war tief getroffen und machte mir Vorwürfe. Wie dankbar darf ich sein, dass mein Marschall mich all die Jahre förderte. Ich trat von meinem Posten zurück, quittierte den Dienst und kehrte nach Hause in mein Dorf zurück. Im Jahr 19 der Republik war mein Armeekamerad Han Fuqi, der wie ich aus Tianjin stammte, Militärgouverneur in Shandong. Dreimal kam er und bat mich, mein Dorf zu verlassen und in seinen Dienst zu treten. Ich tat es aus Freundschaft zu Han Fuqi und kam also nach Shandong, um die Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Zuerst wurde ich Mitglied im Provinzsenat unserer Republik, dann übernahm ich das Amt eines Kreismagistraten in Pingyuan, danach wurde ich Kreismagistrat in Qufu, und im Frühling dieses Jahres habe ich meinen Dienst in Gaomi angetreten. Die Menschen hier sind durchtriebene Schlauköpfe. Die Verbrecher sind hier besonders kaltblütig und gewalttätig. Das Glücksspiel steht hoch im Kurs. Wegen der Opiumsucht gibt es zahlreiche blutige Auseinandersetzungen auf der Straße. Um die Sicherheit der Bevölkerung ist es nicht zum Besten bestellt. Seit dem Frühling diesen Jahres gehe ich mit Entschlossenheit gegen die Verbrecher in Gaomi vor, an der Wurzel will ich dieses Übel packen. Ich fördere die Kindespietät und den Familienzusammenhalt. Ich mische mich gern unerkannt unters Volk, um schwierige Streitfälle zu lösen. (mit gedämpfter Stimme) Natürlich ist es auch zu einigen lächerlichen Zusammenstößen gekommen. Menschen sind nun mal keine Weisen oder Halbgötter. Alle haben auch Fehler. Haben Weise und Halbgötter gar keine Fehler? Leute von Bildung hier auf dem Land schenkten mir diese Kalligraphie. 一陣風一陣雨一陣青天, 半是文半是武半是野蠻 Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel. Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei. Eine wunderbare Kalligraphie! Kunstvoll geschrieben! Dann schenkten sie mir noch einen Spitznamen! Gao Zwei Schuhsohlen! Weil ich durchtriebenen Halunken, Männern wie Frauen, gern mit zweierlei Schuhsohlen Backpfeifen verpasse. (singt) In unruhigen Zeiten muss der Beamte harte Strafen geben ~ Wenn es barbarisch zugehen muss, dann muss es sein. ~ Tricks und Köder, um sie abzuschlachten, die Verbrecherbrut. ~ Wenn Gao Mengjiu das Regiment führt, prasseln die Schuhsohlenschläge. ~ Meine Kameraden, sage ich. AMTSDIENER: (alle zusammen) Zu Befehl! GAO MENGJIU: Ist alles bereit? AMTSDIENER: Wir sind bereit! GAO MENGJIU: Die Vorgeladenen, Kläger und Angeklagter, mögen den Gerichtssaal betreten. AMTSDIENER 1: Die vorgeladenen Familien, Kläger und Angeklagter, betreten den Gerichtssaal! Chen Augenbraue kommt holterdiepolter mit dem Kind auf dem Arm herbeigerannt. AUGENBRAUE: Weiser Richter Bao! Wollen Richter Bao sich für Eure Magd einsetzen und bitte das Urteil fällen! Kleiner Löwe und Kaulquappe kommen ebenfalls in die Amtshalle. Die beiden Schauspieler, die den Kläger Zhang und den Angeklagten Wang darstellen, haben sich auch eingefunden und mischen sich unter die Anwesenden. Es entsteht ein Durcheinander. REGISSEUR: (übelgelaunt, gestresst) Stopp! Was hat das zu bedeuten? So ein Durcheinander! Regieassistenz! AUGENBRAUE: (stürzt nach vorn und kniet vor dem Richtertisch) Weiser Richter Bao Qingtian! Bitte setzt Euch für Eure Magd ein und fällt das Urteil! GAO MENGJIU: Hier heißt der Richter Gao, nicht Bao. AUGENBRAUE: (während der Säugling weint) Weiser Richter Bao, Eurer Magd geschieht ein Unrecht, so groß wie die Welt alt ist. Richter Bao, bitte, Ihr sollt es unparteiisch und gerecht gerichtlich prüfen! Yuan Backe und der kleine Cousin haben den Regisseur bereits angesprochen; leise diskutieren sie etwas, der Regisseur nickt mit dem Kopf. YUAN BACKE: (undeutlich) Unsere Firma unterstützt die Dreharbeiten mit zehntausend Yuan. Der Regisseur geht zu Gao Mengjiu und flüstert ihm einige Sätze ins Ohr. Der Regisseur gibt dem Kamerateam ein Zeichen, damit alle mit dem Dreh fortfahren können. Backe geht zu Kaulquappe und Kleiner Löwe und gibt ihnen leise ein paar Instruktionen. GAO MENGJIU: (verpasst dem Richtertisch mit der Schuhsohle einige kräftige Hiebe) Bürgerin, hör mir zu. Ich werde ausnahmsweise deinen Fall schon heute einer gerichtlichen Prüfung unterziehen. Nenn mir nun bitte deinen Namen, Vornamen, Geburtsort, Inhalt und Grund der Klage sowie den Namen desjenigen, gegen den du Klage führst. Ich belehre dich, dass du zur Ehrlichkeit gegenüber dem Gericht verpflichtet bist, schon ein halber Satz Unwahrheit wird dazu führen ... Kennst du die Gepflogenheiten hier bei Gericht? AUGENBRAUE: Eure Magd kennt sie nicht. AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor) Woh Woh Woh Wah Shubiduwa! GAO MENGJIU: (ergreift die Schuhsohle, peitscht mit ihr geräuschvoll den Tisch) Wenn auch nur ein Wort Unwahrheit in deiner Rede ist, werde ich mit der Schuhsohle dein Gesicht schlagen. AUGENBRAUE: Eure Magd weiß Bescheid. Weiser Richter, mit Respekt erstatte ich Bericht. Mein Name ist Chen, Vorname Augenbraue, ich bin in Nordost-Gaomi geboren. Bei meiner Geburt starb meine Mutter, meine Schwester hat mich großgezogen. Ich folgte ihr in eine Plüschtierfabrik, wo wir arbeiteten. Bei einem Großbrand in der Fabrik starb meine Schwester, das Feuer zerstörte mein Gesicht. GAO MENGJIU: Ich sage dir, Chen Augenbraue, nimm jetzt den Schleier ab und lass mich dein Antlitz sehen. AUGENBRAUE: Richter Bao, ich kann ihn nicht abnehmen. GAO MENGJIU: Warum kannst du ihn nicht abnehmen? AUGENBRAUE: Wenn ich ihn trage, bin ich ein Mensch, wenn ich den Schleier abnehme, bin ich ein Gespenst. GAO MENGJIU: Chen Augenbraue, die Gerichtsverhandlung findet den gesetzlichen Verfahrensvorschriften entsprechend statt. Wie willst du dich vor mir ausweisen, wenn du einen Schleier trägst? AUGENBRAUE: Richter Bao, sag allen anderen, sie sollen sich die Augen zuhalten. GAO MENGJIU: Haltet euch alle die Augen zu! AUGENBRAUE: Richter Bao, Sie können schauen. Richter Bao, ich bin vom Unglück verfolgt. (legt das Kind vor sich nieder, nimmt den Schleier ab und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen) Als Chen Augenbraue Gao Mengjius Anweisungen folgt, stürzt Kleiner Löwe vor und nimmt sofort das Kind auf den Arm. KLEINER LÖWE: Schätzchen, Goldkind, kleines Goldkindchen, lass Mama mal sehen. Kaulquappe, schau nur. Was ist das hier? Diese böse Wahnsinnige wird das Kind noch hinwerfen, dann ist es tot. AUGENBRAUE: (schreit und stürzt sich auf Kleiner Löwe) Es ist mein Kind, Richter Bao! Sie hat mir mein Kind geraubt. Die Amtsdiener halten Augenbraue zurück. Gugu kommt langsam auf die Bühne. KAULQUAPPE: Meine Tante ist eingetroffen! KLEINER LÖWE: Gugu, schau nur! Hat das Kleine was? Gugu zwickt das Kind ein paar Mal, es beginnt zu weinen. Kaulquappe reicht Kleiner Löwe eine Babyflasche mit Milch. Kleiner Löwe gibt dem Kind die Flasche. Das Kind hört sofort auf zu weinen. AUGENBRAUE: Richter Bao, mein Kind soll keine Kuhmilch zu trinken bekommen. In der Kuhmilch sind Giftstoffe. Ich kann meinem Kind Muttermilch geben. Wenn Ihr es nicht glaubt, drücke ich welche aus meinen Brustdrüsen, damit Ihr sie sehen könnt. Chen Nase und Li Hand kommen auf die Bühne. CHEN NASE: (auf Krücken, die über den Boden kratzen) Jetzt seht ihr, dass ich die Wahrheit sage. GAO MENGJIU: (mitleidig) Augenbraue, du kannst den Schleier eigentlich wieder aufsetzen. AUGENBRAUE: (tastet ängstlich nach ihrem Schleier und verhüllt ihr Gesicht wieder) Richter Bao, ich habe euch erschreckt. Entschuldigt das bitte. GAO MENGJIU: Augenbraue, dein Fall wird durch mich entschieden, wenn ich mir durch einige Fragen Klarheit verschafft habe. AUGENBRAUE: Danke, Richter Bao. Kaulquappe und Yuan Backe nehmen Kleiner Löwe in ihre Mitte und wollen sich auf den Weg machen. GAO MENGJIU: (peitscht mit der Schuhsohle den Tisch) Es ist nicht gestattet, die Amtshalle zu verlassen. Bevor das Gericht seine Entscheidung gefällt hat, wagt hier jemand, sich zu entfernen? Amtsdiener, bewacht sie! Der Regisseur gibt Gao Mengjiu mit den Augen ein Zeichen. Gao Mengjiu tut, als habe er es nicht bemerkt. GAO MENGJIU: Bürgerin Augenbraue. Du sagst mit jedem Satz, dieses Kind sei das deine. Ich frage dich, wer ist der Vater des Kindes? AUGENBRAUE: Ein hoher Beamter, ein feiner Herr mit viel Geld. GAO MENGJIU: Auch wenn er so bedeutend, so reich und in so hoher Position ist, wird er doch wohl einen Namen haben? AUGENBRAUE: Ich weiß seinen Namen nicht. GAO MENGJIU: Wann hast du ihn geheiratet? AUGENBRAUE: Ich bin nicht verheiratet. GAO MENGJIU: Aha, ein uneheliches Kind. Und wann kam es zu dem ... Kontakt? AUGENBRAUE: Richter Bao, ich verstehe nicht. GAO MENGJIU: Ach! Wann du mit ihm geschlafen hast – wie soll ich noch fragen? – Sex hattest? Verstehst du? AUGENBRAUE: Richter Bao. Ich habe nie mit irgendwelchen Männern geschlafen. Ich bin Jungfrau. GAO MENGJIU: Ach! Je mehr ich frage, umso komplizierter wird es. Wenn du nicht mit einem Mann geschlafen hast, wie bist du denn schwanger geworden? Diesen einfachen Sachverhalt verstehst du? AUGENBRAUE: Richter Bao, ich spreche in allem nichts als die Wahrheit. (zeigt auf Kleiner Löwe) Sie haben es mit einer Spritze gemacht. GAO MENGJIU: Ein Retortenbaby. AUGENBRAUE: Nein, kein Retortenbaby. GAO MENGJIU: Ich verstehe, so wie es beim Vieh gemacht wird. Mit der Bechermethode. AUGENBRAUE: Richter Bao! (kniet nieder) Seid milde mit mir und trefft eine gute Entscheidung. Ich wollte durch die Geburt des Kindes Geld verdienen, um für meinen Vater eine Krankenhausrechnung zu bezahlen. Danach wollte ich in den Fluss springen und mir das Leben nehmen. Aber als ich die Schwangerschaft durchlebte, spürte ich, wie es sich in meinem Leib bewegte. Da wollte ich nicht mehr sterben. Mit mir zusammen sind noch einige andere Frauen schwanger geworden. Sie mochten das Kind in ihrem Bauch nicht, aber ich liebte es. Mein Gesicht und mein Körper sind voller Narben. Wenn es Regenwetter gibt, dann jucken und schmerzen sie. Sie springen auf, bluten. Richter Bao, auch die Schwangerschaft war nicht einfach für mich. Richter Bao, ich habe alles auf mich genommen, war immer vorsichtig und habe das Kind dann zur Welt gebracht. Aber sie haben behauptet, es wäre tot. Doch ich wusste, dass es lebt. Ich habe es gesucht und gesucht. Und ich habe es tatsächlich gefunden. Ich will das Leihmuttergeld nicht, sondern das Kind. Eine Million können die mir anbieten, aber ich würde immer das Kind wählen. Bitte seid gnädig und sprecht mir mein Kind zu. GAO MENGJIU: (zu Kaulquappe und Kleiner Löwe gewandt) Ihr beiden, seid ihr ein vor dem Gesetz ordentlich verheiratetes Ehepaar? KAULQUAPPE: Wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet. GAO MENGJIU: Habt ihr in den mehr als dreißig Jahren nie ein Kind bekommen? KLEINER LÖWE: (aufgebracht) Haben wir nicht gerade eins bekommen? GAO MENGJIU: Wie alt magst du sein, weit über fünfzig? KLEINER LÖWE: Ich dachte mir schon, dass Sie so fragen würden. (zeigt auf Gugu) Das ist die Frauenärztin hier bei uns in Gaomi. Sie hat unzählige Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit geheilt. Es ist sehr gut möglich, dass auch Sie von ihr auf die Welt geholt wurden. Sie können Gugu befragen. Über den gesamten Prozess meiner Schwangerschaft, bis hin zur Geburt. Alles kann sie Ihnen berichten. GAO MENGJIU: Ich kenne natürlich eure berühmte Tante Gugu. Sie ist hier in Nordost-Gaomi wie ein Halbgott, reich an Tugend und edlen Zielen. GUGU: Dieses Kind ist mit meiner Geburtshilfe auf die Welt gekommen. GAO MENGJIU: (fragt Augenbraue) Hat sie dir bei der Geburt geholfen? AUGENBRAUE: Richter Bao, bevor ich in den Kreißsaal kam, haben sie mir die Augen verbunden. GAO MENGJIU: Diesen Fall kann das Gericht nicht lösen. Macht einen DNA-Test. Der Regisseur kommt und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide scheinen sich leise zu streiten. GAO MENGJIU: (seufzt schwer, singt) ~ Ein sehr ungewöhnlicher Fall ~ Der mir sehr zu schaffen macht. ~ Wem soll ich das Kind geben? ~ Ein tückischer Plan kommt mir. ~ (geht von der Bühne, kommt wenig später zurück) Ihr hört mir jetzt zu: Da ihr mir den Fall übergeben habt, will ich ihn nun auch entscheiden! Amtsdiener! AMTSDIENER: Jo! GAO MENGJIU: Wer meinen Anweisungen nicht folgt, kriegt die Schuhsohle ins Gesicht. AMTSDIENER: Richtig! GAO MENGJIU: Augenbraue, Kleiner Löwe: Was jeder von euch vorbringt, erscheint mir gerecht und vernünftig. Deswegen fällt es mir schwer, das Urteil zu fällen. Bitte, Kleiner Löwe, gib mir das Kind. KLEINER LÖWE: Ich will nicht ... GAO MENGJIU: Amtsdiener! AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor) Woh Woh Woh Wah Shubiduwa! Der Regisseur flüstert Kaulquappe etwas ins Ohr, der pufft Kleiner Löwe mit dem Ellenbogen in die Seite und bedeutet ihr, dem Richter das Kind zu geben. GAO MENGJIU: (blickt auf das Kind in seinem Arm herab) Es ist wirklich ein feines Kind, kein Wunder, dass sich beide Familien darum streiten. Augenbraue, Kleiner Löwe, hört mir jetzt gut zu. Ich kann nicht entscheiden, wem ich das Kind zusprechen soll. Ihr könnt es euch aus meinem Arm holen. Wer es als erster schafft, es mir zu entwenden, kriegt es. Einem verdrehten Fall gebührt eine verdrehte Lösung. (hebt das Kind in die Höhe) Achtung, los! Chen Augenbraue und Kleiner Löwe stürzen nach vorn. Beide zerren am Kind. Es beginnt zu weinen. Da packt Augenbraue es mit einem festen Griff und nimmt es auf den Arm. GAO MENGJIU: Amtsdiener! Nehmt Augenbraue das Kind ab und gebt es mir. Die Amtsdiener nehmen ihr das Kind ab und übergeben es Gao Mengjiu. GAO MENGJIU: Augenbraue, du warst so kühn zu behaupten, du seist die Mutter des Kindes, aber als du um das Kind kämpfen solltest, hast du es an Sorge und Mitgefühl fehlen lassen. Das zeigt mir, dass deine Behauptung, seine Mutter zu sein, falsch ist. Als Kleiner Löwe sich bemühte, es zu ergattern, hat sie vom ihm abgelassen, sobald es zu weinen begann, weil sie es liebt und nicht verletzen möchte. Richter Bao hat in Kaifeng einen ähnlichen Streitfall genauso entschieden. Diejenige, die vom Kind ablässt, ist die Mutter. Deswegen spreche ich analog zur erwähnten Entscheidung Kleiner Löwe das Kind zu. Augenbraue hat sich erdreistet, andrer Leute Kind zu beanspruchen, und Lügenmärchen gestreut. Somit muss eine Strafe von zwanzig Schuhsohlenschlägen an ihr vollstreckt werden. Weil sie aber eine Behinderung hat, setze ich den Vollzug der Strafe aus. Alle haben den Gerichtsstand zu verlassen. Die Sitzung ist beendet. Gao Mengjiu gibt Kleiner Löwe das Kind. Augenbraue wird von den Amtsdienern festgehalten, sie wehrt sich und brüllt dabei aus Leibeskräften. CHEN NASE: Gao Mengjiu, du Nachtwächter! LI HAND: (pufft Nase) Freund, Folgendes: Ich habe mit Backe und Kaulquappe schon alles abgesprochen, sie werden Augenbraue mit hunderttausend Yuan entschädigen. Ende des achten Aufzugs Neunter Aufzug Gugus Haushof, Bühnenbild wie zuvor. Hao Große Hand und Qin Strom sind immer noch in das Modellieren der Tonkinder vertieft. Kaulquappe knetet an seinem Stapel Manuskriptpapier, er steht abseits und rezitiert sein Stück mit heller Stimme. KAULQUAPPE: Wenn mich jemand fragen würde, welche Farbe in Nordost-Gaomi die wichtigste sei, sagte ich ohne Umschweife: Grün! GROSSE HAND: (unzufrieden vor sich hin brummelnd) Und was ist mit Rot? Rote Mohrenhirse, rote Sonne, rote Steppjacken, rote Chilis, rote Äpfel ... QIN STROM: Gelbe Erde, gelbe Kacke, gelbe Zähne, gelbe Marder, nur eben kein Gold, diese gelben Barren gibt’s hier nicht. KAULQUAPPE: Würde mich jemand fragen, welches Geräusch wohl in Nordost-Gaomi das wichtigste sei, so sagte ich ihm stolz und ohne Umschweife: das Quaken der Frösche! GROSSE HAND: Warum sollte man darauf stolz sein? QIN STROM: Das Schreien der Babys ist das Geräusch, auf das man wirklich stolz sein kann. KAULQUAPPE: Fröschequaken, wie wimmerndes Blöken kleiner Kälbchen, wie trauriges Meckern kleiner Zicklein, wie zeterndes, aber frei herausgeschmettertes Gackern der Henne, wenn sie ihr Ei gelegt hat, Quaken, wie das traurige und durchdringend laute Schreien der Säuglinge. GROSSE HAND: Was ist mit Hundegebell? Was mit Katzenmiauen? Was mit Eselsiahen? KAULQUAPPE: (entnervt) Diese ewigen Widerworte, wie wippende Sänften, die nicht mehr zu stoppen sind. QIN STROM: Ich finde, dein Theaterstück ist genau das und nichts anderes als eine arg in Schwung geratene Sänfte, die nicht mehr zu stoppen ist. GUGU: (mit eiskalter Stimme) Was du gerade gelesen hast, habe ich das gesagt? KAULQUAPPE: Die Figur Gugu im Theaterstück hat das gesagt. GUGU: Bin ich die Gugu in deinem Stück? Oder bin ich es nicht? KAULQUAPPE: Eigentlich bist du es schon, aber im Grunde auch wieder nicht. GUGU: Was du da sagst, musst du mir schon genauer erklären. So versteh ich das nicht. KAULQUAPPE: Das ist ein ganz verbreitetes Muster des künstlerischen Schaffensprozesses. Eigentlich der gleiche Vorgang wie das, was beim Formen der Niwawa-Tonkinder bei den beiden passiert. Die Formen und Bilder sind zwar dem realen Leben entnommen, werden aber dank der Kreativität des Künstlers mit neuen Inhalten gefüllt. GUGU: Fürchtest du nicht, dass einiger Ärger auf uns zukommt, wenn das Stück wirklich aufgeführt wird? Du hast die Namen und Vornamen ja doch alle so gelassen wie im realen Leben. KAULQUAPPE: Das ist ein Manuskript, Gugu. Wenn die Endfassung steht, tausche ich die Namen aller Figuren gegen ausländische aus. Gugu heißt dann Tante Maria, Große Hand heißt dann Henry, Qin Strom wird zu Allende, Augenbraue zu Dounia, Nase wird dann Figaro heißen, sogar unser Nordost-Gaomiland wird das kleine Dorf namens Macondo werden müssen. GROSSE HAND: Henry? Der Name hat was. QIN STROM: Aus mir machst du besser einen Rodin oder Michelangelo, deren Natur und ihre Art zu arbeiten sind mir näher. GUGU: Kaulquappe, wir sollten nicht abschweifen, Theaterspielen gehört ins Theater! Real Vorgefallenes ist nun mal in der Realität vorhanden und bleibt da auch. Ich finde immer, wir hätten, ich schließe mich da nicht aus, Augenbraue nicht so verächtlich behandeln dürfen. Ich leide in letzter Zeit wieder stark unter meiner Schlafstörung. Der Plagegeist Schuldeneintreiber-Dämon führt seine Schar schwerbehinderter Frösche jede Nacht zu mir und rumort an meinem Bett. Ich spüre ihre kühle, feuchte Haut und nehme den fischigen Körpergeruch wahr. GROSSE HAND: Das sind alles Halluzinationen, Anwandlungen, die du wegen deiner schwachen Nerven hast. KAULQUAPPE: Gugu, ich kann dich verstehen, aber irgendwie mussten wir die Sache doch in den Griff bekommen. Wenn nicht so, wie geschehen, wie dann? Wie wir es auch drehen und wenden, Augenbraue ist geisteskrank, dazu ist sie noch schwer entstellt, eine Verbrennungskranke, eine Verrückte mit einem grimmigen, monströsen Aussehen. Wenn wir ihr das Kind gegeben hätten, damit sie es großzieht, wäre das unverantwortlich gewesen. Und außerdem bin ich vom biologischen Standpunkt aus gesehen der Vater des Kindes, obwohl ich es nicht freiwillig geworden bin. Wenn die Mutter nervenkrank ist und schon mit ihrem eigenen Leben Probleme hat, entspricht es dem Gesetz des Himmels, dass der Vater das Kind großzieht. Da würde es immer mir zugesprochen werden, egal von welchem Gericht. Bist du meiner Meinung? GUGU: Vielleicht wäre sie jetzt gesund, wenn wir ihr das Kind gegeben hätten. Durch die Beziehung zwischen Mutter und Kind sind schon viele Wunder geschehen. KAULQUAPPE: Wir können das Kind doch nicht einem solchen Experiment aussetzen. GUGU: Geisteskranke sind auch kinderlieb. KAULQUAPPE: Aber ihre Liebe kann dem Kind unter Umständen Schaden zufügen. Gugu, mach dir deswegen auf keinen Fall Vorwürfe. Wir haben das Menschenmögliche bereits getan. Wir haben ihr die doppelte Menge Geld gegeben. Wir haben sie in die Klinik einweisen lassen und Nase ebenso. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Wenn sie ihre Krankheit irgendwann völlig überwunden hat, wenn das Kind groß ist, dann werden wir einen günstigen Zeitpunkt auswählen, um ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir ihm damit Kummer zufügen, denn es wird in jedem Fall Kummer bedeuten. GUGU: Ich sage euch, wie es ist. In letzter Zeit denke ich oft an den Tod. KAULQUAPPE: Gugu, komm jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken! Du bist erst Anfang siebzig. Dass du jetzt im Zenit deines Lebens stehst, dass es also zwölf Uhr Mittag für dich ist, mag übertrieben sein, aber mehr als drei Uhr Nachmittag ist es in deinem Leben noch nicht. Damit möchte ich dir keineswegs schmeicheln. Drei Uhr nachmittags ist noch früh am Tag, da wird es noch lange nicht dunkel. Dazu kommt, dass die Menschen in Nordost-Gaomi ihre Gugu noch nicht missen möchten! GUGU: Natürlich will ich nicht sterben. Wenn der Mensch keine Not leidet, nicht ernsthaft krank ist, wenn er essen und wenn er schlafen kann, warum sollte er dann sterben wollen? Aber ich kann nicht einschlafen. Wenn um Mitternacht alle schlafen, bin ich wach wie die Eule auf dem Baum vor unserem Haus. Die Eule bleibt wach, weil sie Mäuse fangen muss. Was mache ich, wenn ich wach bleibe? KAULQUAPPE: Du kannst Schlaftabletten nehmen. Sehr viele bedeutende Persönlichkeiten leiden unter massiven Schlafstörungen. Sie nehmen alle etwas ein. GUGU: Schlaftabletten zeigen bei mir  keinerlei Wirkung. KAULQUAPPE: Du könntest es mal mit Traditioneller Chinesischer Medizin versuchen. GUGU: Ich bin Ärztin, das weißt du doch! Ich sag dir eins. Das ist bei mir keine Krankheit. Die Zeit der Vergeltung ist angebrochen. Der Dämon, der meine Schulden eintreiben will, steht mit geöffnetem Säckel an meinem Bett, um mit mir abzurechnen. Um Mitternacht, wenn die Eule ruft, kommt er an mein Bett. Jede Nacht kommt er, blutüberströmt, und brüllt zum Erbarmen. Er kommt zusammen mit den schwerbehinderten Fröschen, die einen Arm, ein Bein zu wenig haben. Ihr Brüllen mischt sich mit dem Fröschequaken zu einem Konzert. Sie jagen mich durch den Hof. Ich habe keine Angst, dass sie mich beißen. Ich fürchte die kühle, weiche Haut an ihrem Bauch und ihren fischigen Gestank. Sagt selbst, wovor habe ich in meinem Leben Angst gehabt? Tiger, Leoparden, Wölfe, Füchse, vor denen andere sich immer fürchten, erschrecken mich nicht. Ich habe nur mörderische Angst vor den Froschdämonen. KAULQUAPPE: (zu Große Hand gewandt) Sollte man vielleicht einen Taoisten kommen lassen, der Gebete spricht? GROSSE HAND: Sie spricht ja schon auswendig gelernte Bühnentexte. GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, grüble ich immer über mein Leben nach. Ich beginne bei dem ersten Kind, das ich geholt habe, und lasse dann alle Kinder in einer langen Schlange folgen, bis zum letzten, Bild für Bild, als würde ich einen Film abspulen. Mal angenommen, ich hätte in meinem Leben sonst nichts Unrechtes getan. Aber gewisse Dinge, sind das böse Taten gewesen? KAULQUAPPE: Gugu, das, was du meinst, waren keine bösen Taten, auch jetzt ist noch einiges sehr umstritten. Und selbst wenn man jetzt all das offiziell als böse Tat definieren würde, könnte man dir aber noch lange nicht die Verantwortung dafür aufbürden. Gugu, mach dir keine Selbstvorwürfe. Es ist keine Schande, du bist eine erfolgreiche Beamtin, keine Missetäterin. GUGU: Bin ich wirklich keine Sünderin? KAULQUAPPE: Wenn Nordost-Gaomi heute seinen Gutmenschen wählen würde, würden die Leute zuallererst dich wählen. GUGU: Sind meine beiden Hände sauber? KAULQUAPPE: Sie sind nicht nur sauber, es sind gesegnete Hände. GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, muss ich immer daran denken, wie Fausts Frau gestorben ist, und wie Renmei gestorben ist, und wie Galle gestorben ist. KAULQUAPPE: Bei dir darf man nicht die Schuld suchen. Bei dir zuallerletzt. GUGU: Fausts Frau hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein. GUGU: Sie sagte: Wan Herz, du wirst zur Hölle fahren. KAULQUAPPE: Die alte Stinksocke. Was die sich herausgenommen hat. GUGU: Renmei hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein, was denn? GUGU: Sie sagte: Gugu, mich friert so. KAULQUAPPE: (schmerzvoll) Renmei, mich friert auch. GUGU: Galle hat etwas zu mir gesagt, als sie starb.Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein. GUGU: Möchtest du es wissen? KAULQUAPPE: Natürlich, obwohl ... GUGU: (erhebt sich) Sie sagte: Danke, Gugu, dass du mein Kind gerettet hast. Was meinst du, habe ich ihr Kind gerettet? KAULQUAPPE: Natürlich hast du das. GUGU: Dann kann ich ja beruhigt sterben. KAULQUAPPE: Gugu, so ist das nicht richtig. Du musst sagen, du schläfst jetzt beruhigt ein, und dann lebst du zufrieden. GUGU: Ein Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, sollte das Recht haben, in den Tod zu gehen. Er wird zu einem Leben gezwungen, das nur noch eine Qual ist, in dem er leidet wie ein Fisch auf dem Grill und wieder und wieder auf dem Rost gewendet wird, in dem er wie bittere TCM-Medizin Stunde um Stunde in siedendem Wasser kocht. Er muss durchhalten, seine Schuld sühnen, damit er, wenn er sie gesühnt hat, erleichtert sterben darf. Von der Decke der Bühne baumelt eine große schwarze Schlinge aus dickem Seil. Gugu hat ihren Kopf bereits in die Schlinge gesteckt und tritt mit dem Fuß den Stuhl um, auf dem sie steht. Hao Große Hand und Qin Strom kneten ihre Niwawa-Tonpuppen. Kaulquappe hat ein Messer in der einen Hand und stützt sich mit der anderen auf dem Stuhl ab, während er draufklettert. Er schneidet das Seil durch. Gugu fällt zu Boden. KAULQUAPPE: (hilft Gugu hoch) Gugu! GUGU: Bin ich tot? KAULQUAPPE: Könnte man meinen, aber jemand wie du ist nicht so leicht totzukriegen. GUGU: Wie, du meinst, ich bin wiedergeboren? KAULQUAPPE: Könnte man sagen. GUGU: Ist mit euch alles in Ordnung? KAULQUAPPE: Wir sind okay. GUGU: Und das Goldkind? KAULQUAPPE: Dem geht’s prächtig. GUGU: Hat Kleiner Löwe jetzt Milch? KAULQUAPPE: Der Milchfluss ist in Gang gekommen. GUGU: Hat sie viel oder wenig? KAULQUAPPE: Mehr als genug. GUGU: Wie viel genau? KAULQUAPPE: Wie ein Springbrunnen. Ende des neunten Aufzugs (Ende des Schauspiels) Achter Aufzug Drehort der Verfilmung der Oper »Gao Mengjiu« Die Bühne zeigt das Innere der Haupthalle des Yamen des Kreises Gaomi. Wir befinden uns in der Zeit der Republik, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Obwohl es Reformen gab, wird noch nach den alten Prinzipien regiert. In der oberen Mitte der rückwärtigen Wand der Amtshalle des Kreismagistrats hängt eine Tafel mit den vier Schriftzeichen: 正大光明 Ehre, Recht und Redlichkeit. Zu beiden Seiten der Inschriftentafel hängt ein Couplet mit großen Schriftzeichen. Das rechte trägt die Zeichen: 一陣風一陣雨一陣青天 Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel. Das linke trägt die Zeichen: 半是文半是武半是野蠻 Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei. Auf dem großen Amtstisch steht wie auf einem Altar ein überdimensionaler Schuh. Gao Mengjiu trägt einen schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug und einen westlichen Hut, man sieht die Kette seiner Taschenuhr aus der Brusttasche hervorlugen. Zu beiden Seiten der Bühne stehen einige Amtsdiener mit den langen schwarzroten Schlagstöcken, wie sie im chinesischen Mandariat üblich waren. Aber die Amtsdiener sind in Sun-Yat-Sen-Anzüge gekleidet. Sie sehen lächerlich aus. Regisseur, Kameramann und Tonassistent, das ganze Fernsehteam ist schwer beschäftigt. REGISSEUR: Alle auf ihre Plätze, bitte. Und Achtung: Action! GAO MENGJIU: (greift nach dem Schuh und schlägt damit geräuschvoll auf den Tisch) Auwei, auwei, auwei ... Das macht mir Sorgen. (singt) Kreismagistrat Gao prüft gerichtlich den strittigen Fall ~ Bei den Wangs und den Zhangs ist ein Streit um ihren Grund und Boden entbrannt ~ Zhang und Wang haben beide gute Gründe, alle haben immer gute Gründe ~ Zu entscheiden, wer Recht bekommt und wer nicht, liegt wie immer bei mir! ~ Mit Namen heiß ich Gao, und ich bin hier Magistrat. Ich stamme aus Tianjin aus dem Kreis Weibaochi. In meiner Jugend diente ich bei der Armee. Ich folgte Marschall Feng Yuxiang und zog mit ihm gen Süden ins Feld. Einige außergewöhnliche Erfolge hatte ich. Marschall Feng beförderte mich in den Rang eines Wachbataillonskommandeurs. Es geschah eines Tages, dass ein mir unterstellter Soldat, eine Sonnenbrille auf der Nase, mit einem Freudenmädchen herumlief und angab. Marschall Feng sah ihn und rügte mich, dass ich mit meinen Soldaten nicht streng genug sei. Ich war tief getroffen und machte mir Vorwürfe. Wie dankbar darf ich sein, dass mein Marschall mich all die Jahre förderte. Ich trat von meinem Posten zurück, quittierte den Dienst und kehrte nach Hause in mein Dorf zurück. Im Jahr 19 der Republik war mein Armeekamerad Han Fuqi, der wie ich aus Tianjin stammte, Militärgouverneur in Shandong. Dreimal kam er und bat mich, mein Dorf zu verlassen und in seinen Dienst zu treten. Ich tat es aus Freundschaft zu Han Fuqi und kam also nach Shandong, um die Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Zuerst wurde ich Mitglied im Provinzsenat unserer Republik, dann übernahm ich das Amt eines Kreismagistraten in Pingyuan, danach wurde ich Kreismagistrat in Qufu, und im Frühling dieses Jahres habe ich meinen Dienst in Gaomi angetreten. Die Menschen hier sind durchtriebene Schlauköpfe. Die Verbrecher sind hier besonders kaltblütig und gewalttätig. Das Glücksspiel steht hoch im Kurs. Wegen der Opiumsucht gibt es zahlreiche blutige Auseinandersetzungen auf der Straße. Um die Sicherheit der Bevölkerung ist es nicht zum Besten bestellt. Seit dem Frühling diesen Jahres gehe ich mit Entschlossenheit gegen die Verbrecher in Gaomi vor, an der Wurzel will ich dieses Übel packen. Ich fördere die Kindespietät und den Familienzusammenhalt. Ich mische mich gern unerkannt unters Volk, um schwierige Streitfälle zu lösen. (mit gedämpfter Stimme) Natürlich ist es auch zu einigen lächerlichen Zusammenstößen gekommen. Menschen sind nun mal keine Weisen oder Halbgötter. Alle haben auch Fehler. Haben Weise und Halbgötter gar keine Fehler? Leute von Bildung hier auf dem Land schenkten mir diese Kalligraphie. 一陣風一陣雨一陣青天, 半是文半是武半是野蠻 Mal Wind, mal Regen, mal blauer Himmel. Halb Literat, halb Militär, obendrauf eine Portion Barbarei. Eine wunderbare Kalligraphie! Kunstvoll geschrieben! Dann schenkten sie mir noch einen Spitznamen! Gao Zwei Schuhsohlen! Weil ich durchtriebenen Halunken, Männern wie Frauen, gern mit zweierlei Schuhsohlen Backpfeifen verpasse. (singt) In unruhigen Zeiten muss der Beamte harte Strafen geben ~ Wenn es barbarisch zugehen muss, dann muss es sein. ~ Tricks und Köder, um sie abzuschlachten, die Verbrecherbrut. ~ Wenn Gao Mengjiu das Regiment führt, prasseln die Schuhsohlenschläge. ~ Meine Kameraden, sage ich. AMTSDIENER: (alle zusammen) Zu Befehl! GAO MENGJIU: Ist alles bereit? AMTSDIENER: Wir sind bereit! GAO MENGJIU: Die Vorgeladenen, Kläger und Angeklagter, mögen den Gerichtssaal betreten. AMTSDIENER 1: Die vorgeladenen Familien, Kläger und Angeklagter, betreten den Gerichtssaal! Chen Augenbraue kommt holterdiepolter mit dem Kind auf dem Arm herbeigerannt. AUGENBRAUE: Weiser Richter Bao! Wollen Richter Bao sich für Eure Magd einsetzen und bitte das Urteil fällen! Kleiner Löwe und Kaulquappe kommen ebenfalls in die Amtshalle. Die beiden Schauspieler, die den Kläger Zhang und den Angeklagten Wang darstellen, haben sich auch eingefunden und mischen sich unter die Anwesenden. Es entsteht ein Durcheinander. REGISSEUR: (übelgelaunt, gestresst) Stopp! Was hat das zu bedeuten? So ein Durcheinander! Regieassistenz! AUGENBRAUE: (stürzt nach vorn und kniet vor dem Richtertisch) Weiser Richter Bao Qingtian! Bitte setzt Euch für Eure Magd ein und fällt das Urteil! GAO MENGJIU: Hier heißt der Richter Gao, nicht Bao. AUGENBRAUE: (während der Säugling weint) Weiser Richter Bao, Eurer Magd geschieht ein Unrecht, so groß wie die Welt alt ist. Richter Bao, bitte, Ihr sollt es unparteiisch und gerecht gerichtlich prüfen! Yuan Backe und der kleine Cousin haben den Regisseur bereits angesprochen; leise diskutieren sie etwas, der Regisseur nickt mit dem Kopf. YUAN BACKE: (undeutlich) Unsere Firma unterstützt die Dreharbeiten mit zehntausend Yuan. Der Regisseur geht zu Gao Mengjiu und flüstert ihm einige Sätze ins Ohr. Der Regisseur gibt dem Kamerateam ein Zeichen, damit alle mit dem Dreh fortfahren können. Backe geht zu Kaulquappe und Kleiner Löwe und gibt ihnen leise ein paar Instruktionen. GAO MENGJIU: (verpasst dem Richtertisch mit der Schuhsohle einige kräftige Hiebe) Bürgerin, hör mir zu. Ich werde ausnahmsweise deinen Fall schon heute einer gerichtlichen Prüfung unterziehen. Nenn mir nun bitte deinen Namen, Vornamen, Geburtsort, Inhalt und Grund der Klage sowie den Namen desjenigen, gegen den du Klage führst. Ich belehre dich, dass du zur Ehrlichkeit gegenüber dem Gericht verpflichtet bist, schon ein halber Satz Unwahrheit wird dazu führen ... Kennst du die Gepflogenheiten hier bei Gericht? AUGENBRAUE: Eure Magd kennt sie nicht. AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor) Woh Woh Woh Wah Shubiduwa! GAO MENGJIU: (ergreift die Schuhsohle, peitscht mit ihr geräuschvoll den Tisch) Wenn auch nur ein Wort Unwahrheit in deiner Rede ist, werde ich mit der Schuhsohle dein Gesicht schlagen. AUGENBRAUE: Eure Magd weiß Bescheid. Weiser Richter, mit Respekt erstatte ich Bericht. Mein Name ist Chen, Vorname Augenbraue, ich bin in Nordost-Gaomi geboren. Bei meiner Geburt starb meine Mutter, meine Schwester hat mich großgezogen. Ich folgte ihr in eine Plüschtierfabrik, wo wir arbeiteten. Bei einem Großbrand in der Fabrik starb meine Schwester, das Feuer zerstörte mein Gesicht. GAO MENGJIU: Ich sage dir, Chen Augenbraue, nimm jetzt den Schleier ab und lass mich dein Antlitz sehen. AUGENBRAUE: Richter Bao, ich kann ihn nicht abnehmen. GAO MENGJIU: Warum kannst du ihn nicht abnehmen? AUGENBRAUE: Wenn ich ihn trage, bin ich ein Mensch, wenn ich den Schleier abnehme, bin ich ein Gespenst. GAO MENGJIU: Chen Augenbraue, die Gerichtsverhandlung findet den gesetzlichen Verfahrensvorschriften entsprechend statt. Wie willst du dich vor mir ausweisen, wenn du einen Schleier trägst? AUGENBRAUE: Richter Bao, sag allen anderen, sie sollen sich die Augen zuhalten. GAO MENGJIU: Haltet euch alle die Augen zu! AUGENBRAUE: Richter Bao, Sie können schauen. Richter Bao, ich bin vom Unglück verfolgt. (legt das Kind vor sich nieder, nimmt den Schleier ab und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen) Als Chen Augenbraue Gao Mengjius Anweisungen folgt, stürzt Kleiner Löwe vor und nimmt sofort das Kind auf den Arm. KLEINER LÖWE: Schätzchen, Goldkind, kleines Goldkindchen, lass Mama mal sehen. Kaulquappe, schau nur. Was ist das hier? Diese böse Wahnsinnige wird das Kind noch hinwerfen, dann ist es tot. AUGENBRAUE: (schreit und stürzt sich auf Kleiner Löwe) Es ist mein Kind, Richter Bao! Sie hat mir mein Kind geraubt. Die Amtsdiener halten Augenbraue zurück. Gugu kommt langsam auf die Bühne. KAULQUAPPE: Meine Tante ist eingetroffen! KLEINER LÖWE: Gugu, schau nur! Hat das Kleine was? Gugu zwickt das Kind ein paar Mal, es beginnt zu weinen. Kaulquappe reicht Kleiner Löwe eine Babyflasche mit Milch. Kleiner Löwe gibt dem Kind die Flasche. Das Kind hört sofort auf zu weinen. AUGENBRAUE: Richter Bao, mein Kind soll keine Kuhmilch zu trinken bekommen. In der Kuhmilch sind Giftstoffe. Ich kann meinem Kind Muttermilch geben. Wenn Ihr es nicht glaubt, drücke ich welche aus meinen Brustdrüsen, damit Ihr sie sehen könnt. Chen Nase und Li Hand kommen auf die Bühne. CHEN NASE: (auf Krücken, die über den Boden kratzen) Jetzt seht ihr, dass ich die Wahrheit sage. GAO MENGJIU: (mitleidig) Augenbraue, du kannst den Schleier eigentlich wieder aufsetzen. AUGENBRAUE: (tastet ängstlich nach ihrem Schleier und verhüllt ihr Gesicht wieder) Richter Bao, ich habe euch erschreckt. Entschuldigt das bitte. GAO MENGJIU: Augenbraue, dein Fall wird durch mich entschieden, wenn ich mir durch einige Fragen Klarheit verschafft habe. AUGENBRAUE: Danke, Richter Bao. Kaulquappe und Yuan Backe nehmen Kleiner Löwe in ihre Mitte und wollen sich auf den Weg machen. GAO MENGJIU: (peitscht mit der Schuhsohle den Tisch) Es ist nicht gestattet, die Amtshalle zu verlassen. Bevor das Gericht seine Entscheidung gefällt hat, wagt hier jemand, sich zu entfernen? Amtsdiener, bewacht sie! Der Regisseur gibt Gao Mengjiu mit den Augen ein Zeichen. Gao Mengjiu tut, als habe er es nicht bemerkt. GAO MENGJIU: Bürgerin Augenbraue. Du sagst mit jedem Satz, dieses Kind sei das deine. Ich frage dich, wer ist der Vater des Kindes? AUGENBRAUE: Ein hoher Beamter, ein feiner Herr mit viel Geld. GAO MENGJIU: Auch wenn er so bedeutend, so reich und in so hoher Position ist, wird er doch wohl einen Namen haben? AUGENBRAUE: Ich weiß seinen Namen nicht. GAO MENGJIU: Wann hast du ihn geheiratet? AUGENBRAUE: Ich bin nicht verheiratet. GAO MENGJIU: Aha, ein uneheliches Kind. Und wann kam es zu dem ... Kontakt? AUGENBRAUE: Richter Bao, ich verstehe nicht. GAO MENGJIU: Ach! Wann du mit ihm geschlafen hast – wie soll ich noch fragen? – Sex hattest? Verstehst du? AUGENBRAUE: Richter Bao. Ich habe nie mit irgendwelchen Männern geschlafen. Ich bin Jungfrau. GAO MENGJIU: Ach! Je mehr ich frage, umso komplizierter wird es. Wenn du nicht mit einem Mann geschlafen hast, wie bist du denn schwanger geworden? Diesen einfachen Sachverhalt verstehst du? AUGENBRAUE: Richter Bao, ich spreche in allem nichts als die Wahrheit. (zeigt auf Kleiner Löwe) Sie haben es mit einer Spritze gemacht. GAO MENGJIU: Ein Retortenbaby. AUGENBRAUE: Nein, kein Retortenbaby. GAO MENGJIU: Ich verstehe, so wie es beim Vieh gemacht wird. Mit der Bechermethode. AUGENBRAUE: Richter Bao! (kniet nieder) Seid milde mit mir und trefft eine gute Entscheidung. Ich wollte durch die Geburt des Kindes Geld verdienen, um für meinen Vater eine Krankenhausrechnung zu bezahlen. Danach wollte ich in den Fluss springen und mir das Leben nehmen. Aber als ich die Schwangerschaft durchlebte, spürte ich, wie es sich in meinem Leib bewegte. Da wollte ich nicht mehr sterben. Mit mir zusammen sind noch einige andere Frauen schwanger geworden. Sie mochten das Kind in ihrem Bauch nicht, aber ich liebte es. Mein Gesicht und mein Körper sind voller Narben. Wenn es Regenwetter gibt, dann jucken und schmerzen sie. Sie springen auf, bluten. Richter Bao, auch die Schwangerschaft war nicht einfach für mich. Richter Bao, ich habe alles auf mich genommen, war immer vorsichtig und habe das Kind dann zur Welt gebracht. Aber sie haben behauptet, es wäre tot. Doch ich wusste, dass es lebt. Ich habe es gesucht und gesucht. Und ich habe es tatsächlich gefunden. Ich will das Leihmuttergeld nicht, sondern das Kind. Eine Million können die mir anbieten, aber ich würde immer das Kind wählen. Bitte seid gnädig und sprecht mir mein Kind zu. GAO MENGJIU: (zu Kaulquappe und Kleiner Löwe gewandt) Ihr beiden, seid ihr ein vor dem Gesetz ordentlich verheiratetes Ehepaar? KAULQUAPPE: Wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet. GAO MENGJIU: Habt ihr in den mehr als dreißig Jahren nie ein Kind bekommen? KLEINER LÖWE: (aufgebracht) Haben wir nicht gerade eins bekommen? GAO MENGJIU: Wie alt magst du sein, weit über fünfzig? KLEINER LÖWE: Ich dachte mir schon, dass Sie so fragen würden. (zeigt auf Gugu) Das ist die Frauenärztin hier bei uns in Gaomi. Sie hat unzählige Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit geheilt. Es ist sehr gut möglich, dass auch Sie von ihr auf die Welt geholt wurden. Sie können Gugu befragen. Über den gesamten Prozess meiner Schwangerschaft, bis hin zur Geburt. Alles kann sie Ihnen berichten. GAO MENGJIU: Ich kenne natürlich eure berühmte Tante Gugu. Sie ist hier in Nordost-Gaomi wie ein Halbgott, reich an Tugend und edlen Zielen. GUGU: Dieses Kind ist mit meiner Geburtshilfe auf die Welt gekommen. GAO MENGJIU: (fragt Augenbraue) Hat sie dir bei der Geburt geholfen? AUGENBRAUE: Richter Bao, bevor ich in den Kreißsaal kam, haben sie mir die Augen verbunden. GAO MENGJIU: Diesen Fall kann das Gericht nicht lösen. Macht einen DNA-Test. Der Regisseur kommt und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide scheinen sich leise zu streiten. GAO MENGJIU: (seufzt schwer, singt) ~ Ein sehr ungewöhnlicher Fall ~ Der mir sehr zu schaffen macht. ~ Wem soll ich das Kind geben? ~ Ein tückischer Plan kommt mir. ~ (geht von der Bühne, kommt wenig später zurück) Ihr hört mir jetzt zu: Da ihr mir den Fall übergeben habt, will ich ihn nun auch entscheiden! Amtsdiener! AMTSDIENER: Jo! GAO MENGJIU: Wer meinen Anweisungen nicht folgt, kriegt die Schuhsohle ins Gesicht. AMTSDIENER: Richtig! GAO MENGJIU: Augenbraue, Kleiner Löwe: Was jeder von euch vorbringt, erscheint mir gerecht und vernünftig. Deswegen fällt es mir schwer, das Urteil zu fällen. Bitte, Kleiner Löwe, gib mir das Kind. KLEINER LÖWE: Ich will nicht ... GAO MENGJIU: Amtsdiener! AMTSDIENER: (gemeinsam im Chor) Woh Woh Woh Wah Shubiduwa! Der Regisseur flüstert Kaulquappe etwas ins Ohr, der pufft Kleiner Löwe mit dem Ellenbogen in die Seite und bedeutet ihr, dem Richter das Kind zu geben. GAO MENGJIU: (blickt auf das Kind in seinem Arm herab) Es ist wirklich ein feines Kind, kein Wunder, dass sich beide Familien darum streiten. Augenbraue, Kleiner Löwe, hört mir jetzt gut zu. Ich kann nicht entscheiden, wem ich das Kind zusprechen soll. Ihr könnt es euch aus meinem Arm holen. Wer es als erster schafft, es mir zu entwenden, kriegt es. Einem verdrehten Fall gebührt eine verdrehte Lösung. (hebt das Kind in die Höhe) Achtung, los! Chen Augenbraue und Kleiner Löwe stürzen nach vorn. Beide zerren am Kind. Es beginnt zu weinen. Da packt Augenbraue es mit einem festen Griff und nimmt es auf den Arm. GAO MENGJIU: Amtsdiener! Nehmt Augenbraue das Kind ab und gebt es mir. Die Amtsdiener nehmen ihr das Kind ab und übergeben es Gao Mengjiu. GAO MENGJIU: Augenbraue, du warst so kühn zu behaupten, du seist die Mutter des Kindes, aber als du um das Kind kämpfen solltest, hast du es an Sorge und Mitgefühl fehlen lassen. Das zeigt mir, dass deine Behauptung, seine Mutter zu sein, falsch ist. Als Kleiner Löwe sich bemühte, es zu ergattern, hat sie vom ihm abgelassen, sobald es zu weinen begann, weil sie es liebt und nicht verletzen möchte. Richter Bao hat in Kaifeng einen ähnlichen Streitfall genauso entschieden. Diejenige, die vom Kind ablässt, ist die Mutter. Deswegen spreche ich analog zur erwähnten Entscheidung Kleiner Löwe das Kind zu. Augenbraue hat sich erdreistet, andrer Leute Kind zu beanspruchen, und Lügenmärchen gestreut. Somit muss eine Strafe von zwanzig Schuhsohlenschlägen an ihr vollstreckt werden. Weil sie aber eine Behinderung hat, setze ich den Vollzug der Strafe aus. Alle haben den Gerichtsstand zu verlassen. Die Sitzung ist beendet. Gao Mengjiu gibt Kleiner Löwe das Kind. Augenbraue wird von den Amtsdienern festgehalten, sie wehrt sich und brüllt dabei aus Leibeskräften. CHEN NASE: Gao Mengjiu, du Nachtwächter! LI HAND: (pufft Nase) Freund, Folgendes: Ich habe mit Backe und Kaulquappe schon alles abgesprochen, sie werden Augenbraue mit hunderttausend Yuan entschädigen. Ende des achten Aufzugs Neunter Aufzug Gugus Haushof, Bühnenbild wie zuvor. Hao Große Hand und Qin Strom sind immer noch in das Modellieren der Tonkinder vertieft. Kaulquappe knetet an seinem Stapel Manuskriptpapier, er steht abseits und rezitiert sein Stück mit heller Stimme. KAULQUAPPE: Wenn mich jemand fragen würde, welche Farbe in Nordost-Gaomi die wichtigste sei, sagte ich ohne Umschweife: Grün! GROSSE HAND: (unzufrieden vor sich hin brummelnd) Und was ist mit Rot? Rote Mohrenhirse, rote Sonne, rote Steppjacken, rote Chilis, rote Äpfel ... QIN STROM: Gelbe Erde, gelbe Kacke, gelbe Zähne, gelbe Marder, nur eben kein Gold, diese gelben Barren gibt’s hier nicht. KAULQUAPPE: Würde mich jemand fragen, welches Geräusch wohl in Nordost-Gaomi das wichtigste sei, so sagte ich ihm stolz und ohne Umschweife: das Quaken der Frösche! GROSSE HAND: Warum sollte man darauf stolz sein? QIN STROM: Das Schreien der Babys ist das Geräusch, auf das man wirklich stolz sein kann. KAULQUAPPE: Fröschequaken, wie wimmerndes Blöken kleiner Kälbchen, wie trauriges Meckern kleiner Zicklein, wie zeterndes, aber frei herausgeschmettertes Gackern der Henne, wenn sie ihr Ei gelegt hat, Quaken, wie das traurige und durchdringend laute Schreien der Säuglinge. GROSSE HAND: Was ist mit Hundegebell? Was mit Katzenmiauen? Was mit Eselsiahen? KAULQUAPPE: (entnervt) Diese ewigen Widerworte, wie wippende Sänften, die nicht mehr zu stoppen sind. QIN STROM: Ich finde, dein Theaterstück ist genau das und nichts anderes als eine arg in Schwung geratene Sänfte, die nicht mehr zu stoppen ist. GUGU: (mit eiskalter Stimme) Was du gerade gelesen hast, habe ich das gesagt? KAULQUAPPE: Die Figur Gugu im Theaterstück hat das gesagt. GUGU: Bin ich die Gugu in deinem Stück? Oder bin ich es nicht? KAULQUAPPE: Eigentlich bist du es schon, aber im Grunde auch wieder nicht. GUGU: Was du da sagst, musst du mir schon genauer erklären. So versteh ich das nicht. KAULQUAPPE: Das ist ein ganz verbreitetes Muster des künstlerischen Schaffensprozesses. Eigentlich der gleiche Vorgang wie das, was beim Formen der Niwawa-Tonkinder bei den beiden passiert. Die Formen und Bilder sind zwar dem realen Leben entnommen, werden aber dank der Kreativität des Künstlers mit neuen Inhalten gefüllt. GUGU: Fürchtest du nicht, dass einiger Ärger auf uns zukommt, wenn das Stück wirklich aufgeführt wird? Du hast die Namen und Vornamen ja doch alle so gelassen wie im realen Leben. KAULQUAPPE: Das ist ein Manuskript, Gugu. Wenn die Endfassung steht, tausche ich die Namen aller Figuren gegen ausländische aus. Gugu heißt dann Tante Maria, Große Hand heißt dann Henry, Qin Strom wird zu Allende, Augenbraue zu Dounia, Nase wird dann Figaro heißen, sogar unser Nordost-Gaomiland wird das kleine Dorf namens Macondo werden müssen. GROSSE HAND: Henry? Der Name hat was. QIN STROM: Aus mir machst du besser einen Rodin oder Michelangelo, deren Natur und ihre Art zu arbeiten sind mir näher. GUGU: Kaulquappe, wir sollten nicht abschweifen, Theaterspielen gehört ins Theater! Real Vorgefallenes ist nun mal in der Realität vorhanden und bleibt da auch. Ich finde immer, wir hätten, ich schließe mich da nicht aus, Augenbraue nicht so verächtlich behandeln dürfen. Ich leide in letzter Zeit wieder stark unter meiner Schlafstörung. Der Plagegeist Schuldeneintreiber-Dämon führt seine Schar schwerbehinderter Frösche jede Nacht zu mir und rumort an meinem Bett. Ich spüre ihre kühle, feuchte Haut und nehme den fischigen Körpergeruch wahr. GROSSE HAND: Das sind alles Halluzinationen, Anwandlungen, die du wegen deiner schwachen Nerven hast. KAULQUAPPE: Gugu, ich kann dich verstehen, aber irgendwie mussten wir die Sache doch in den Griff bekommen. Wenn nicht so, wie geschehen, wie dann? Wie wir es auch drehen und wenden, Augenbraue ist geisteskrank, dazu ist sie noch schwer entstellt, eine Verbrennungskranke, eine Verrückte mit einem grimmigen, monströsen Aussehen. Wenn wir ihr das Kind gegeben hätten, damit sie es großzieht, wäre das unverantwortlich gewesen. Und außerdem bin ich vom biologischen Standpunkt aus gesehen der Vater des Kindes, obwohl ich es nicht freiwillig geworden bin. Wenn die Mutter nervenkrank ist und schon mit ihrem eigenen Leben Probleme hat, entspricht es dem Gesetz des Himmels, dass der Vater das Kind großzieht. Da würde es immer mir zugesprochen werden, egal von welchem Gericht. Bist du meiner Meinung? GUGU: Vielleicht wäre sie jetzt gesund, wenn wir ihr das Kind gegeben hätten. Durch die Beziehung zwischen Mutter und Kind sind schon viele Wunder geschehen. KAULQUAPPE: Wir können das Kind doch nicht einem solchen Experiment aussetzen. GUGU: Geisteskranke sind auch kinderlieb. KAULQUAPPE: Aber ihre Liebe kann dem Kind unter Umständen Schaden zufügen. Gugu, mach dir deswegen auf keinen Fall Vorwürfe. Wir haben das Menschenmögliche bereits getan. Wir haben ihr die doppelte Menge Geld gegeben. Wir haben sie in die Klinik einweisen lassen und Nase ebenso. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Wenn sie ihre Krankheit irgendwann völlig überwunden hat, wenn das Kind groß ist, dann werden wir einen günstigen Zeitpunkt auswählen, um ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir ihm damit Kummer zufügen, denn es wird in jedem Fall Kummer bedeuten. GUGU: Ich sage euch, wie es ist. In letzter Zeit denke ich oft an den Tod. KAULQUAPPE: Gugu, komm jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken! Du bist erst Anfang siebzig. Dass du jetzt im Zenit deines Lebens stehst, dass es also zwölf Uhr Mittag für dich ist, mag übertrieben sein, aber mehr als drei Uhr Nachmittag ist es in deinem Leben noch nicht. Damit möchte ich dir keineswegs schmeicheln. Drei Uhr nachmittags ist noch früh am Tag, da wird es noch lange nicht dunkel. Dazu kommt, dass die Menschen in Nordost-Gaomi ihre Gugu noch nicht missen möchten! GUGU: Natürlich will ich nicht sterben. Wenn der Mensch keine Not leidet, nicht ernsthaft krank ist, wenn er essen und wenn er schlafen kann, warum sollte er dann sterben wollen? Aber ich kann nicht einschlafen. Wenn um Mitternacht alle schlafen, bin ich wach wie die Eule auf dem Baum vor unserem Haus. Die Eule bleibt wach, weil sie Mäuse fangen muss. Was mache ich, wenn ich wach bleibe? KAULQUAPPE: Du kannst Schlaftabletten nehmen. Sehr viele bedeutende Persönlichkeiten leiden unter massiven Schlafstörungen. Sie nehmen alle etwas ein. GUGU: Schlaftabletten zeigen bei mir  keinerlei Wirkung. KAULQUAPPE: Du könntest es mal mit Traditioneller Chinesischer Medizin versuchen. GUGU: Ich bin Ärztin, das weißt du doch! Ich sag dir eins. Das ist bei mir keine Krankheit. Die Zeit der Vergeltung ist angebrochen. Der Dämon, der meine Schulden eintreiben will, steht mit geöffnetem Säckel an meinem Bett, um mit mir abzurechnen. Um Mitternacht, wenn die Eule ruft, kommt er an mein Bett. Jede Nacht kommt er, blutüberströmt, und brüllt zum Erbarmen. Er kommt zusammen mit den schwerbehinderten Fröschen, die einen Arm, ein Bein zu wenig haben. Ihr Brüllen mischt sich mit dem Fröschequaken zu einem Konzert. Sie jagen mich durch den Hof. Ich habe keine Angst, dass sie mich beißen. Ich fürchte die kühle, weiche Haut an ihrem Bauch und ihren fischigen Gestank. Sagt selbst, wovor habe ich in meinem Leben Angst gehabt? Tiger, Leoparden, Wölfe, Füchse, vor denen andere sich immer fürchten, erschrecken mich nicht. Ich habe nur mörderische Angst vor den Froschdämonen. KAULQUAPPE: (zu Große Hand gewandt) Sollte man vielleicht einen Taoisten kommen lassen, der Gebete spricht? GROSSE HAND: Sie spricht ja schon auswendig gelernte Bühnentexte. GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, grüble ich immer über mein Leben nach. Ich beginne bei dem ersten Kind, das ich geholt habe, und lasse dann alle Kinder in einer langen Schlange folgen, bis zum letzten, Bild für Bild, als würde ich einen Film abspulen. Mal angenommen, ich hätte in meinem Leben sonst nichts Unrechtes getan. Aber gewisse Dinge, sind das böse Taten gewesen? KAULQUAPPE: Gugu, das, was du meinst, waren keine bösen Taten, auch jetzt ist noch einiges sehr umstritten. Und selbst wenn man jetzt all das offiziell als böse Tat definieren würde, könnte man dir aber noch lange nicht die Verantwortung dafür aufbürden. Gugu, mach dir keine Selbstvorwürfe. Es ist keine Schande, du bist eine erfolgreiche Beamtin, keine Missetäterin. GUGU: Bin ich wirklich keine Sünderin? KAULQUAPPE: Wenn Nordost-Gaomi heute seinen Gutmenschen wählen würde, würden die Leute zuallererst dich wählen. GUGU: Sind meine beiden Hände sauber? KAULQUAPPE: Sie sind nicht nur sauber, es sind gesegnete Hände. GUGU: Wenn ich nicht einschlafen kann, muss ich immer daran denken, wie Fausts Frau gestorben ist, und wie Renmei gestorben ist, und wie Galle gestorben ist. KAULQUAPPE: Bei dir darf man nicht die Schuld suchen. Bei dir zuallerletzt. GUGU: Fausts Frau hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein. GUGU: Sie sagte: Wan Herz, du wirst zur Hölle fahren. KAULQUAPPE: Die alte Stinksocke. Was die sich herausgenommen hat. GUGU: Renmei hat etwas zu mir gesagt, als sie starb. Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein, was denn? GUGU: Sie sagte: Gugu, mich friert so. KAULQUAPPE: (schmerzvoll) Renmei, mich friert auch. GUGU: Galle hat etwas zu mir gesagt, als sie starb.Weißt du, was das war? KAULQUAPPE: Nein. GUGU: Möchtest du es wissen? KAULQUAPPE: Natürlich, obwohl ... GUGU: (erhebt sich) Sie sagte: Danke, Gugu, dass du mein Kind gerettet hast. Was meinst du, habe ich ihr Kind gerettet? KAULQUAPPE: Natürlich hast du das. GUGU: Dann kann ich ja beruhigt sterben. KAULQUAPPE: Gugu, so ist das nicht richtig. Du musst sagen, du schläfst jetzt beruhigt ein, und dann lebst du zufrieden. GUGU: Ein Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, sollte das Recht haben, in den Tod zu gehen. Er wird zu einem Leben gezwungen, das nur noch eine Qual ist, in dem er leidet wie ein Fisch auf dem Grill und wieder und wieder auf dem Rost gewendet wird, in dem er wie bittere TCM-Medizin Stunde um Stunde in siedendem Wasser kocht. Er muss durchhalten, seine Schuld sühnen, damit er, wenn er sie gesühnt hat, erleichtert sterben darf. Von der Decke der Bühne baumelt eine große schwarze Schlinge aus dickem Seil. Gugu hat ihren Kopf bereits in die Schlinge gesteckt und tritt mit dem Fuß den Stuhl um, auf dem sie steht. Hao Große Hand und Qin Strom kneten ihre Niwawa-Tonpuppen. Kaulquappe hat ein Messer in der einen Hand und stützt sich mit der anderen auf dem Stuhl ab, während er draufklettert. Er schneidet das Seil durch. Gugu fällt zu Boden. KAULQUAPPE: (hilft Gugu hoch) Gugu! GUGU: Bin ich tot? KAULQUAPPE: Könnte man meinen, aber jemand wie du ist nicht so leicht totzukriegen. GUGU: Wie, du meinst, ich bin wiedergeboren? KAULQUAPPE: Könnte man sagen. GUGU: Ist mit euch alles in Ordnung? KAULQUAPPE: Wir sind okay. GUGU: Und das Goldkind? KAULQUAPPE: Dem geht’s prächtig. GUGU: Hat Kleiner Löwe jetzt Milch? KAULQUAPPE: Der Milchfluss ist in Gang gekommen. GUGU: Hat sie viel oder wenig? KAULQUAPPE: Mehr als genug. GUGU: Wie viel genau? KAULQUAPPE: Wie ein Springbrunnen. Ende des neunten Aufzugs (Ende des Schauspiels) Fröschequaken ohne Ende Nachwort des Autors Der Titel dieses Romans zitiert einen Liedvers eines Ci-Gedichts von Xin Qiji, das den Titel Nächtliche Reise im Huangsha Gebirge zur Melodie Weststrom Mond (Xijiang Yue) trägt. Dieses Song-zeitliche Gedicht kenne ich seit meinen Kindertagen; ich bin mit ihm so vertraut, es hat sich so sehr in mein Herz eingebrannt, dass ich es nie und nimmer vergessen werde. Wieso haftet es mir so im Gedächtnis? Es ist wegen eines Verses, der lautet: Überall Fröschequaken ohne Ende. Der Froschgesang ist aus meinen Kindheitserinnerungen nicht wegzudenken. Leute, die meine Bücher gelesen haben, wissen nur zu gut, dass ich das Fröschequaken darin oft beschrieben habe, aber mein Leser weiß nicht unbedingt, dass ich eine gewisse Froschphobie habe. Vor Giftschlangen und Raubtieren fürchten sich die Leute aus gutem Grund. Aber warum sich vor diesen nützlichen, deswegen sogar beliebten Froschlurchen fürchten? Deren Fleisch eine nahrhafte Stärkung bei körperlicher Schwäche verspricht? Ich verspüre trotzdem furchtbare Angst vor Fröschen. Kommen sie mir in den Sinn – allein die Glupschaugen und die feuchte Haut – beim bloßen Darandenken sträuben sich mir die Haare und ich bekomme Gänsehaut. Wovor fürchte ich mich bei diesen Kreaturen? Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich ist es mit ein Grund, warum ich meinen Roman Frösche genannt habe. Im Buch erzählte ich bereits davon, dass ich eine Tante habe, die wir Gugu nennen und die auf eine besonders lange frauenärztliche Tätigkeit zurückblickt. Die vielen tausend Säuglinge bei uns in Nordost-Gaomi haben alle mit Gugus Hilfe das Licht der Welt erblickt. Das entsprach den Erwartungen, es war gut. Aber durch ihre Hand starben auch viele! Viele Babys verloren ihr Leben, noch ehe sie auf die Welt gekommen waren, und kamen ins Fegefeuer. Sie durften nicht leben. Natürlich sind die Gugu aus meinem Buch und die real existierende verschiedene Personen, meine Tante war nur Quell meiner Inspiration. Sie ist der Prototyp meiner literarischen Gugu. Meine Tante lebt nach wie vor bei uns in Gaomi auf dem Land und verbringt einen friedsamen Lebensabend im Kreise ihrer zahlreichen Enkelkinder. Als 2002, zur Zeit des chinesischen Neujahrsfests, der japanische Schriftsteller Kenzaburō Ōe zu mir nach Gaomi kam, besuchten wir beide sie zu Hause. Damals fragte ich Ōe: Soll ich über meine Tante schreiben? Einen langen Roman mit ihr als Hauptfigur? Einen Roman über eine Landärztin, wie sie es war? Ōe fand die Idee sofort interessant. Oft fragte er nach, wie weit ich denn sei. Im Sommer 2002 habe ich dann tatsächlich ein Manuskript mit dem Titel Kaulquappenpillen geschrieben. Darauf gekommen bin ich, als ich in einer alten Zeitung aus dem Jahr 1958 einen Bericht darüber las, dass Frauen und Männer, bevor sie miteinander schliefen, zur Schwangerschaftsverhütung vierzehn Kaulquappen schlucken sollten. Wer über ein wenig Allgemeinbildung verfügt, wird den Wahrheitsgehalt dieses Berichts sicherlich anzweifeln, aber damals bediente man sich dieser Methode, sie war eine Zeit lang sogar außerordentlich beliebt. Die Kaulquappenverhüter waren hochmodern, genauso beliebt wie die in ganz China in den Achtzigern beliebten Frischblutkuren, per Transfusion übertragenes frisches Blut einjähriger Hähnchen, oder die Trinkkuren mit Kombucha, diesem gerne genossenen Teepilzgetränk. Ich schrieb 150000 Zeichen, ein im Deutschen vielleicht dreihundert Seiten starkes Buch, vor dem Hintergrund der Kaulquappengeschichte. Mich überkam plötzlich das Gefühl, dass ich unbewusst wieder einmal damit begonnen hatte, eine wilde Geschichte aufzuschreiben, die sich vor allem im Magischen und Absurden bewegte. So, wie ich es ja immer mache. Dazu hatte ich einen besonderen Aufbau für diesen Roman ersonnen: Ein Bühnenschriftsteller erlebt in einem Schauspielhaus die Aufführung seines eigenen Schauspiels, und die Erinnerungen bestürmen ihn, während das Stück auf der Bühne abläuft. Ich war übertrieben bemüht, war argwöhnisch mir selbst gegenüber, deswegen legte ich das Manuskript zur Seite und schrieb zunächst den Überdruss. Bis 2007 dauerte das an. Dann war ich wieder Feuer und Flamme für mein Kaulquappenbuch, denn ich hatte mir überlegt, den Aufbau umzugestalten und einen Briefroman daraus zu machen; und ich hatte einen neuen Titel, ich nannte mein Buch nun Frösche. Natürlich würde ich auch in diesem Buch nicht nur geradeheraus und ohne jeden Schnörkel eine Geschichte erzählen. Deswegen gab ich das Bühnenstück nicht auf, hängte es in einem fünften Buch an das Hauptbuch an und ließ beide Teile voneinander profitieren, sich ergänzen. Das Genre des Stücks versprach durch seine Theatralik eine farbenprächtige, geistreiche Handlung. Ich hoffte, dass mein Leser durch den Gattungswechsel schlüssiger begriff, worauf ich hinauswollte. Die chinesische Geburtenplanung ist inzwischen eine dreißig Jahre lang praktizierte Politik. Die westlichen Medien kritisieren sie stark. Die Situation Chinas ist allerdings insgesamt sehr kompliziert. Man darf nicht glauben, weil man tiefere Einblicke in die chinesische Geburtenpolitik erhalten und sie begriffen hätte, habe man auch China verstanden, aber, und das ist zweifelsohne richtig, zum Verständnis Chinas gehört in jedem Fall dazu, tieferen Einblick in die chinesische Politik der Geburtenplanung zu haben. Wer diese Politik nicht verstanden hat, der wird nicht begreifen, was in China vorgeht. In den letzten Jahren wird heftig diskutiert, ob es noch zumutbar ist, die Ein-Kind-Politik weiterzuführen. Viele berühmte Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der Wirtschaft schreiben kritische Aufsätze zu diesem Thema, in den Medien wird es heiß debattiert. Im Internet ist die Erörterung dieser Fragen noch lebhafter. Es ist zu beobachten, dass eine Erforschung der Fakten der Geburtenpolitik in den vergangenen dreißig Jahren, eine Aufarbeitung der Folgen, ein Hinterfragen der Vorfälle längst im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Im Zuge der Reformpolitik, der Politik der Öffnung und mit dem Wechsel von der kollektiv geführten Wirtschaft zur Privatwirtschaft, im Zuge der nun für alle Bauern bestehenden Freiheit, sich erstens in China frei zu bewegen und zweitens seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, sollte man klar sehen, dass die Politik der Geburtenplanung nicht mehr durchführbar ist. Die Bauern auf dem Land können den Ort frei wählen, an dem sie ein Kind zur Welt bringen lassen möchten, ob es nun die eigene Frau zur Welt bringt oder jemand anderes, sie können es auch heimlich tun, natürlich gilt das auch für die Frauen, die verheirateten oder die nicht verheirateten. Die Reichen wie auch die bestechlichen Regierungsbeamten nutzen gern die Möglichkeit, Bußgelder zu zahlen, oder sie verlassen sich bei der Vermehrung ihres Nachwuchses auf Zweit- und Drittfrauen. Unverhohlen und nach persönlichem Belieben bringen die Chinesen heutzutage überzählige Kinder zur Welt, um der Familie männliche Nachkommen zu schenken oder um einen Erben für ihr Familienunternehmen zu haben, damit das Vermögen in der Familie bleibt. Wahrscheinlich sind es nur die schlechtbezahlten kleinen Beamten, die sich noch an die Ein-Kind-Politik halten. Sie fürchten den Verlust des Arbeitsplatzes, und sie haben Schwierigkeiten, das Schulgeld für mehr als ein Kind zu zahlen. Selbst wenn es legitim wäre, zwei Kinder zu haben, würden sie es sich nicht zutrauen. Meine Frösche schildern dreißig und mehr Jahre unserer chinesischen Geburtenpolitik vor dem Hintergrund der Lebens- und Arbeitsumstände der Ärztin Gugu. Ich habe kein Blatt vor den Mund genommen und nichts verschleiert, auch wenn ich chaotische Zustände geschildert habe. Es ist immer mein Ziel, mit meiner Literatur heikle Themen anzusprechen, denn ich finde, dass die Literatur und der menschliche Geist sich mit den Problemen der Menschen, ihren Leiden und ihrem Schicksal befassen sollten. Die Erörterung heikler Themen führt zumeist am schnellsten an den Ort der menschlichen Seele, der den wahren Charakter eines Menschen zeigt. Man braucht für heikle Fragen Mut, man braucht gute Fähigkeiten, sich schriftlich zu äußern, aber man braucht genauso das ehrliche Schriftstellergewissen. Die Literaturszene Chinas verlangt von den Schriftstellern, heikle Themen anzusprechen. Andernfalls rügt die Szene sie, im Kielwasser der einflussreichen Funktionäre zu schwimmen und sich von ihnen kaufen zu lassen. Aber wenn der Autor sich heiklen Fragen widmet, ist er der Kritik ausgesetzt, und man rügt ihn der Liebedienerei gegenüber dem Westen. Eine Zeitlang habe ich mir alle Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken, denn ich fürchtete die Peitsche der ewig Selbstgerechten. Aber in letzter Zeit wird mir immer mehr klar, dass diese mich auch, wenn ich keinen einzigen Satz mehr schriebe, nicht in Ruhe ließen. Denn meine Literatur fühlt ihnen auf den Zahn, und ich bin schon lange der Feind solcher Leute. So habe ich nun beschlossen, sie einfach hinter mir zu lassen, sie abzuschütteln und meinen eigenen Weg zu gehen. Nur meinem Gewissen Rechenschaft schuldig, suche ich mir die Themen aus, über die ich schreiben möchte. Meine Ansichten über die Romanästhetik entscheiden über die Form. Eine Offenheit wie auf einem Seziertisch ist gefordert, wenn ich die Seelen und die Charaktere meiner Romanfiguren in meinen Büchern lebendig werden lasse und genauso mich, mein Innerstes in meinen Büchern offenlege. Als ich mein Buch Frösche fertiggestellt hatte, lasteten mir acht steinschwere Schriftzeichen auf dem Herzen. Sie lauten: 他人有罪,我亦有罪 Wenn andere sich eines Verbrechens schuldig machen, bin ich mitschuldig. 22. November 2009 in Pingan, Peking Anmerkungen 1 Wenn man nach neuen Methoden entbinde, würden die Säuglinge windkrank Nach der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) macht der immer bösartige Einfluss frischen Windes krank. Im Inneren Kanon des Gelben Kaisers heißt es z. B. »Durch den Wind entwickeln sich die hundert Krankheiten.« Eine Erkältung wird in China in der chinesischen Medizin viel ernster genommen als in der westlichen Medizin. 2 in den »Geschichten aus dem Gelehrtenwald« Der chinesische Buchtitel der Inoffiziellen Geschichte aus dem Gelehrtenwald lautet »Rulin Waishi«, das Buch ist ein sehr bekannter Roman von Wu Jingzi aus dem Jahr 1749, der Kritik an der Beamtenschicht und Oberschicht übt. 3 Soldaten der Achten Route-Armee des Liautung-Militärgebiets In Liaoning, Provinz an der Grenze zu Korea mit dem Hafen Dalian/Port Arthur. 4 Materialien zur Literatur und Geschichte, die die Politische Konsultativkonferenz auf Kreisebene regelmäßig herausgibt Die Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV) soll die Einwirkung auf die Meinungsbildung im Nationalen Volkskongress gestatten. Sie ist ein beratendes Gremium im Staatsapparat der Volksrepublik China, bestehend aus Mitgliedern der KPCH wie aus Nichtparteimitgliedern. 5 Dein Herr schickt dich, einen Hühnerfederbrief auszuliefern Hühnerfederbrief ist im alten China die Bezeichnung für einen Eilbrief. 6 Mensch gewordener Bodhisattva Guanyin ist eine wichtige Gottheit aus dem Lotussutra. Guanyin ist der chinesische Name des Bodhisattvas Avalokitesvara, der sich dem Weltgeschehen mit barmherzigem Mitleid ganz und absolut zuwendet. Diese wichtigste und populärste weibliche Gottheit Ostasiens verheißt in China vor allem auch Kindersegen. 7 ein ehrloser Betrüger wie Chen Shimei Der Fall Chen Shimei ist einer der überlieferten Fälle des berühmten Richters Bao Qingtian. Chen Shimei ist ein ehrloser Betrüger, der seine Ehe und Ehefrau verleugnete, nachdem er das Beamtenexamen bestanden hatte, und mit bestandenem Examen ohne sie in die Stadt ging, weil er auf gute Verbindungen bei Hofe aus war. Er wurde von Richter Bao zum Tode durch Enthaupten verurteilt. 8 als fluteten die Wasser den Jinshan-Tempel in Zhenjiang Die Leifeng-Pagode und der Jinshan-Tempel in Zhenjiang, Jiangsu, sind der Ort, an dem der Legende nach die Geschichte von der Weißen Schlange (許仙與白娘子) spielt. Die Legende erzählt eine Liebesgeschichte eines weißen Schlangendämons, der sich in eine schöne Frau verwandelt und sich in Xu Xin verliebt. Weil die Liebe zwischen Schlangengetier und Menschen nicht dem Willen des Himmels entspricht, führt der Mönch Fahai ein Heer von Amphibien und dämonischem Meeresgetier gegen die weiße Schlange ins Feld, als diese ihren Geliebten sucht, und flutet den ganzen Jinshan. Der Mönch Fahai vom Jinshan-Tempel hatte sie in den Leifeng-Turm eingesperrt, der dann einstürzte. 9 Feuerbestattungen In China und in ganz Ostasien ist es üblich, dass die Urne mit der Asche im Tempel einen Platz bekommt, an dem täglich Mönche für den Toten beten und die Angehörigen ihn immer besuchen können. 10 zur Revolution in Permanenz verpflichtet »Revolution in Permanenz« ist ein Ausspruch von Marx, aber er trifft das von Mao geforderte Jixu Geming. Auch die permanente Revolution Trotzkis meint etwas Ähnliches. 11 mach aus Gift Medizin, du kannst noch alles Unglück in Glück verwandeln Im chinesischen Geschichtsklassiker, dem Shiji des Sima Qian, Biographie des Guan Yan, heißt es: »Begegne Unglück mit guten Taten, dann kommt Glück.« 史记•管晏列传:其为政也,善因祸为福,转败为功. Schlechte Wirkungen, also schlechtes, sich manifestierendes Karma, schlechtes unglückliches Schicksal – einem solchen Vorkommnis begegnet man in China traditionell, indem man glückverheißende Taten folgen lässt, also Heirat, Geburt usw. Man glaubt, dass man damit das unglückliche Karma noch abwenden und ändern kann. 12 Eine Schnecke im Fingerabdruck Schnecke, im Chinesischen Dou, ist ein Hohlmaß. Wie im Westen das Hufeisen ist es ein Glücksbringer; Sinnbild für Yang, Stärke. Die Dou-Linien sehen wie »Schnecken-Kringel« im Fingerabdruck aus. 13 ein neues Schutz-Papier Dieses Schutz-Papier ist ein spezielles Grabpapier, das beim Gräberfest Qingming zum Schutz, wie ein Mantra, auf dem Grabhügel, zum Beispiel mit einem Stein beschwert, befestigt wird und dann Glück bringen soll. 14 Der Strom brodelte flussabwärts, ungerührt Tag wie Nacht 源泉混混, 不舍昼夜 ist ein Zitat aus Mencius, ICS Mengzi: 8.18/42/12: . 孟子曰:「原泉混混,不舍晝夜。盈科而後進,放乎四海,有本者如是,是之取爾。苟為無本,七八月之閒雨集,溝澮皆盈;其涸也,可立而待也。故聲聞過情,君子恥之。 »Mencius replied, ›There is a spring of water; how it gushes out! It rests not day nor night. It fills up every hole, and then advances, flowing onto the four seas. Such is water having a spring! It was this which he found in it to praise. But suppose that the water has no spring. In the seventh and eighth when the rain falls abundantly, the channels in the fields are all filled, but their being dried up again may be expected in a short time. So a superior man is ashamed of a reputation beyond his merits.‹« 15 wie ein sich vorbeischiebendes Ehrentor Das »Scheintor«, chinesisch Pailou oder Paifang, ist ein Ehrentor, ähnlich wie im Westen der Triumphbogen. 16 linker Hand den Niangniang-Tempel der großen Himmelsmutter Tianhou Tianhou ist der chinesische Name für Himmelsmutter. Tianhou-Tempel sind in China sehr weit verbreitet. Die Tempel der populären Muttergottheit versprechen Kindersegen, die Tianhou-Göttin ist hier in Shandong die große Muttergöttin vom Taishan, nämlich die Taishan Niangniang. 17 nennst du alsbald die vier Lokapalas Die Lokapalas sind die vier Großen Himmelskönige, die vier Weltenwächter nach dem buddhistischen Glauben. Riesige Statuen der Tianwang befinden sich traditionell im Eingangsbereich eines jeden Tempels und sind mächtige Schutzgottheiten. 18 Nüwa, die große Urahnin Die chinesische Schöpfergöttin des Menschengeschlechts. Sie und ihr »Ehemann« Fuhsi sollen die Ehe erfunden haben. 19 Verkörperungen der Niangniang Die lokale Muttergottheit vom Taishan in Shandong ist die Taishan Niangniang, sie ist eine alte Muttergottheit dieses heiligen Bergs. Hauptsächlich wird sie in folgenden drei Verkörperungen dargestellt: Taishan Niangniang, die Kinder spendende Niangniang und die Weitsicht spendende Niangniang. Neben diesen drei Verkörperungen der Niangniang in Shandong gibt es noch weitere Erscheinungsformen dieser lokalen Gottheit, die hier angeführt sind. 20 In meinem Herzen habe ich ein zaubermächtiges Horn In einem Gedichtvers von Li Shangyin heißt es: Ich habe keinen bunten Phönix, auf dem ich dir jetzt entgegenflöge; dafür besitze ich ein zaubermächtiges Rhinozeroshorn in meinem Herzen, wodurch unsere Seelen immerfort verbunden sind. Man glaubt in China, dass wahrhaft Liebende durch ihre Liebe eine Zaubermacht besitzen, sodass sie auch über große Entfernungen den anderen und seine Gefühle erspüren können. 21 der schlangenköpfige Mahoraga Eine gigantische Schlange, der Mahoraga (摩睺羅迦), eine Drachengottheit, ein Tianlong, also Himmelsdrache, der sein Karma durch Häutung positiv ändern kann. 22 Die mit Köpfchen arbeiten, beherrschen die Menschen ... Für das Mencius-Zitat vgl. Legge, V.IV.29.1. 故曰:或勞心,或勞力;‘勞心者治人,勞力者治於人 »Hence, there is the saying, ›Some labour with their minds, and some labour with their strength. Those who labour with their minds govern others; those who labour with their strength are governed by others.‹« 23 dass das laut Konfuzius ein Verbrechen ist und dass Mencius sagt Für das Mencius-Zitat vgl. Legge, 7.26/40/12. 孟子曰:「不孝有三,無後為大。舜不告而娶,為無後也,君子以為猶告也。 »Mencius said, ›There are three things which are unfilial, and to have no posterity is the greatest of them. Shun married without informing his parents because of this, lest he should have no posterity. Superior men consider that his doing so was the same as if he had informed them.‹« 24 damit ich um Almosen bitte, damit ihr durch Wohltaten positive Ursachen setzen könnt Wohltaten tun, gute Ursachen setzen ist ein grundlegender chinesischer Gedanke: Mit guten Ursachen, das können Gaben für den Tempel sein, das können gute Taten sein, das können Gelübde sein, dass zum Beispiel ein Tempel gespendet wird und damit böse Ursachen aufgewogen werden, das können Frömmigkeit und Geldgeschenke für den Gongde-Kasten (vgl. S. 284) sein, wird das große buddhistische Gesetz von Ursache und Wirkung, dass nämlich schlechte Taten schlechte Wirkungen heraufbeschwören, positiv beeinflusst. 25 Mann im schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug Der später als Mao-Anzug bekannte chinesische Anzug, den Sun Yat Sen in der Republikzeit Chinas bekannt gemacht hat. 26 die einundachtzig Prüfungen, die Tripitaka bestehen musste Tripitaka wird Xuan Zang genannt; der tangzeitliche Mönch und bedeutende Übersetzer lebte von 600–664. Als Pilger reiste er nach Indien, um die auf Sanskrit verfassten Sutren ins Chinesische zu übersetzen. Er ist sehr populär durch den volkstümlichen Roman Die Reise in den Westen, in dem er einer der Hauptprotagonisten ist. 27 nach den Säuglingsmilchskandalen Im Jahr 2008 gingen die Nachrichten über die Säuglingsmilchskandale in China um die Welt. Chinesische Säuglinge erlitten schwere Krankheiten und Schäden durch die Aufnahme schadhafter, industriell hergestellter Säuglingsmilch. Auch heute besteht unter Chinesen kein Vertrauen mehr in heimische Produkte. 28 Zhao Meirong schaut sich die Lampions an Hier hat Mo Yan auf die bekannte Maoqiang-Opernmelodie Zhao Meirong schaut sich die Lampions an einen anderen Liedtext gedichtet, so dass er wie das Opernlied gesungen werden kann. Man erkennt die bekannte Melodie unschwer wieder. 29 Wann hatten wir einen solchen Vollmond Zitiert nach einem Gedicht von Su Shi, welches in der chinesischen Öffentlichkeit durch eine Vertonung als Popsong sehr bekannt wurde. 30 Verfilmung der Oper »Gao Mengjiu« Gao Mengjiu, sein Mannesname ist Qingtian, ist ein sehr populärer, im Volk ungeheuer beliebter Kreismagistrat in Gaomi gewesen. Er wirkte in der Republik China, bevor die Kommunisten das Land regierten. Seine Gerechtigkeit und sein hartes Durchgreifen sind heute noch weit gerühmt. Er wurde auch bekannt, weil er mit zweierlei Schuhsohlen schlagen ließ, einer weichen für die weniger bösen, einer harten für die wirklichen Missetäter. Er wird seiner Gerechtigkeit wegen oft mit dem berühmten Richter Bao, Bao Qingtian, auch Bao Cheng, verglichen. Bao Cheng lebte im 11. Jahrhundert und war Richter unter der Sung Dynastie. Seine Gerechtigkeit, seine Unbestechlichkeit sind weit gerühmt. Er ist das Ideal des Richters und Streiters für Gerechtigkeit, viele Legenden ranken sich um seine Gestalt. Brecht verwendete die Figur des Richter Bao in seinem Kaukasischen Kreidekreis.